noctulog.nethttps://noctulog.net/2023-01-15T00:00:00+01:00Heucheln über Heuchler – der Ukrainekrieg, Interessen und Werte in der Außenpolitik2023-01-15T00:00:00+01:002023-01-15T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2023-01-15:/posts/2023/01/15/heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards/<p>Am Beispiel der kürzlich erschienenen Interviews des indischen Außenministers mit österreichischen Medien möchte ich herausarbeiten, wie die Kritik an der Inkonsistenz oder gar Heuchlerei des Westens, wenn es um die Einhaltung von Völkerrecht und Menschenrechten geht, dazu missbraucht wird, noch problematischere Doppelstandards zu überspielen. Sie führt zudem im Kontext des Ukrainekriegs zu einer irrationalen Schadenfreude über die Schwächung des Westens und seines Wertesystems. Abschließend gehe ich auf die Fähigkeit zur Selbstkritik des Westens ein, die es ihm erlaubt, eigene Doppelstandards sichtbar zu machen und ihnen entgegenzuwirken, was außerhalb des Westens kaum geschieht.</p><p>Die Zurückhaltung zahlreicher Staaten bei der Verurteilung der russischen Agression gegen die Ukraine wird oftmals – sowohl im Westen<sup id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-1-back"><a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-1" class="simple-footnote" title="Den unscharfen und in vielen Zusammenhängen kontraproduktiven Begriff des „Westens“ behalte ich bei – weil er in diesem Kontext relativ klar definiert ist: Er umfasst jene entwickelte Staaten, die Russland für den Angriffskrieg klar verurteilen und sanktioniert haben. Die Türkei und Israel gehören also nicht dazu, Japan und Südkorea hingegen schon, womit vom historischen, kulturellen Begriff des „Westens“ natürlich abgewichen wird.">1</a></sup> selbst als auch im Ausland – mit der „Heuchelei“ des Westens erklärt, mit seiner angeblichen moralisierenden Tendenz, Werte und Prinzipien nur selektiv anzuwenden. Ein gutes Beispiel dafür lieferte der indische Außenminister, der anlässlich seines Österreichbesuchs eine <a href="https://www.derstandard.at/story/2000142274638/indiens-aussenminister-wir-werden-unsere-sicherheit-nicht-opfern">Reihe</a> von <a href="https://www.diepresse.com/6234231/indiens-aussenminister-zur-neuen-weltordnung-wir-leben-bereits-in-gefaehrlichen-zeiten">Interviews</a> gab, in denen er dieses Narrativ offensiv und redegewandt vertritt. In diesem Artikel möchte ich auf Widersprüche und Schwächen dieses Arguments hinweisen, die meines Erachtens weit über die Inkohärenzen des Westens hinausgehen.</p>
<h2>Der heuchelnde Westen</h2>
<p>Das grundlegende Argument der Kritiker des Westens, dessen sich auch der indische Außenminister Jaishankar bedient, ist simpel:</p>
<ol>
<li>Der Westen gibt vor, für gewisse universelle Werte (Völkerrecht, Menschenrechte etc.) einzustehen.</li>
<li>Diese Werte werden vom Westen jedoch nicht immer verteidigt, sondern nur, wenn es opportun ist.</li>
<li>Der Westen vertritt also eigentlich nur Interessen und heuchelt universelle Werte vor.</li>
</ol>
<p>Der zweite Punkt wird üblicherweise entweder mit völkerrechtswidrigen Angriffskriegen (von Teilen) des Westens – der Irakkrieg von 2003, manchmal auch die Bombardierung Serbiens 1999 oder Libyens 2011 – oder mit der westlichen Zurückhaltung bei der Verurteilung anderer Interventionen – etwa jenem im Jemen 2015 – begründet. Ich möchte auf dieses Punkt inhaltlich erst im letzten Abschnitt zurückkommen und ihn zunächst – des Argumentes wegen – als gegeben annehmen.</p>
<h2>Es gibt nur Interessen… (für mich)</h2>
<p>Die Argumentation selbst ist stringent, lässt jedoch die Frage offen, welche Schlüsse daraus – insbesondere im gegenwärtigen Fall des Ukrainekriegs – gezogen werden. Jaishankar wählt zunächst eine „realistische“ Perspektive, nach der Werte letztlich <em>gänzlich irrelevant seien</em> und nur Interessen zählten, weshalb auch nicht-westliche Staaten nur auf ihre Interessen blicken dürften und sich um Werte nicht kümmern müssten:</p>
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<p>„Wir werden unsere Sicherheit nicht opfern. Wenn also in Europa die Erwartung besteht, dass wir das tun, weil Europa ein Problem hat, dann ist das meiner Meinung nach keine vernünftige Erwartung.“ (<a href="https://www.derstandard.at/story/2000142274638/indiens-aussenminister-wir-werden-unsere-sicherheit-nicht-opfern">Subrahmanyam Jaishankar</a>, 3.1.2023)</p>
</blockquote>
<p>Diese Rechtfertigung für das (unter anderem) indische „neutrale“ – de facto Russland indirekt unterstützende – Verhalten erscheint<sup id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-2-back"><a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-2" class="simple-footnote" title="Es bleibt jedoch offen, inwiefern die indische Sicherheit „geopfert“ würde, wenn ab jetzt keine russischen Waffensysteme mehr gekauft würden.">2</a></sup> nachvollziehbar, ist aber letztlich inkompatibel mit der ursprünglichen Anschuldigung der „Heuchelei“ die selbst eine wertende ist, weil sie implizit das Gebot enthält, dass Staaten <em>aufrichtig</em> sein müssen. Wer nur Interessen kennt, für den ist Heuchelei schlichtweg keine Kategorie.</p>
<h2>…aber schließlich doch auch Werte (für euch)</h2>
<p>Letztlich wird diese Reduktion auf Interessen ohnehin verworfen, weil der Westen doch zur Einhaltung von Werten und Prinzipien (wie dem Völkerrecht) ermahnt wird – aber eben für Konflikte, die einen selbst betreffen. Jaishankar erklärt nämlich am Ende desselben Interviews: </p>
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<p>„Wenn es aber zu einer Situation kommt, in der eine Seite [China] sagt: Ich werde Truppen gegen Abkommen einsetzen, die ich selbst unterzeichnet habe, dann steckt darin eine Botschaft an die internationale Gemeinschaft. Insofern sollte die internationale Gemeinschaft besorgt sein.“ (<a href="https://www.derstandard.at/story/2000142274638/indiens-aussenminister-wir-werden-unsere-sicherheit-nicht-opfern">Subrahmanyam Jaishankar</a>, 3.1.2023)</p>
</blockquote>
<p>Diese Forderung ist eine, die nicht auf Interessen, sondern allein auf Werten gründet.<sup id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-3-back"><a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-3" class="simple-footnote" title="Bei einer solchen Forderung würde dem Westen an wohl „Moralisieren“ vorgeworfen werden.">3</a></sup> Die internationale Gemeinschaft, also auch der Westen, solle, so Jaishankar, besorgt sein, wenn etwa China Abkommen nicht einhält und militärische Optionen in Erwägung zieht. Soweit, so nachvollziehbar, nur nicht von einer Person die sich drei Absätze vorher selbstbewusst das Recht herausnimmt, aus nationalem Interesse Völkerrechtsverletzungen zu ignorieren und die Kooperation mit den dafür Verantwortlichen zu intensivieren. Natürlich sollte der Westen an seinen Werten – insbesondere an der Einhaltung des Völkerrechts – gemessen werden; ernstnehmen sollte man Aufrufe dazu aber nur von jenen, die zumindest <em>prinzipiell</em> dazu bereit sind, sich auch daran zu halten – was auf Indiens Außenminister offenbar nicht zutrifft.</p>
<blockquote>
<p>Die Heuchelei des Westens wird zumeist nicht angeprangert, um ernsthaft mehr Respekt für Grundprizipien der internationalen Beziehungen einzufordern („ihr solltet eure Prinzipien einhalten, wir tun es auch“), sondern um die eigenen Doppelstandards zu verdecken („wir haben nur Interessen, aber ihr sollt euch an eure Prinzipien halten“). Eine Heuchelei zweiter Ordnung, gewissermaßen.</p>
</blockquote>
<p>Dieses argumentative Muster ist derzeit in verschiedenen Variationen in zahlreichen Ländern, von Südamerika über Afrika und Asien zu betrachten. Auch in Serbien wird der eklatante Widerspruch zwischen dem pedantischen Legalismus bei der Kosovo-Frage (mit gebetsmühlenartigen Verweisen auf die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Resolution_1244_des_UN-Sicherheitsrates">Sicherheitsratsresolution 1244</a>) und dem ohrenbetäubenden Schweigen zur Aggression gegen die Ukraine durch schamlose Verweise auf die Doppelmoral des Westens überspielt, in denen die russische Aggression mit dem <span class="caps">NATO</span>-Bombardement von 1999 gleichgesetzt wird.<sup id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-4-back"><a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-4" class="simple-footnote" title="Auch wenn dieses völkerrechtlich nicht gedeckt war und durchaus verurteilt werden kann, sind die beiden Fälle weder in der Intention, noch in der Anzahl der Toten, der Dauer, dem Ausmaß der Zerstörung und Kriegsverbrechen auch nur ansatzweise vergleichbar. Eine Gleichsetzung ist nicht nur zynisch, sondern widerwärtig.">4</a></sup></p>
<h2>Das Interesse am Völkerrecht und die Schadenfreude</h2>
<p>Sehen wir nun über den Zynismus der Argumentation hinweg, durch den sich, wie Indien, viele Staaten vor einer klaren Verurteilung Russlands drücken und betrachten wir für einen Moment tatsächlich lediglich ihre Interessen. Das Interesse, kurzfristig aus dem Krieg Profit zu schlagen, sei es direkt über den Handel mit sanktionierten Gütern, günstigere Rohstoffe oder indirekt über Konzessionen des Westens oder Russlands für eine mehr oder weniger starke Unterstützung in den Vereinten Nationen ist offenkundig.</p>
<p>Doch ebenso klar sollte das langfristige Interesse (fast) aller Staaten sein, zumindest die Grundpfeiler des Völkerrechts, eines <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96ffentliches_Gut">öffentlichen Guts</a> der Staatengemeinschaft, zu schützen, deren vier (!) wichtigste – <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeines_Gewaltverbot">das Gewaltverbot</a>, den <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Territoriale_Integrit%C3%A4t">Respekt der territorialen Integrität</a>, den <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Pacta_sunt_servanda">Respekt von völkerrechtlichen Abkommen</a> sowie die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Genfer_Konventionen#Genfer_Abkommen_von_1949">Grundregeln des Kriegsrechts</a> – Russland seit 2014 und seit 2022 in unmissverständlicher Brutalität verletzt hat. Selbst der Außenminister Indiens – des bevölkerungsreichsten Lands der Welt und einer Atommacht – erkennt, wie wir oben gesehen haben, den Wert dieser Prinzipien an, in dem er sich auf sie beruft. Noch weit mehr trifft dies auf kleinere, schwächere Staaten zu, die vom normativen Schutz des Völkerrechts überproportional profitieren.</p>
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<p>Grundprinzipien des Völkerrechts wie das Gewaltverbot, der Respekt von völkerrechtlichen Abkommen oder die Einhaltung der Genfer Abkommen, sind ein öffentliches Gut und haben einen enormen Wert für alle, vor allem mittelgroße und kleine Staaten der Welt. Wird ihre komplette Missachtung gebilligt oder indirekt belohnt, nimmt die gesamte Staatengemeinschaft schaden; die schwerwiegendsten Konsequenzen sind naturgemäß für schwächeren Staaten zu erwarten, nicht für den Westen, der über solide Militärbündnisse, moderne Waffen und mehrere Atommächte verfügt.</p>
</blockquote>
<p>Es ist offensichtlich, dass eine fundamentale – in Ausmaß und Deutlichkeit seit 1945 nicht mehr gesehene – Infragestellung der Grundpfeiler der internationalen Ordnung nicht für kurzfristige Handelsvorteile einer vertieften Beziehung mit Russland inkauf genommen werden sollte.<sup id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-5-back"><a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-5" class="simple-footnote" title="Angenommen natürlich, dass Russland nicht zum zukünftigen globalen Hegemon wird, wovon aufgrund der wirtschaftlichen und auch militärischen Schwäche Russlands kaum auszugehen ist.">5</a></sup> Das <em>Interesse</em> aller Staaten, die nicht vollständig von Russland abhängig sind, sollte es also sein, dass der Angriffskrieg von Russland rasch scheitert und sich nicht als Präzedenzfall für neue Weltordnung auf der Basis von Grenzrevisionismus und nuklearer Erpressung etabliert.</p>
<p>Weshalb wird diese Interessenslage nicht erkannt? Meines Erachtens aufgrund einer gewissen <em>Schadenfreude</em> des „globalen Südens“ gegenüber der Schwierigkeiten des Westens.<sup id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-6-back"><a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-6" class="simple-footnote" title="Damit hängt eine gewisse Tendenz zusammen, in Staaten die (durch Kolonialismus, Imperialismus, Krieg, etc.) „auch gelitten“ haben, alle Formen des Kriegs und des Leidens als gleichwertig zu sehen.">6</a></sup> Der Westen hat uns nicht unterstützt, jetzt tun wir dies auch nicht – obgleich wir in diesem Fall wohl dieselben Interessen hätten. </p>
<p>Diese Haltung ist in einem früheren Zitat von Jaishankar zu erkennen, in dem der Krieg in der Ukraine als ein „europäisches Problem“ bezeichnet, und als Retourkutsche für das Desinteresse Europas an der Welt interpretiert:</p>
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<p>„somewhere Europe has to grow out of the mindset that Europe’s problems are the world’s problem but the world’s problems are not Europe’s problems“ (<a href="https://www.republicworld.com/world-news/global-event-news/jaishankar-calls-out-europes-problem-is-worlds-problem-mindset-holds-indias-ground-articleshow.html">Subrahmanyam Jaishankar</a>, 3.6.2022)</p>
</blockquote>
<p>Nun ist aber – ganz gleich wie man zur europäischen oder westlichen Haltung in anderen Fällen stehen mag – der Angriffskrieg auf die Ukraine, in dem das flächenmäßig größte Land der Welt, ein ständiges Sicherheitsratmitglied, gestützt durch nukleare Erpressung, seinen Nachbarn angreift und sich einzuverleiben versucht, und dabei humanitäres Völkerrecht mit den Füßen tritt, schlichtweg kein bloß „europäisches Problem“. Die bislang nie dagewesene Zerstörung universell anerkannter Werte im Herzen ihres Herkunftsort als lokales Problem zu verstehen, ist bestenfalls naiv.<sup id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-7-back"><a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-7" class="simple-footnote" title="Dass dies in Europa geschieht, dem Herkunftsort dieser Werte (durch das moderne Konzept des „Staats“, die Aufklärung und schließlich das Erbe der Weltkriege), spielt dabei nur eine untergeordnete, aber ebenfalls nicht zu vernachlässigende Rolle.">7</a></sup></p>
<h2>Westliche Heuchelei oder Lernfähigkeit?</h2>
<p>Kommen wir schließlich auf die Charakterisierung des Westens als „heuchlerisch“ zurück, die mittlerweile – nicht zuletzt im Westen selbst – zum Allgemeinplatz geworden ist. Es ist sicherlich richtig, dass zahlreiche Interventionen mit westlicher Beteiligung völkerrechtlich problematisch (Bombardierung Serbiens 1999, Libyen 2011) bis klar völkerrechtswidrig (Irak 2003) waren. Diese Grenzüberschreitungen als „Heuchlerei“ zu kategorisieren, bedeutet nun, dass sie (1) <em>bewusst</em> als solche inkauf genommen wurden und nicht auf fehlerhafter faktischer oder rechtlicher Beurteilung begründet waren und (2) <em>weiterhin verteidigt werden</em>. </p>
<p>Dies ist meines Erachtens nicht der Fall. Man kann darüber streiten, ob die erwähnten Verfehlungen bewusst oder aufgrund von Naivität entstanden sind, unbestreitbar ist jedoch, dass sie korrigiert werden konnten – mittlerweile sieht kaum mehr jemand im Westen den Angriff auf den Irak 2003 als gerechtfertigt an (ähnliches gilt im Übrigen für den Vietnamkrieg). Im Gegensatz zu ihren nichtwestlichen Pendants sind Entscheidungsträger und Medien im Westen auch in Bezug auf ihre eigenen Fehler (wenn auch langsam und unvollständig) <em>lern- und einsichtsfähig</em>.<sup id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-8-back"><a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-8" class="simple-footnote" title="Dazu zählt auch, dass teilweise fadenscheinige Gründe für Kriegseintritte im Westen aufgedeckt wurden und mittlerweile allgemein bekannt sind.">8</a></sup></p>
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<p>Der Westen agiert nicht immer in Einklang mit den von ihm verteidigten Normen und Werten. Doch zumindest bleibt ihm der Anspruch an die Universalität der Werte und damit auch die Fähigkeit zur Einsicht und Selbstkritik. Paradoxerweise lässt diese Selbstkritik die Inkonsistenzen vergleichsweise freier Gesellschaften oft größer erscheinen, als sie es tatsächlich sind.</p>
</blockquote>
<p>Selbstverständlich bestehen gewisse Doppelstandards in der westlichen Außenpolitik – aber zugleich bleibt der <em>Anspruch</em>, universelle Werte und Normen selbst einzuhalten, bestehen, wodurch später Inkohärenzen herausgearbeitet und kritisiert werden können,<sup id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-9-back"><a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-9" class="simple-footnote" title="Der Einfachheit halber habe ich den „Westen“ als ein Block behandelt, auch wenn gewisse Unterschiede zwischen Ländern bestehen. Die USA sind sicherlich ein Sonderfall mit einer besonders geringen Bereitschaft zur Einsicht vonseiten staatlicher Institutionen, jedoch auch einer aktiven Medienlandschaft, die Inkohärenzen aufdeckt.">9</a></sup> wie es andernorts kaum passiert.<sup id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-10-back"><a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-10" class="simple-footnote" title="Jedenfalls sicher nicht in Russland oder China, aber auch immer weniger etwa in der Türkei oder Israel.">10</a></sup> Es ist paradoxerweise gerade diese Offenheit in der Bewertung und Kritik, die das Ausmaß der Inkohärenzen in freien Gesellschaften größer erscheinen lässt, als es tatsächlich ist. </p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-1">Den unscharfen und in vielen Zusammenhängen kontraproduktiven Begriff des „Westens“ behalte ich bei – weil er in diesem Kontext relativ klar definiert ist: Er umfasst jene entwickelte Staaten, die Russland für den Angriffskrieg <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/International_sanctions_during_the_2022_Russian_invasion_of_Ukraine">klar verurteilen und sanktioniert haben</a>. Die Türkei und Israel gehören also nicht dazu, Japan und Südkorea hingegen schon, womit vom historischen, kulturellen Begriff des „Westens“ natürlich abgewichen wird. <a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-2">Es bleibt jedoch offen, inwiefern die indische Sicherheit „geopfert“ würde, wenn ab jetzt keine russischen Waffensysteme mehr gekauft würden. <a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-3">Bei einer solchen Forderung würde dem Westen an wohl „Moralisieren“ vorgeworfen werden. <a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-4">Auch wenn dieses völkerrechtlich nicht gedeckt war und durchaus verurteilt werden kann, sind die beiden Fälle weder in der Intention, noch in der Anzahl der Toten, der Dauer, dem Ausmaß der Zerstörung und Kriegsverbrechen auch nur ansatzweise vergleichbar. Eine Gleichsetzung ist nicht nur zynisch, sondern widerwärtig. <a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-5">Angenommen natürlich, dass Russland nicht zum zukünftigen globalen Hegemon wird, wovon aufgrund der wirtschaftlichen und auch militärischen Schwäche Russlands kaum auszugehen ist. <a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-6">Damit hängt eine gewisse Tendenz zusammen, in Staaten die (durch Kolonialismus, Imperialismus, Krieg, etc.) „auch gelitten“ haben, alle Formen des Kriegs und des Leidens als gleichwertig zu sehen. <a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-7">Dass dies in Europa geschieht, dem Herkunftsort dieser Werte (durch das moderne Konzept des „Staats“, die Aufklärung und schließlich das Erbe der Weltkriege), spielt dabei nur eine untergeordnete, aber ebenfalls nicht zu vernachlässigende Rolle. <a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-8">Dazu zählt auch, dass teilweise fadenscheinige Gründe für Kriegseintritte <em>im Westen</em> aufgedeckt wurden und mittlerweile allgemein bekannt sind. <a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-9">Der Einfachheit halber habe ich den „Westen“ als ein Block behandelt, auch wenn gewisse Unterschiede zwischen Ländern bestehen. Die <span class="caps">USA</span> sind sicherlich ein Sonderfall mit einer besonders geringen Bereitschaft zur Einsicht vonseiten staatlicher Institutionen, jedoch auch einer aktiven Medienlandschaft, die Inkohärenzen aufdeckt. <a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-10">Jedenfalls sicher nicht in Russland oder China, aber auch immer weniger etwa in der Türkei oder Israel. <a href="#sf-heuchelei-heuchler-ukrainekrieg-interessen-werte-schadenfreude-doppelstandards-10-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Nicht nur Buchhaltung – Staatsverschuldung abseits des Idealfalls2022-12-14T00:00:00+01:002022-12-14T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2022-12-14:/posts/2022/12/14/nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender/<p>Budgetdefizite und Staatsschulden in eigener Fiatwährung sind grundsätzlich keine relevanten makroökonomische Größen und auch nicht mit Privatverschuldung vergleichbar. Wie die Modern Monetary Theory richtigerweise feststellt, kann sich das Budgetdefizit grundsätzlich nach der Absorptionskapazität der Volkswirtschaft richten. Doch bei offenen Volkswirtschaften oder Währungsunionen müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden, die den budgetären Spielraum zum Teil drastisch einschränken. Exemplarisch gehe ich auf die Spezialfälle von Entwicklungsländern, Währungsunionen und die Sonderrolle der <span class="caps">USA</span> ein.</p><p>In einem ausführlichen, <a href="https://noctulog.net/posts/2021/05/02/staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken/">letztes Jahr veröffentlichten Artikel</a> habe ich einige grundlegende Zusammenhänge zwischen Schulden- und Geldpolitik erläutert und dabei unter anderem argumentiert, dass Staatsdefizit und Staatsverschuldung im Gegensatz zu Inflation, Wachstum, Arbeitslosigkeit etc. eine buchhalterische, nicht unmittelbar relevante makroökonomische Kenngrößen sind.</p>
<p>In diesem kurzen Beitrag möchte ich auf Einschränkungen dieses Modells eingehen, die bei der Analyse der Situation offener Volkswirtschaften eine wichtige Rolle spielen. Wenn internationale Investitionen, Handel und Wechselkurse ins Spiel kommen, zeigt sich, dass der der budgetäre Handlungsspielraum Grenzen unterworfen ist, die von der <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Modern_Monetary_Theory">Modern Monetary Theory</a> (<span class="caps">MMT</span>) – die nur auf die Absorptionsfähigkeit der eigenen Volkswirtschaft eingeht – übersehen werden. In diesem Artikel möchte ich auf drei paradigmatische Fälle eingehen: Entwicklungsländer, Währungsunionen und die <span class="caps">USA</span> als Ausgeber der unausweichlichen Leitwährung.</p>
<h2>Entwicklungsländer und die Notwendigkeit von Fremdkrediten</h2>
<p>Das Budgetdefizit in eigener Fiatwährung wird nur durch makroökonomische Faktoren wie Inflation, Arbeitslosigkeit oder Zinssatz wirklich beschränkt, nicht etwa durch das Verhältnis zum <span class="caps">BIP</span>. Für Staaten mit großen freien Produktionskapazitäten bedeutet dies, dass ein im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung hohes Defizit nachhaltig sein kann, für andere hingegen – und vor allem für Entwicklungsstaaten – kann es sein, dass bereits bei einer relativ <em>niedrigen</em> Neuverschuldung die produktiven Grenzen der Volkswirtschaft erreicht werden und die Inflation stark ansteigt. In diesem Fall muss sich der Staat bei größeren Investitions- und Entwicklungsprojekten in Fremdwährung verschulden, um einer massiven Inflation – bzw. Abwertung der eigenen Währung – zu entgehen.</p>
<p>Diese Grenze ist eine, die in der <span class="caps">MMT</span> übersehen wird, weil diese einzig die <em>formale</em> Möglichkeit, sich in eigener Fiatwährung zu verschulden,<sup id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-1-back"><a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-1" class="simple-footnote" title="Und hebt den Gegensatz zu Währungsunionen, auf die ich weiter unten eingehe, hervor, vgl. Stephanie Kelton, The Deficit Myth (2020).">1</a></sup> betrachtet und ignoriert, dass die reine Verschuldung in Eigenwährung für zahlreiche Staaten ohne international angesehene Leitwährung eine <em>Einschränkung</em> der Handlungsmöglichkeit darstellt, gegenüber welcher eine Verschuldung in Fremdwährung neue, riskantere, aber volkswirtschaftlich durchaus vorteilhafte Optionen eröffnet.</p>
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<p>Die <span class="caps">MMT</span> übersieht in ihrer Betrachtung von Staatsschulden, dass für zahlreiche Staaten Verschuldung in Fiatwährung (im Rahmen der „natürlichen“ Grenzen der Volkswirtschaft) unzureichend ist und Verschuldung in Fremdwährung den Spielraum für notwendige Investitionen schaffen kann.</p>
</blockquote>
<p>Verschuldung in Fremdwährung unterscheidet sich jedoch grundsätzlich von Verschuldung in der eigenen Währung: Sie entspricht im Wesentlichen einer <em>Privatverschuldung mit zusätzlichem Wechselkursrisiko</em>. Die einmaligen Gestaltungsmöglichkeiten, die für Entwicklungsländer durch Fremdwährungskredite eröffnet werden – u.a. Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Produktivität – werden mit einer tatsächlichen Einschränkung des Gestaltungsspielraums zukünftiger Generationen erkauft.<sup id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-2-back"><a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-2" class="simple-footnote" title="Dadurch, dass ein Staatsbankrott und/oder ein Kollaps des Werts der eigenen Währung möglich wird.">2</a></sup> Damit müssen mit Fremdschulden bediente Projekte wie privatwirtschaftliche Projekte bewertet und behandelt werden; sie sollten einem <em>Rentabilitätszwang</em> unterliegen. Eine Fehleinschätzung kann im schlimmsten Fall einen Staatsbankrott nach sich ziehen. </p>
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<p>Schulden in Fremdwährung ähneln Privatschulden mit Wechselkursrisiko. Sie öffnen die Tür zu ansonsten unmöglichen Investitionen, unterliegen aber – wie Privatinvestitionen – einem Rentabilitätszwang und -risiko.</p>
</blockquote>
<h2>Währungsunionen als Hybridformat</h2>
<p>Währungsunionen, wie sie etwa einige <span class="caps">EU</span>-Mitgliedsstaaten, aber auch west- und südafrikanische Staaten gebildet haben, können unter Umständen einen Raum bilden, der über genügend Kapazitäten verfügt, um sich rein in Eigenwährung zu verschulden, d.h. keine Finanzierung in Fremdwährung benötigt. In diesem Fall fällt das <em>Wechselkursrisiko</em> für alle Staaten weg, es bleibt jedoch grundsätzlich die Möglichkeit eines Schuldenausfalls, auch wenn dieses (siehe unten) oft theoretischer Natur ist. </p>
<p>Aufgrund des Ausfallrisikos kritisieren Vertreter der <span class="caps">MMT</span> den Beitritt zu einer Währungsunion als künstliche Einschränkung des budgetären Freiraums, der bei einer der Verschuldung in Eigenwährung besteht. Sie übersehen aber, dass vergleichbare Staaten außerhalb einer Währungsunion eine größere Variabilität des eigenen Wechselkurses inkauf nehmen oder sich überhaupt (siehe voriger Abschnitt) in Fremdwährung verschulden müssten, was den fiskalpolitischen Spielraum ebenfalls massiv einschränkt.<sup id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-3-back"><a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-3" class="simple-footnote" title="Das Vereinigte Königreich ist ein gutes Beispiel für die realen Einschränkungen der Schuldenpolitik eines Lands mit einer formal komplett unabhängigen Währung, welches sich auch gänzlich in Eigenwährung verschulden kann. Doch es waren die Sorgen über die Auswirkungen einer expansiven Budgetpolitik auf den Wechselkurs des Pfunds, welche (unter anderen Schwierigkeiten) Premierministerin Truss zu Fall brachten, nicht die Gefahr eines Zahlungsausfalls.">3</a></sup></p>
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<p>Währungsunionen erlauben es ihren Mitgliedern, sich auf eine Art und Weise zu verschulden, welche im Gegenzug zu Einbußen bei der formalen monetären Unabhängigkeit das Wechselkursrisiko gegenüber Fremdwährungskrediten minimiert.</p>
</blockquote>
<p>Darüber hinaus kann in politisch integrierten Währungsunionen wie dem Euroraum durch interne Mechanismen dem nominellen Verlust an Souveränität weiter entgegengewirkt werden, etwa durch gemeinsame Budgetinstrumente oder geteilte Schuldenaufnahme.<sup id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-4-back"><a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-4" class="simple-footnote" title="Wie sie von der EU im Rahmen des Europäischen Aufbauplans nach der COVID-Pandemie erstmals praktiziert wurde.">4</a></sup> Zusätzlich kann davon ausgegangen werden, dass die <span class="caps">EZB</span> jedes Land der Währungsunion letztlich vor dem Bankrott <a href="https://www.project-syndicate.org/commentary/ecb-tpi-imposing-conditions-on-member-states-by-harold-james-2022-07">bewahren würde</a>, wodurch das Hauptrisiko des Staatsbankrotts de facto ausgeschlossen ist. </p>
<p>Deshalb bedarf es aber auch gemeinsamer Budgetregeln, da ansonsten die Möglichkeit bestünde, dass ein Land durch exzessives Defizit die Währung gegen andere ausnutzt und den negativen Nebeneffekt – die Inflation – auf den gesamten Raum verteilt. Das derzeitige Regelwerk, insbesondere der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Stabilit%C3%A4ts-_und_Wachstumspakt">Stabilitäts- und Wachstumspakt</a> sollten diese Funktion erfüllen, es baut aber auf willkürlichen Maßstäben wie dem Verhältnis von Defizit und Schulden zum <span class="caps">BIP</span> auf. Es bräuchte rasch andere Mechanismen, um einen ökonomisch sinnvollen und gerechten einzelstaatlichen Spielraum für Fiskal- und Geldpolitik zu ermöglichen. Denkbar wäre etwa, dass jährlich ein Kontingent von „Freischulden“ vereinbart wird, das sich auf gesamteuropäische makroökonomische Daten stützt und dann nach einem bestimmten Schlüssel (der sich nach <span class="caps">BIP</span> und Bevölkerungsanzahl richten kann) einzelnen Staaten zugeteilt wird.</p>
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<p>Im spezifischen Fall des Euro ist über die gemeinsame Zentralbank das Risiko des Zahlungsausfalls für Mitgliedsstaten sehr gering. Ein politischer Mechanismus zur Teilhabe an der gemeinsamen Geldschöpfung ist notwendig, aber derzeit irrational und sollte überarbeitet werden.</p>
</blockquote>
<h2>Die <span class="caps">USA</span> als Spezialfall</h2>
<p>Abschließend möchte ich zum Spezialfall der Vereinigten Staaten kommen, der von der <span class="caps">MMT</span> als geld- und budgetpolitischer Idealfall dargestellt wird, aber in der Realität eine weltweite Ausnahme darstellt, auch gegenüber großen Industrienationen mit eigener Währung (Vereinigtes Königreich, Japan) und der <span class="caps">EU</span> als Währungsunion. Der <span class="caps">US</span>-Dollar hat weltweit eine einzigartige Stellung als Reserve- und Transaktionswährung,<sup id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-5-back"><a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-5" class="simple-footnote" title="Obwohl es mitunter leichte Rückgänge gibt, macht der Dollar noch immer 60% der weltweiten Währungsreserven aus, sämtliche Rohstoffe werden in Dollar gehandelt.">5</a></sup> die auf das Vertrauen in die Verfügbarkeit und technologische und militärische Vormachtstellung der <span class="caps">USA</span> zurückzuführen sind. </p>
<p>Durch dieses weiterhin bestehende <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Exorbitant_privilege">„privilège exorbitant“</a> sind die <span class="caps">USA</span> in der Lage, bei ihrer Schuldenpolitik nicht nur auf die makroökonomische Aufnahmekapazität des eigenen Landes, sondern der gesamten Welt zurückzugreifen. Damit kann etwa die <em>Inflation auf die gesamte Welt verteilt werden</em>,<sup id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-6-back"><a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-6" class="simple-footnote" title="Dasselbe gilt prinzipiell – wenngleich in weit geringerem Ausmaß – für alle Reservewährungen, insbesondere den Euro, der auch eine gewisse internationale Relevanz hat. China wird in Zukunft wohl ebenfalls von einem ähnlichen, zumindest regionalen Privileg profitieren.">6</a></sup> um Investitionen in den <span class="caps">USA</span> zu ermöglichen; umgekehrt, wie etwa beim Marshall-Plan, der großteils auf budgetpolitische Impulse der <span class="caps">USA</span> zurückgeht, kann umgekehrt auch eine Investition im Ausland durch Überkapazitäten im Inland aufgefangen werden.</p>
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<p>Das „privilège exorbitant“ der Vereinigten Staaten besteht darin, die indirekten Auswirkungen ihrer Fiskal- und Geldpolitik über den ganzen Globus verteilen zu können. Dadurch profitieren die <span class="caps">USA</span> von der Möglichkeit hoher Budgetdefizite (und entsprechenden Inlandsinvestitionen) mit vergleisweise geringer Inflation.</p>
</blockquote>
<p>Die <span class="caps">MMT</span> macht also den entscheidenden Fehler, die absolut außergewöhnliche Situation der <span class="caps">USA</span>, dessen Fiatwährung zugleich auch die weltweite Leitwährung ist, als Blaupause für die Fiskal- und Geldpolitik anderer Staaten zu betrachten.</p>
<p>Abschließend sei daran erinnert, dass auch die Zinspolitik der Fed, globale Auswirkungen hat und die Hochzphase der 1980er Jahre zwar die Stabilisierung der Inflation in den <span class="caps">USA</span> erreichte, aber auch einen budgetären und wirtschaftlichen Zusammenbruch zahlreicher in Dollar verschuldeter (bzw. im Handel auf Dollar angewiesener) Drittstaaten. Ähnliche Schwierigkeiten könnten in der bevorstehenden (relativen) Hochzinsphase wieder entstehen. Die <span class="caps">USA</span> wären gut beraten, ein Mindestmaß an Koordinierung mit anderen Akteuren zu suchen, um größere internationale Verwerfungen zu vermeiden – mit dem Privileg geht auch die Verantwortung einher, die Bedürfnisse des Rests der Welt zu berücksichtigen.<sup id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-7-back"><a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-7" class="simple-footnote" title="Alle Währungen sind mehr oder weniger stark aneinander gekoppelt. Währungsunionen stellen eine maximale Kopplung von Staaten dar, ebenso ein fixes Wechselkursregime. Der Dollar als weltweite Leitwährung ist an alle anderen Währungen ebenfalls stark gekoppelt und begründet eine Art weltweite Protowährungsunion, mit ähnlichen, aber schwächeren Effekten als jenen, die in einer Währungsunion auftreten. Aus diesem Grund ist die Forderung nach einem globalen Koordinierungsmechanismus für die US-Geldpolitik legitim.">7</a></sup></p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-1">Und hebt den Gegensatz zu Währungsunionen, auf die ich weiter unten eingehe, hervor, vgl. Stephanie Kelton, <em>The Deficit Myth</em> (2020). <a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-2">Dadurch, dass ein Staatsbankrott und/oder ein Kollaps des Werts der eigenen Währung möglich wird. <a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-3">Das Vereinigte Königreich ist ein gutes Beispiel für die <em>realen</em> Einschränkungen der Schuldenpolitik eines Lands mit einer <em>formal</em> komplett unabhängigen Währung, welches sich auch gänzlich in Eigenwährung verschulden kann. Doch es waren die Sorgen über die Auswirkungen einer expansiven Budgetpolitik auf den <a href="https://edition.cnn.com/2022/09/26/business/nightcap-pound-falls-truss-economics/index.html">Wechselkurs</a> des Pfunds, welche (unter anderen Schwierigkeiten) Premierministerin Truss zu Fall brachten, nicht die Gefahr eines Zahlungsausfalls. <a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-4">Wie sie von der <span class="caps">EU</span> im Rahmen des <a href="https://commission.europa.eu/strategy-and-policy/recovery-plan-europe_de">Europäischen Aufbauplans</a> nach der <span class="caps">COVID</span>-Pandemie erstmals praktiziert wurde. <a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-5">Obwohl es mitunter leichte Rückgänge gibt, macht der Dollar noch immer <a href="https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2021/05/05/blog-us-dollar-share-of-global-foreign-exchange-reserves-drops-to-25-year-low">60%</a> der weltweiten Währungsreserven aus, sämtliche Rohstoffe werden in Dollar gehandelt. <a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-6">Dasselbe gilt prinzipiell – wenngleich in weit geringerem Ausmaß – für alle Reservewährungen, insbesondere den Euro, der auch eine gewisse internationale Relevanz hat. China wird in Zukunft wohl ebenfalls von einem ähnlichen, zumindest regionalen Privileg profitieren. <a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-7">Alle Währungen sind mehr oder weniger stark aneinander gekoppelt. Währungsunionen stellen eine maximale Kopplung von Staaten dar, ebenso ein fixes Wechselkursregime. Der Dollar als weltweite Leitwährung ist an alle anderen Währungen ebenfalls stark gekoppelt und begründet eine Art weltweite <em>Protowährungsunion</em>, mit ähnlichen, aber schwächeren Effekten als jenen, die in einer Währungsunion auftreten. Aus diesem Grund ist die Forderung nach einem globalen Koordinierungsmechanismus für die <span class="caps">US</span>-Geldpolitik legitim. <a href="#sf-nicht-nur-buchhaltung-staatsverschuldung-abseits-idealfalls-international-handel-entwicklungslaender-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>„My body, my choice“ – die Falle der Empörung2022-07-17T00:00:00+02:002022-07-17T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2022-07-17:/posts/2022/07/17/my-body-my-choice-die-falle-der-emporung/<p>In der zuletzt wieder aufgeflammten Abtreibungsdebatte wird der Schwangerschaftsabbruch vielfach als bloße Ausübung des Rechts auf körperliche Selbstbestimmung („my body, my choice“) dargestellt. Diese zunächst attraktive Sichtweise ist unhaltbar, was sich spätestens bei Abtreibungen des überlebensfähigen Fötus zeigt – Abtreibung ist immer (wie auch im soeben aufgehobenen Urteil Roe v. Wade) eine <em>Abwägung</em> zwischen Recht auf Selbstbestimmung und Recht auf Leben des Fötus. Vorzugeben, es gebe ein grundlegendes, durch nichts eingeschränktes Abtreibungsrecht ist zwar vordergründig eine effektive Mobilisierungsstrategie, unterstützt jedoch auch radikale Abtreibungsgegner in ihrer Empörung und unterminiert eine konsensfähige (Fristen)lösung.</p><p>Die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Dobbs_v._Jackson_Women%E2%80%99s_Health_Organization">Entscheidung</a> des <em>Supreme Court</em> der Vereinigten Staaten, die seit fast 50 Jahren gültige Rechtssprechung „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Roe_v._Wade">Roe v. Wade</a>“ aufzuheben und damit das bundesweite Recht auf Abtreibung aufzuheben, hat weltweit für Entrüstung gesorgt. Ohne auf rechtliche Details eingehen zu wollen – oder zu können – ist diese Entscheidung offenkundig problematisch, weil sie eine über Jahrzehnte etablierte, Rechtssprechung ohne einleuchtende Gründe aufhebt und den Weg für fast überall von der Mehrheit abgelehnte <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Abortion_law_in_the_United_States_by_state">drakonische Abtreibungsverbote</a> und <a href="https://www.nytimes.com/2022/07/17/health/abortion-miscarriage-treatment.html">Lebensgefahr bei Fehlgeburten</a> in mehreren Bundesstaaten ebnet.</p>
<p>Ich möchte in diesem Artikel jedoch nicht auf diese bereits <a href="https://www.nytimes.com/2022/06/24/opinion/roe-v-wade-dobbs-decision.html">hinlänglich bekannten Punkte</a> eingehen, sondern stattdessen den dominanten „liberalen“<sup id="sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-1-back"><a href="#sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-1" class="simple-footnote" title="Im US-amerikanischen Sinn.">1</a></sup> Gegendiskurs untersuchen seine Schwächen und Widersprüche aufzeigen, die es Abtreibungsgegner erlauben, ihre eigenen Inkohärenzen nicht zu offenbaren und in einem polarisierten Diskurs die Oberhand zu gewinnen.</p>
<h2>Ein absolutes Recht: „my body, my choice“</h2>
<p>Der Kernsatz des liberalen Gegendiskurses ist der Slogan „mein Körper, meine Entscheidung“ („my body, my choice“) der bei Demonstrationen, von Politikern und Medien, die Abtreibung befürworten mantraartig wiederholt wird. Auf den ersten Blick erscheint diese Reduktion auf die Frage der Selbstbestimmung der schwangeren Fraue über ihren eigenen Körper überzeugend. Wenn man gänzlich frei über medizinische (medikamentöse und chirurgische Behandlung) und ästhetische (Tatoos, Piercings, ästhetische Chirurgie) Eingriffe entscheiden kann, weshalb nicht über die Abtreibung, die ebenfalls eine Art von Eingriff in den eigenen Körper darstellt?</p>
<p>Doch dieser Gedankengang führt rasch zu groben moralischen und rechtlichen Schwierigkeiten. Offenkundig wäre es spätestens ab dem Zeitpunkt, ab dem das Fötus bei einer Geburt sehr hohe Überlebenschancen hätte, einigermaßen abenteuerlich, die Abtreibung <em>einzig</em> als medizinischen Eingriff in den Körper der Frau zu betrachten. Es wäre einigermaßen absurd, so zu tun als ob es das zweite dabei involvierte Lebewesen, das spätestens bei der Geburt zu einer <em>Person</em> (mit sämtlichen Menschenrechten, darunter dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit) wird, einige Stunden oder Tage davor einfach nicht gebe, dass der Durchgang durch den Geburtskanal der Entstehungszeitpunkt aller moralischer Verpflichtungen ihm gegenüber sein solle. Die Fiktion, es gebe nur <em>einen</em> Körper, in den eingegriffen wird, ist spätestens bei Abtreibungen kurz vor einer möglichen Lebendgeburt nicht mehr haltbar.</p>
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<p>Es wäre einigermaßen absurd, so zu tun als ob es den Fötus, der nach dem Durchgang durch den Geburtskanal zu einer Person mit sämtlichen Menschenrechten wird, einige Tage oder Stunden zuvor überhaupt nicht gebe. </p>
</blockquote>
<p>Solange keine Gefahr für die Gesundheit der Mutter besteht und das Fötus gesund erscheint, gibt es deshalb auch <a href="https://www.guttmacher.org/abortion-legality-worldwide">kaum Gesetzgebungen</a>,<sup id="sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-2-back"><a href="#sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-2" class="simple-footnote" title="Lediglich in Kanada scheint es überhaupt keine rechtliche Einschränkung den Zeitpunkt der Abtreibung betreffend zu geben. Offenbar gibt es trotzdem keine Abtreibungskliniken, die nach der 24. Schwangerschaftswoche rein freiwillige Unterbrechungen durchführen.">2</a></sup> in denen Abtreibung ohne zeitliche Beschränkung möglich ist. Die Frist für Abtreibungen, die in den <span class="caps">USA</span> 1973 mit Roe v. Wade eingeführt wurde (und 1992 leicht <a href="https://caselaw.findlaw.com/us-supreme-court/505/833.html">adaptiert wurde</a>) bezieht sich genau auf Zeit vor der Überlebensfähigkeit des Fötus (etwa bis zur 24. Schwangerschaftswoche); in Westeuropa ist sie meist <em>wesentlich kürzer</em> (meist bis zur 12. oder 14. Schwangerschaftswoche).<sup id="sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-3-back"><a href="#sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-3" class="simple-footnote" title="Dies wird sowohl in Europa als auch in den USA interessanterweise komplett ausgeblendet.">3</a></sup> Diesen „Fristenlösungen“ liegt immer eine <em>Abwägung</em> zwischen dem Recht der Schwangeren, über ihren eigenen Körper und ihre eigene Zukunft zu bestimmen und dem Recht des Lebewesens, welches das Potential zum Menschsein Schritt für Schritt verwirklicht und zur Person wird, auf Leben und Unversehrtheit, zugrunde. Auf das <em>Ergebnis</em> dieser Abwägung, die von wissenschaftlichen, ethischen und sozialen Bewertungen<sup id="sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-4-back"><a href="#sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-4" class="simple-footnote" title="Meines Erachtens ist das beste Argument, Abtreibungen bis zu einem gewissen Zeitpunkt zu erlauben, ein sozialer und kein individueller: Ungewollte Geburten sind für Mutter, Kind und Umfeld oftmals äußerst problematisch. Illegale Abetreibungen sind zudem, wie aus der Geschichte ersichtlich nicht zu vermeiden, gefährlicher und finden später und damit tendenziell näher an der Personenwerdung statt.">4</a></sup> abhängt, möchte ich in diesem Artikel nicht näher eingehen; wesentlich ist nur, dass sie nicht umgangen werden kann.</p>
<h2>Die gefährliche Instrumentalisierung der Empörung</h2>
<p>Den meisten Abtreibungsbefürwortern wird klar sein, dass diese Abwägung existiert, ja existieren <em>muss</em> und dass Abtreibungen mit fortschreitender Schwangerschaftsdauer ethisch immer problematischer werden. Die Zuspitzung auf ein alles übertrumpfendes Recht zur Selbstbestimmung und den rein positiv konnotierten Marketingbegriff „pro-choice“ ist deshalb lediglich eine <em>Mobilisierungsstrategie</em>. Sie versucht, über die Empörung der Anhänger eine einheitliche Bewegung zu schaffen und nimmt dafür argumentative Schwächen inkauf. Es ist natürlich leichter, Menschen für Abtreibungsrechte zu mobilisieren, wenn es nicht um eine komplexe Abwägung von Werten geht, sondern um einen <em>Abwehrkampf</em> gegen einen ideologischen Feind, der – offenbar aus purer Lust an Unterdrückung – Frauen das Recht zur körperlichen Selbstbestimmung nehmen will.</p>
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<p>So zu tun, als handle es sich bei der Abtreibungsfrage nicht um ein genuines moralisches und rechtliches Problem, sondern lediglich um eine triviale Frage der Selbstbestimmung; so zu tun, als seien alle Abtreibungskritiker Ideologen, deren eigentliches Ziel die Unterdrückung der Frauen sei, empört und mobilisiert das eigene Lager. Aber das Übergehen jeglicher Rechte des Embryos emotionalisiert und bestärkt auch die Gegenseite und nährt den Kulturkampf zwischen zwei maximalistischen Ideologien.</p>
</blockquote>
<p>Mir erscheint dieser Ansatz nicht nur prinzipiell, aufgrund seiner mangelnden intellektuellen Aufrichtigkeit, sondern auch aus pragmatischen Gründen fehlgeleitet. Dadurch, dass sich Abtreibungsbefürworter selbst karikieren, sind sie für radikale Abtreibungsgegner ein ideales Ziel. Es ist für diese einfach, zur Abwehr gegen eine scheinbar verrohte Ideologie aufzurufen, in welcher das Leben des menschlichen Embryo <em>nichts</em> Wert ist („anti-life“), solange es sich im Mutterleib befindet. Es braucht dafür nicht einmal einen Strohmann aufzubauen – die Abtreibungsbefürworter stellen sich selbst als unbelehrbare Extremisten dar, mit denen man nicht ins Gespräch kommen kann. </p>
<p>Damit wird ein Kulturkampf zwischen zwei maximalistischen und lebensfernen Ideologien genährt, der einen Konsens, wie er im Westen mit Fristenlösungen und breitem Zugang zu Verhütung fast überall besteht, erschwert. Nur in einem solchen Kulturkampf ist es möglich, dass radikale Abtreibungsgegner die Oberhand gewinnen, weil sie nicht vor ihre eigenen, offenkundigen Widersprüche gestellt werden.<sup id="sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-5-back"><a href="#sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-5" class="simple-footnote" title="Etwa, dass Zugang zu Verhütung das wohl wichtigste Mittel ist, um ungewollte Schwangerschaften und Abtreibungen zu verhindern oder, dass besonders scharfe Abtreibungsgesetze etwa bei Fehlgeburten das Leben von Frauen gefährden.">5</a></sup> Das Spiel mit der Empörung wird nicht immer gewonnen.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-1">Im <span class="caps">US</span>-amerikanischen Sinn. <a href="#sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-2">Lediglich in Kanada scheint es überhaupt keine <em>rechtliche</em> Einschränkung den Zeitpunkt der Abtreibung betreffend zu geben. Offenbar gibt es trotzdem <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Abortion_in_Canada">keine Abtreibungskliniken</a>, die nach der 24. Schwangerschaftswoche rein freiwillige Unterbrechungen durchführen. <a href="#sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-3">Dies wird sowohl in Europa als auch in den <span class="caps">USA</span> interessanterweise komplett ausgeblendet. <a href="#sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-4">Meines Erachtens ist das beste Argument, Abtreibungen bis zu einem gewissen Zeitpunkt zu erlauben, ein <em>sozialer</em> und kein <em>individueller</em>: Ungewollte Geburten sind für Mutter, Kind und Umfeld oftmals äußerst problematisch. Illegale Abetreibungen sind zudem, wie aus der Geschichte ersichtlich nicht zu vermeiden, gefährlicher und finden später und damit tendenziell näher an der Personenwerdung statt. <a href="#sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-5">Etwa, dass Zugang zu Verhütung das wohl wichtigste Mittel ist, um ungewollte Schwangerschaften und Abtreibungen zu verhindern oder, dass besonders scharfe Abtreibungsgesetze etwa bei Fehlgeburten das Leben von Frauen gefährden. <a href="#sf-my-body-my-choice-die-falle-der-emporung-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>The paradigm of “art and science” – unrealistic expectations and a real fight for visibility2022-04-02T00:00:00+02:002022-04-02T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2022-04-02:/art-and-science-unrealistic-expectations-critique-en.html<p>One of the latest fashions in cultural policy is the “art and science” approach, which is supposed recreate some form of “equal dialogue“, beyond science informing art or art communicating science. I argue that this approach cannot succeed because of the intrinsic asymmetry between understanding art (which is possible for anyone in principle) and understanding science (which is possible only for peers). There can be a number of benefits in connecting scientists and artists, including new ideas for art works and approaches for science communication, but one should not expect the barriers between the disciplines breaking down. A potential issue with the “art and science” discourse is that it tends to unduly favour the small group of artists and scientists taking part in it and muddy the criterion of peer assessment in evaluating science.</p><p>As one of the few scientists turned (cultural) diplomat, the omnipresent “art and science” movement has naturally raised my attention. The buzz around this concept – also among those allocating grants for culture – would appear to vindicate my own career choice and puts me a privileged position of someone who knows “both worlds” that are supposed to be merged. Unfortunately, the way the concept is understood and practiced (or <em>claimed</em> to be practiced) appears to be rather sterile and fruitless, as it sets goals it cannot achieve and could even lead to an erosion of scientific values.</p>
<h2>The ideal: a dialogue of equals</h2>
<p>It is true that, historically, modern science<sup id="sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-1-back"><a href="#sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-1" class="simple-footnote" title="To avoid misunderstandings: “science” in the expression “arts and science” nearly exclusively refers to natural science. The dialogue between social sciences and art could look quite different and might not face the shortfalls I will describe.">1</a></sup> and arts <em>did</em> emerge together, as the results of a joint revolution. During the 15th and 16th century, breakthroughs in anatomy, geometry or archaeology went hand in hand with revolutions in painting, music and sculpture – driven, among others, by polymaths like Leonardo and Michelangelo.</p>
<p>The number of such artist-scientists was to sharply decline during the modern era, notably because of the sheer growth of the body of knowledge and ensuing scientific specialization. By the early 20th century, the relationship between art and science had overwhelmingly turned into one of <em>reaction</em> of artists to scientific and technological developments. Photography, film, psychoanalysis, the theory of evolution, to name just a few, nourished new artistic tendencies and expressions. Overwhelmingly, contemporary art (when it is not completely self-referential and empty) continues to <em>react</em> to scientific and technological advances and creates little output of genuine scientific interest.</p>
<p>This is where the current “art and science” movement comes in, by claiming to restore some form of <em>equality</em> between science and art.<sup id="sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-2-back"><a href="#sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-2" class="simple-footnote" title="Taking a sociological viewpoint, one could claim that the emergence is due to the need for scientists to reassert their social value in a scientifically illiterate society and of contemporary artists and curators to reconnect with some sort of “reality” after decades of post-modernism that has left little to “deconstruct” and has thereore lost all connection to the broader public. It is interesting that art forms on which postmodernism has made little impact, such as cinema and music, have little appetite to legitimize themselves through „art and science“.">2</a></sup> One of the main centers for avantgarde multimedia art connected to cutting edge technology, the <a href="https://ars.electronica.art/">Ars Electronica</a> in Linz, expresses this intuition in one of its major <span class="caps">EU</span>-funded calls: </p>
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<p>“S+T+<span class="caps">ARTS</span> is driven by the conviction that science and technology combined with an artistic viewpoint also open valuable perspectives for research and business, through a holistic and human-centered approach.” (<a href="https://starts.eu/about/">starts.eu</a>)</p>
</blockquote>
<p>In this sense, the “art and science” approach explicitly tries to avoid both (i) <em>using new technologies</em> for art or <em>informing art</em> through science and (ii) <em>communicating science through art</em>. The interaction between art and science is supposed to happen freely, among equals, with both sides learning on the way, maybe leading to some sort of joint practice.<sup id="sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-3-back"><a href="#sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-3" class="simple-footnote" title="Although the methodological outcome of this supposedly fruitful collaboration is never explicitly laid out.">3</a></sup></p>
<p>The same logic applies to the omnipresent “Science, Technology, Engineering, Arts and Mathematics” (<span class="caps">STEAM</span>) projects in education. The appearance of arts in this acronym is not just meant to counterbalance a focus on too narrow a set of competences, but usually taken to mean that all these subjects should be <em>taught together</em>, again on some sort of “equal” footing. </p>
<h2>The issue: a fundamental asymmetry</h2>
<p>The ideal of an open dialogue between art and science, achieved without hierarchies, without subordinating one discipline to the other, opening up spaces for both sides to learn from each other, breaking down limitations, is quite appealing. Should not art and science be part of a well-rounded education and enrich everyone’s life?</p>
<p>The norms of modern science are intersubjectivity, reproducibility and progress. To achieve them, science relies on intelligibility for the group of <em>peers</em> – scientists in similar fields – because they are the ones who can understand, question and validate new scientific contents. Scientific production does not involve the general public as an actor<sup id="sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-4-back"><a href="#sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-4" class="simple-footnote" title="There are a few exceptions, where “citizen science”, involving the broader public for data collection or analysis, is successful. But these remain exceptions in fields where there is a lack of manpower to cover labour-intensive tasks.">4</a></sup> and is not directed at it. Only at a later stage, through the separate task of <em>communicating</em> or <em>vulgarizing</em> science is science partly made accessible to the general public.</p>
<p>Contemporary art, on the other hand, is very skeptical of norms, (such as beauty) in general, and consists of practices that are (supposed to be) broadly <em>intelligible in themselves</em>. Everyone who is interested in art should be able to engage with it and to talk about it with the artist. Naturally, a greater knowledge of technique and art history might lead to a deeper engagement – but it is not a prerequisite. Drawing parallels to other art forms, experiences, smells, and impressions is at least as important for the discourse about art as pontificating about about minute details of the specific works that might have inspired the artist.</p>
<p>So the dialogue between the artist and the scientist interested in each other is characterized by a <em>constitutive asymmetry</em>. The scientist might not be able to produce art for lack of technical abilities or experience, but he can <em>discursively</em> engage with art at the highest level. The artist, on the other hand, lacks the background knowledge and experience that is essential for the scientific discourse, and will only be able to engage with <em>vulgarized science</em>.</p>
<p>An open exchange between artists and scientists can certainly be interesting, but it should be clear that during such a dialogue, <em>art and science will not be discussed at the same depth</em>. This does not mean that science is somehow „worth“ more than art – they are two fundamental expressions of humanity, of incommensurable value. But deeply discussing science requires expert knowledge, while discussing art does (and should) not. </p>
<h2>The reality: “art inspired by science” and “art for science”</h2>
<p>Since the ideal of equal dialogue is unworkable in practice, one wonders what the innumerable “arts and science” grants result in. It is striking that they <em>always produce art</em>, never science. This is to be expected, as vulgarized science, which the artist will come in contact with, is very far removed from actual research problems. The artist cannot inform the scientist on his practice, while on the other hand, <em>even through vulgarized science</em> the scientist might inform the artist in hers. </p>
<p>It thus turns out that the “art and science” approach leads back precisely to the very pattern it wanted to evade: science and technology inspiring artists. Projects selected by the S+T+<span class="caps">ARTS</span> prize mentioned above end up being – no doubt ingenous – ways of applying technology to create art works, from <a href="https://starts-prize.aec.at/en/data-garden/">data stored in the genome of plants</a> to <a href="https://starts-prize.aec.at/de/oceans-in-transformation/">mapping maritime shipping</a>. We could call this tyope of outcome “art inspired by science” (and technology), or, more poetically, scientists being the muses of artists. </p>
<p>There is a second, less common type of outcome from the exchange between artists and scientist. Although the artist might not contribute anything to <em>science</em> by coming into contact with its vulgarized form, she might very well contribute to science <em>communication</em> itself, ranging from data vizualization to sculptures, soundtracks and film scripts. The <span class="caps">STEAM</span> approach combining arts and science in the classroom ends up being understood in this way, where art becomes a <em>tool</em> to better communicate science:</p>
<blockquote>
<p>“<span class="caps">STEAM</span> has shown great potential for making science (and science professions) accessible and relatable to students. <span class="caps">STEAM</span> learning is especially effective when students are cast in the role of artist and scientist rather than in that of audience. A successful template for <span class="caps">STEAM</span>-for-accessibility has been to first facilitate students’ scientific participation or discovery, and then facilitate the students’ reflection on their scientific experience through the creation of visual art—often a drawing or painting.” (<a href="https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5969448/">Segarra et al. 2018</a>)</p>
</blockquote>
<p>This second type of outcomes represent “art for science”, where applied artists work to improve science communication (and scientists improve their communication skills). Again, this is a very useful endeavour, but far away from the original idea of “art and science”. It will come as no surprise that most scientists understand the value of “art and science” in that way – as a tool to network and attract more attention (and in the end more funding) to their research. </p>
<p>One objection to my argument is that contacts between artists and scientists could end up producing artist-scientists – modern incarnations of Leonardo. However, the reasons that there are so few artist-scientists run very deep: specialization, different sociological milieu and way to accumulate social capital etc. Setting up a few residency projects for artists and scientists cannot bridge that divide. At best it could improve the social mixing between the two groups, at worst it will give visibility to the (usually mediocre) <a href="https://news.stanford.edu/2019/01/30/science-meets-art/">amateur art produced by scientists</a> or incite scientist to work outside their field as “artists”.</p>
<p>A second objection is that contact with art and artists can – at least indirectly – support scientific creativity, such as <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Harry_Kroto">Harry Kroto’s</a> discovery of fullerenes, which was <a href="https://www.nature.com/articles/s41565-019-0448-4#auth-Arthur_I_-Miller">supposedly triggered</a> by his experience as a graphic designer. Claudia Schnugg presents a number of case studies of “art and science” that benefited scientists as much as artists <sup id="sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-5-back"><a href="#sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-5" class="simple-footnote" title="Claudia Schnugg: Creating Artscience Collaboration, Palgrave Macmillan, 2019.">5</a></sup> Since science is creative work, there is no doubt that it can benefit from all sorts of experiences, thoughts, and feelings, including those outside the narrow scientific field, to open new perspectives and research ideas. However, this mechanism is so wide that there is no no reason to think that art or contact with artists would support scientific creativity any more than praying, debating with a chef, learning a foreign language or going hiking.<sup id="sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-6-back"><a href="#sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-6" class="simple-footnote" title="I hope that this suggestion will not trigger a flood of “hiking and science” calls.">6</a></sup> There is no justification to institutionally sponsoring this specific form of exchange rather than another.</p>
<h2>Summary and word of caution</h2>
<p>In this article, I tried to show why the self-proclaimed aim of the “art and science“ movement, to replace the <em>instrumental</em> relationship of art and science with some sort of “dialogue of equals” fails. The numerous projects in this field invariably end up producing either <em>art inspired by science</em> or <em>art for science</em>, not in breaking barriers between the disciplines or methodologies. This should be acknowledged in the programs funding contacts between artists and scientists.</p>
<p>A final note of caution: while it is clear that exchange between artists and scientists can be of great value to the participants, in terms of a wider network, a broader skill set and greater visibility, one should keep in mind that the main beneficiaries are <em>small subgroups within the artistic and scientific community</em>, which are in competition with the rest of their communities. What should be avoided is that average research spiced up with witty artistic spin-offs receives more recognition than strong research „only“ published in academic journals (and vice-versa mediocre art made shiny by adding “<span class="caps">AI</span> and biosensors” to everything). As much as cross-fertilization can – indirectly – have positive effects, the main criterion for judging science should remain the genuinely <em>scientific</em> contribution as recognized by peers. Science communication and art informed by science are valuable in themselves, but they follow a different logic.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-1">To avoid misunderstandings: “science” in the expression “arts and science” nearly exclusively refers to <em>natural</em> science. The dialogue between <em>social</em> sciences and art could look quite different and might not face the shortfalls I will describe. <a href="#sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-2">Taking a sociological viewpoint, one could claim that the emergence is due to the need for scientists to reassert their social value in a scientifically illiterate society and of contemporary artists and curators to reconnect with some sort of “reality” after decades of post-modernism that has left little to “deconstruct” and has thereore lost all connection to the broader public. It is interesting that art forms on which postmodernism has made little impact, such as cinema and music, have little appetite to legitimize themselves through „art and science“. <a href="#sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-3">Although the methodological outcome of this supposedly fruitful collaboration is never explicitly laid out. <a href="#sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-4">There are a few exceptions, where <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Citizen_science">“citizen science”</a>, involving the broader public for data collection or analysis, is successful. But these remain <em>exceptions</em> in fields where there is a lack of manpower to cover labour-intensive tasks. <a href="#sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-5">Claudia Schnugg: <em>Creating Artscience Collaboration</em>, Palgrave Macmillan, 2019. <a href="#sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-6">I hope that this suggestion will not trigger a flood of “hiking and science” calls. <a href="#sf-art-and-science-unrealistic-expectations-critique-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Von Buchhaltung, Aberglauben und Nachhaltigkeit – Betrachtungen zur Staatsverschuldung2021-05-02T00:00:00+02:002021-05-02T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2021-05-02:/posts/2021/05/02/staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken/<p>Erneut explodieren aufgrund der <span class="caps">COVID</span>-19-Pandemie weltweit Staatsschulden, was der ohnehin belebten Debatte über die volkswirtschaftlichen Auswirkungen und Nachhaltigkeit derartiger Schulden neue Dringlichkeit verschafft. In diesem Artikel beschreibe ich – für einen Staat der in seiner eigenen Währung Schulden aufnehmen kann – zunächst die unmittelbaren makroökonomischen Konsequenzen von vier Vorgängen: (i) Schuldaufnahme im Privatsektor, (ii) Schuldaufnahme bei der Zentralbank; (iii) Kauf von Anleihen durch die Zentralbank („Neutralisierung“), (iv) Schuldenerlass durch die Zentralbank („Monetarisierung“). Ich zeige, dass eine Neutralisierung oder Monetarisierung der Schulden in einem Niedrigzinsumfeld keine nennenswerten direkten Effekte auf die Volkswirtschaft haben. Aufgrund der grundlegenden ideologischen Ablehnung der Monetarisierung und der Angst, die sie bei vielen ökonomischen Akteuren hervorruft, kann diese jedoch <em>indirekt</em> inflationäre Tendenzen hervorrufen. Da auch unabhängige Zentralbanken die Budgetpolitik letztlich mittragen, weil sie den Staat nicht bankrott gehen lassen können, ist das Schuldenniveau in Eigenwährung (auch in Relation zum <span class="caps">BIP</span>) keine relevante Kenngröße und stellt auch keine Last für zukünftige Generationen dar. Ein formeller Schuldenerlass löst also nur ein Scheinproblem – eine schrittweise, bereits vielfach erprobte Neutralisierung im Rahmen des Mandats der Zentralbank (die etwa in Japan bereits weit fortgeschritten ist) garantiert letztlich ebenfalls die Nachhaltigkeit nominell beliebig hoher Staatsschulden und ist einer Monetarisierung vorzuziehen.</p><p>In der gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Debatte nehmen Staatsdefiziten und Staatsschulden eine zentrale Rolle ein. Spätestens seit der Finanzkrise von 2008, die sich bis zur Intervention der <span class="caps">EZB</span> 2011/2012 und der Ansage von Mario Draghi, dass der Euro mit <a href="https://news.yahoo.com/draghi-ecb-whatever-takes-save-euro-135406314--finance.html">mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gerettet würde</a><sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-1-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-1" class="simple-footnote" title="Womit eigentlich gemeint war, dass Euro-Länder (insbesondere Griechenland, Italien, Portugal, Spanien) vor dem Staatsbankrott bewahrt würden. Die Annahme war, dass dadurch die Stabilität des Euroraums als Ganzes geschützt würde.">1</a></sup> zu einer europäischen Staatsschuldenkrise ausgewachsen hatte, liegen Staatsschulden im Fokus volkswirtschaftlicher Debatten. Um die Fragen, welche Staatsschuldenlast bzw. welche öffentliche Neuverschuldung langfristig „tragbar“ sei und zu welchem Grad Zentralbanken Staatsschulen aufkaufen (und mehr oder weniger vollständig verschwinden lassen können) hat sich ein Richtungsstreit um die Zukunft der Weltwirtschaft entfacht. </p>
<p>Mit der Bekämpfung der <span class="caps">COVID</span>-19-Pandemie und der äußerst laschen Staatsschuldenpolitik <a href="https://www.cbo.gov/publication/56335">der <span class="caps">USA</span></a>, der <a href="https://ec.europa.eu/info/strategy/recovery-plan-europe_en">der <span class="caps">EU</span></a> sowie fast aller anderen Industrienationen, hat das Thema nochmals an Bedeutung geworden. Wie entstehen Staatsschulden? Wie hoch ist eine nachhaltige Verschuldung? Wer zahlt diese Schulden und wann? Angeregt von Ansätzen der <em><a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Modern_Monetary_Theory">Modern Monetary Theory</a></em> (<span class="caps">MMT</span>),<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-2-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-2" class="simple-footnote" title="Die Inspiration für die Auseinandersetzung lieferte die durchaus empfehlenswerte Einführung von Stephanie Kelton The Deficit Myth, die trotz größerer Schwächen im Detail wesentliche Denkanstöße zum Wesen von Staatsschulden in modernen Wirtschaftssystemen liefert.">2</a></sup> und der aktuellen <a href="https://www.ofce.sciences-po.fr/pdf/pbrief/2021/OFCEpbrief84.pdf">französischen Debatte</a> über die Bedeutung und die Zukunft von Staatsschulden, möchte ich diese Punkte beleuchten. </p>
<h2>Fiatgeld, Zentralbanken und Staatshaushalte</h2>
<p>Als Vorbereitung für die Analyse der Entstehung und Auswirkungen von Staatsschulden begonnen wird, gilt es, einige Merkmale moderner Wirtschaftssysteme, deren Zahlungsmittel nicht an intrinsisch wertvolle Güter gebunden sind, in Erinnerung zu rufen.</p>
<p>Seit dem Ende des Goldstandards 1973 sind die Hauptwährungen nicht mehr in Edelmetalle oder andere intrinsisch wertvolle Güter austauschbar. Sie sind „Fiatwährungen“ – rein konventionelle Tauschmittel, die gänzlich durch Vertrauen in die wechselseitige Anerkennung funktionieren. Ein zentraler Faktor für dieses Vertrauen ist,<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-3-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-3" class="simple-footnote" title="Dies wurde vom „chartalistischen“ Ansatz von Knapp und Keynes erkannt, der interessanterweise schon von Adam Smith vorweggenommen wurde.">3</a></sup> dass der Staat seine Steuern in seiner eigenen Währung einnimmt. Diese <em>Verpflichtung zur Steuerzahlung</em> ist (aufgrund das Gewaltmonopol des Staats) ab einer gewissen Steuerlast ausreichend, um den Bedarf an Fiatwährungen zu sichern und sie als Hauptzahlungsmittel im Staat zu etablieren.</p>
<p>Woher kommt dieses Fiatgeld? Der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Geldsch%C3%B6pfung">Mechanismus</a> dafür ist recht komplex und im Detail hier auch nicht relevant. Grundsätzlich geht er auf staatliche Zentralbanken zurück, die „Zentralbankgeld“<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-4-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-4" class="simple-footnote" title="Der Anteil an Zentralbankgeld an der Gesamtgeldmenge variiert und hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Derzeit beträgt er in der EU ca. 20%.">4</a></sup> an Banken verleihen, die ihrerseits über Kreditvergaben „Buchgeld“ schaffen, das ein Versprechen auf die Auszahlung von Zentralbankgeld (etwa Bargeld) darstellt.</p>
<blockquote>
<p>Modernes Fiatgeld gewinnt seinen Wert unter anderem durch die staatliche Gewalt und die Verpflichtung zur Steuerzahlung. Dadurch, dass es in letzter Instanz von einer staatlichen Stelle herausgegeben wird, wird ein wesentlicher staatlicher Steuermechanismus in die Wirtschaft eingebaut.</p>
</blockquote>
<p>Eine moderne Zentralbank agiert also natürlich nicht wie eine herkömmliche Bank, sondern ist eine Steuerungsinstitution, die über ihr Monopol auf die Schaffung von Zentralbankgeld verschiedene Variablen (wie den Geldpreis für Banken oder ihre Liquidität in Krisensituationen) beeinflusst und damit makroökonomische Ziele verfolgt. Zumeist sind dies Inflationsziele, teilweise aber auch ein hohes Beschäftigungsniveau (<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Federal_Reserve_System"><span class="caps">USA</span></a>), ein stabiler Wechselkurs (<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizerische_Nationalbank">Schweiz</a>) oder ein solides Bankensystem.</p>
<p>Unabhängig davon, dass Steuereintreibung und staatliche Gewalt den Wert des Geldes letztlich garantieren, nimmt der Staat über den Staatshaushalt weitere volkswirtschaftliche Steuerungsfunktionen wahr, die von der Zentralbank <em>nicht</em> übernommen werden können<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-5-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-5" class="simple-footnote" title="Diese Einzigartigkeit wurde in der Corona-Pandemie wieder offensichtlich. Eine Zentralbank ist nicht legitimiert, darüber zu entscheiden, wer für behördliche Schließungen wie entschädigt wird, wie Unterstützung zur Kurzarbeit ausgezahlt wird, welche Gesundheitsberufe Prämien erhalten usw.">5</a></sup> – diese sind zudem <em>demokratisch legitimiert</em>, wenn das Budget von einer Volksvertretung genehmigt wird. Die wesentlichen Funktionen sind:</p>
<ol>
<li>Schaffung von Einkommen (Löhne von Staatsbediensteten, Kauf von Gütern und Dienstleistungen, Investitionen)</li>
<li>Vernichtung<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-6-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-6" class="simple-footnote" title="Ich verwende „Vernichtung“ von Vermögen und „Schaffung“ von Einkommen, weil diese zwei Prozesse a priori nicht miteinander in Relation stehen müssen, weil der Staatshaushalt, wie wir sehen werden, nicht ausgeglichen sein muss.">6</a></sup> von Vermögenswerten (Steuern, Abgaben und Zölle auf Privatpersonen und Unternehmen)</li>
<li>Kompensierung von gesamtwirtschaftlichen <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Externer_Effekt">Externalitäten</a> (Steuern und Zölle auf negative, Subventionen auf positive externe Effekte)</li>
<li>Beeinflussung der Zinssatzes, der Privatverschuldung bzw. Sparquote (Aufnahme und Rückzahlung von Staatsschulden)</li>
</ol>
<p>Diese makroökonomische Steuerungsfunktion des Staatshaushalts besteht unabhängig davon, <em>wie</em> sie genutzt wird. Die Behauptung, der Staat solle möglichst „nicht in die Wirtschaft eingreifen“, bedeutet tatsächlich, dass er seine budgetären Werkzeuge nur in einer beschränkten Weise einsetzen solle, etwa mit geringen Steuern und Ausgaben (im vorletzten Abschnitt komme ich auf die Ursache solcher Einschränkungen zurück). Die Werkzeuge bleiben aber weiterhin <em>verfügbar</em> und können grundsätzlich eingesetzt werden: Man hat in den letzten Monaten gesehen, wie irrelevant selbst auferlegte „Schuldenbremsen“ und „Stabilitätspakte“ sind, wenn der politische Entschluss fällt, sie zu missachten.</p>
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<p>Zwei staatliche Akteure – die Zentralbank über das Geldangebot und die Regierung über den Staatshaushalt – üben unterschiedliche volkswirtschaftliche Steuerungsfunktionen aus. Geldpolitische Instrumente der Zentralbank und budgetpolitische Instrumente der Regierung unterliegen nicht den Einschränkungen mikroökonomischer Akteure. Selbst auferlegte Einschränkungen bei der Verwendung dieser Mittel können jederzeit aufgehoben werden.</p>
</blockquote>
<p>In den nächsten drei Abschnitten möchte ich zunächst darlegen, wie die Werkzeuge von Staatshaushalt und Zentralbank interagieren und welche <em>fundamentalen</em> makroökonomischen Auswirkungen sich daraus ergeben. In den darauf folgenden zwei Abschnitten möchte ich die möglichen <em>psychologischen</em> Konsequenzen der Verwendung gewisser Werkzeuge beleuchten, die sich daraus ergeben, dass ökonomische Akteuren an gewisse wirtschaftlichen Modelle glauben – ungeachtet dessen, ob diese korrekt sind oder nicht. </p>
<p>Der Einfachheit halber werde ich mich auf Staaten beschränken, die alle Einnahmen und Ausgaben in ihrer eigenen Fiatwährung tätigen und deren Zentralbanken variable Wechselkurse zulassen. Diese Vereinfachung trifft etwa auf die <span class="caps">USA</span>, das Vereinigte Königreich, Japan, aber auch die <span class="caps">EU</span> <em>als Ganzes</em> zu, nicht jedoch auf kleinere Staaten oder Entwicklungsländer ohne Leitwährung. Auf die besonderen Umstände, die für solche Staaten gelten, werde ich in einem Folgeartikel eingehen.</p>
<h2>Staatsschulden I: Verschuldung am Privatmarkt</h2>
<p>Beginnen wir die Analyse mit einem Staat mit einem „ausgeglichenen“ Staatshaushalt, in dem also das vernichtete Geldvermögen (Steuereinnahmen) mit dem geschaffenen Einkommen (Ausgaben) im Gleichgewicht ist. Ein derartiges Budget beschränkt sich rein auf <em>Umverteilung von Geld</em> zwischen wirtschaftlichen Akteuren im Land. Diese Umverteilung ändert die Geldmenge nicht, kann aber dennoch bedeutende volkswirtschaftliche Konsequenzen haben, die von der von der Form der Verteilung abhängen.<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-7-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-7" class="simple-footnote" title="Etwas vereinfacht: Wenn Geld den Personen genommen wird, die es nur sehr langsam ausgeben und an Personen vergeben, die es rasch ausgeben, wird die Geldmenge zwar nicht erhöht, aber die Preise von Konsumgütern tendenziell schon. Im umgekehrten Fall könnten beschränkt verfügbare Vermögenswerte, wie Immobilien, sich verteuern.">7</a></sup></p>
<p>Will der Staat nun zusätzliches Geld in spezifischen Bereichen ausgeben – etwa aufgrund einer Naturkatastrophe oder weil die Arbeitslosigkeit aufgrund einer geplatzten Immobilienblase ansteigt – hat er üblicherweise zwei Optionen, beziehungsweise eine Kombination daraus: (i) Steuern um den Fehlbetrag erhöhen, oder (ii) Schuldscheine über den Fehlbetrag ausgeben.</p>
<p>Was diese beiden Varianten unterscheidet, ist <em>nicht</em> die Menge des sich im Umlauf befindlichen Gelds, die in beiden Fällen konstant bleibt. Der Unterschied ist, dass bei der Schaffung von Staatsschulden zusätzlich ein äquivalenter zinsbringender Vermögenswert (Schuldscheine) in Umlauf gebracht wird, der das <em>nominelle private Gesamtvermögen</em> um den Betrag der aufgenommenen Schulden erhöht. Selbstverständlich steht dem nominell gestiegenen Privatvermögen eine entsprechend höhere Verbindlichkeit auf Seite des Staats entgegen.</p>
<p><a href="https://noctulog.net/images/aufnahme_staatsschulden.svg" data-featherlight="image"><img src="https://noctulog.net/images/aufnahme_staatsschulden.svg" alt="Aufnahme von Staatsschulden beim Privatsektor"></a></p>
<p>Aufgrund dieses Effekts <em>kann</em> die Aufnahme von Staatsschulden zur Finanzierung neuer Ausgaben inflationäre Konsequenzen haben – abhängig davon, ob durch die neue Ausgabenverteilung entsprechend mehr produziert wird und damit die neu in Umlauf gebrachten Vermögenswerte in der Realwirtschaft abgedeckt wird.<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-8-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-8" class="simple-footnote" title="Grundsätzlich kann natürlich auch eine gänzlich durch Steuereinnahmen gegenfinanzierte Ausgabe inflationäre Effekte haben, wenn die Steuererhöhung sich derart negativ auf die Produktion auswirkt, dass die neuen Ausgaben dies nicht kompensieren.">8</a></sup> Es ist wichtig zu betonen, dass das bloße Ausmaß des Defizits (auch in Relation zum <span class="caps">BIP</span>) prinzipiell nichts über das Maß der inflationären Konsequenzen aussagt.<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-9-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-9" class="simple-footnote" title="Diese Erkenntnis ist einleuchtend und auch nicht besonders neu, weil sie nach Erfahrungen der Großen Depression und der Kriegswirtschaft von Vertretern der „functional finance“ wie Abba Lerner einleuchtend dargelegt wurde; sie rückte aber erst durch die MMT wieder ins Rampenlicht.">9</a></sup></p>
<p>Darüber hinaus wird <em>tendenziell</em> der Zinssatz für Sparprodukte steigen, weil die staatlichen Anleihen mit anderen Schuldscheinen und Einlagen bei Banken konkurrieren; wie ausgeprägt dieser Effekt ist, hängt stark vom Gewicht der neu aufgenommenen Staatsschulden im Gesamtmarkt für Sparprodukte, von der wirtschaftlichen Lage und der Art der Ausgaben ab.<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-10-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-10" class="simple-footnote" title="Das Phänomen der Verdrängung privater Investitionen durch staatliche Ausgaben wird „crowding out“ genannt. In einigen wirtschaftlichen Situationen (z. B. in einer Depression) oder bei gezielten staatlichen Ausgaben in Bereichen mit einem Investitionsrückstau (z. B. bei Infrastruktur, Bildung etc.) kann es jedoch zu höherer Nachfrage und höheren Spareinlagen bzw. Produktivitätssteigerungen kommen, die Investitionen profitabler machen und dem höheren Zinsniveau entgegenwirken – etwas, das Chartalisten, (Neo)Keynesianer und MMT-Proponenten besonders hervorheben und „crowding in“ nennen.">10</a></sup> Höhere Zinsen haben tendenziell inflationshemmende Auswirkungen, weil kreditfinanzierte Produktionssteigerung beschränkt wird.</p>
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<p>Um neue Ausgaben zu finanzieren nimmt ein Staat traditionell entweder zusätzliche Steuern ein, was zu keiner Änderung der Summe der Privatvermögenswerte führt, oder nimmt Schulden auf, wodurch das nominelle Vermögen des Privatsektors um den Betrag der Schulden steigt. Umgekehrt führt eine Rückzahlung zu einer Verringerung des nominellen Privatvermögens.</p>
</blockquote>
<p>Die Hypothese, nach der der Privatsektor bereits die <em>spätere Rückzahlung</em> der Schulden – die grundsätzlich durch höhere Steuern erfolgen müsste – berücksichtige und dadurch die makroökonomischen Effekte der nominellen Vermögenserhöhung kompensiere („Ricardo-Barro-Effekt“) lässt zwei Faktoren außer Acht. Erstens, dass der Staat die Schulden in Fiatwährung<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-11-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-11" class="simple-footnote" title="Selbst Schulden in Fremdwährung werden nicht immer – um nicht zu sagen oft nicht – gänzlich zurückgezahlt. Die Konsequenzen einer derartigen Entschuldung können jedoch – gerade wenn sie nicht einvernehmlich umgesetzt wird – die internationalen Beziehungen schwerwiegend belasten, wohingegen Schulden in eigener Währung, selbst wenn sie von Ausländern gehalten werden, zu keinen derartigen Schwierigkeiten führen können.">11</a></sup> beliebig verlängern kann und gänzlich unklar ist, <em>ob</em> und <em>wann</em> eine Rückzahlung vorgenommen wird<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-12-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-12" class="simple-footnote" title="Deshalb ist es auch eine falsche Analogie und ein Missverständnis des Staats als mikroökonomischer Akteur, wenn behauptet wird, dass Staatsschulden „von unseren Kindern“ zurückgezahlt würden. Sie können auch von unseren Enkelkindern, deren Enkelkindern (oder, wie wir in den nächsten Abschnitten sehen werden, überhaupt nicht!) zurückgezahlt werden.">12</a></sup> und zweitens, dass selbst bei einer Rückzahlung durch eine Steuererhöhung bis zuletzt unbestimmt bleibt, <em>wer</em> für die Schuldrückzahlung aufkommt.</p>
<p><a href="https://noctulog.net/images/rueckzahlung_staatsschulden.svg" data-featherlight="image"><img src="https://noctulog.net/images/rueckzahlung_staatsschulden.png" alt="Rückzahlung von Staatsschulden"></a></p>
<p>In einer Wirtschaft, in denen ein Staat regelmäßig Schulden aufnimmt, ist es für jeden Akteur rational, so zu handeln, als wäre er von einer Schuldrückzahlung nicht betroffen, zumindest solange es keine stichhaltigen Indikationen für eine bald bevorstehende Steuererhöhung <em>für diesen Akteur</em> gibt. </p>
<h2>Staatsschulden <span class="caps">II</span>: Geldschöpfung</h2>
<p>Zusätzlich zu den Optionen, die im letzten Abschnitt besprochen wurden, hat ein Staat grundsätzlich auch die Möglichkeit, einen Kredit in Eigenwährung <em>direkt</em> bei der Zentralbank aufzunehmen, wie es etwa auch Banken tun können. Diese Option wird <em>momentan</em> kaum verwendet, ist aber historisch durchaus erprobt. In den <span class="caps">USA</span> war dies <a href="https://www.newyorkfed.org/research/staff_reports/sr684.html">bis 1935 sowie zwischen 1942 und 1981 der Fall</a>, in Kanada von <a href="https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/1468-4446.12278">1930 bis 1975</a> und in Frankreich <a href="https://www.banque-france.fr/evenement/la-loi-de-1973-sur-la-banque-de-france-la-limitation-des-avances-au-tresor">bis 1993</a>. Leicht abgewandelte Varianten wie der direkte Kauf von Staatsanleihen durch die Zentralbank wurden von der <a href="https://www.bankofengland.co.uk/news/2020/april/hmt-and-boe-announce-temporary-extension-to-ways-and-means-facility">Bank of England</a>, der polnischen Zentralbank und der <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-04-21/debt-monetization-is-creeping-closer-by-the-day-in-new-zealand">Reserve Bank of New Zealand</a> im Rahmen der Corona-Pandemie angekündigt. </p>
<p>Dennoch gilt diese Art der staatlichen Verschuldung – über die berüchtigte „Notenpresse“ – für viele als zutiefst verwerflich. Bevor ich auf die Sinnhaftigkeit dieser Einschätzung eingehe, möchte ich zunächst darstellen, <em>wie</em> monetäre Finanzierung des Staatshaushalts funktioniert und wo überhaupt der volkswirtschaftliche Unterschied zur Aufnahme von Staatsschulden liegt.</p>
<p>Nimmt ein Staat Schulden direkt bei der Zentralbank auf, bedeutet dies, dass sie dem Staat eine gewisse Summe Zentralbankgeld im Gegenzug zu Schuldscheinen zur Verfügung stellt. Diese Geldschöpfung „verlängert“ die Bilanz der Zentralbank.</p>
<p><a href="https://noctulog.net/images/monetaere_finanzierung.svg" data-featherlight="image"><img src="https://noctulog.net/images/monetaere_finanzierung.png" alt="Monetäre Finanzierung des Staatshaushalts"></a></p>
<p>Der Unterschied für die Volkswirtschaft ist also einfach, wie aus der Grafik ersichtlich, dass monetäre Finanzierung nominell zusätzliche <em>zinsfreie</em> Vermögenswerte (Zentralbankgeld) schafft; die Aufnahme von Schulden auf dem Privatmarkt hingegen <em>zinsbringende</em> Vermögenswerte (Schuldscheine). Der inflationäre Effekt der monetären Finanzierung kann deshalb ausgeprägter sein, weil monetäre Finanzierung im Gegensatz zur Schuldaufnahme den allgemeinen Zinssatz nicht erhöht, sondern eventuell drückt. In einer Situation wie der jetzigen, in welcher der Zinssatz von Staatsanleihen vernachlässigbar ist, wird es hingegen kaum makroökonomische Unterschiede geben.</p>
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<p>Wird der Staatshaushalts durch Geldschöpfung statt durch Schulden ausgeglichen, bestehen die neu geschaffenen privaten Vermögenswerte aus Zentralbankgeld und nicht aus zinsbringenden Anleihen. Im Gegensatz zur Aufnahme von Schulden im Privatsektor drückt dieser Prozess das Zinsniveau; der Effekt ist umso kleiner, je geringer die Zinsen auf Staatsanleihen sind. </p>
</blockquote>
<p>Es kann durch den gesunkenen Zinssatz in diesem Fall auch zu einer überproportionalen Preissteigerung bei beschränkt verfügbaren Vermögenswerten (Immobilien, Kunst, Kryptowährungen etc.) kommen, weil Personen mit einer hohen Sparquote kaum gewinnbringende Anlagen finden. </p>
<h2>Staatsschulden <span class="caps">III</span>: Neutralisierung und Monetarisierung</h2>
<p>An diesem Punkt ist es interessant festzustellen, dass die Zentralbank die von ihr erworbenen Staatsschulden jederzeit am Privatmarkt verkaufen, also Zentralbankgeld vernichten und dafür Schuldscheine in Umlauf bringen könnte. Der Effekt auf die Volkswirtschaft ist derselbe, wie wenn der Staat (zeitverzögert, zum Zeitpunkt des Verkaufs durch die Zentralbank) am privaten Anleihenmarkt Schulden aufgenommen hätte. </p>
<p>Umgekehrt kann eine Zentralbank auch jederzeit vom Privatsektor staatliche Schuldscheine kaufen und im Gegenzug Zentralbankgeld in Umlauf bringen. <em>Buchhalterisch</em> und <em>makroökonomisch</em><sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-13-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-13" class="simple-footnote" title="Bis auf sekundäre psychologische Effekte, wenn durch direkte monetäre Finanzierung etwa das Vertrauen in die Währung leidet. Ich komme am Ende des Aufsatzes zu diesem wesentlichen Punkt.">13</a></sup> gibt es keinen Unterschied zwischen einer Zentralbank, die Anleihen auf dem Sekundärmarkt kauft (<em>quantiative easing</em>) und einer Zentralbank, die das Finanzministerium im selben Ausmaß direkt finanziert.<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-14-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-14" class="simple-footnote" title="Beim Kauf auf dem Sekundärmarkt wird eine zinstragende Anleihe mit unverzinstem Zentralbankgeld ersetzt, was die Zinsen drückt. Der Effekt ist wieder umso geringer, je niedriger die Verzinsung der Staatsanleihen ist.">14</a></sup> Der Ankauf von Anleihen am Sekundärmarkt ist eine zeitverzögerte Notenpresse!</p>
<p><a href="https://noctulog.net/images/neutralisierung_staatsschulden.svg" data-featherlight="image"><img src="https://noctulog.net/images/neutralisierung_staatsschulden.png" alt="Neutralisierung von Staatsschulden"></a></p>
<p>Dass der Ankauf von Staatsanleihen durch eine Zentralbank (in einem Niedrigzinsumfeld) keine unmittelbaren volkswirtschaftlichen Konsequenzen hat, hat sich empirisch vielfach gezeigt. Seit 2011 haben die <span class="caps">EZB</span>, die BoE, die Fed – und in einem noch größeren Ausmaß die Japanische Zentralbank – <a href="https://www.suerf.org/policynotes/8431/the-rise-of-central-banks-as-sovereign-debt-holders-implications-for-investor-bases">Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt gekauft</a>. Nach einem weiteren Ankaufprogramm aufgrund der Corona-Pandemie waren 2020 ca. 25% der Staatsschulden der meisten europäischen Länder von Zentralbanken gehalten, in den <span class="caps">USA</span> 22%, in Japan sogar 43%, was die untenstehende Abbildung<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-15-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-15" class="simple-footnote" title="Der gesamte Artikel von Christophe Blot und Paul Hubert: Public debt: Central banks to the rescue? ist sehr zu empfehlen.">15</a></sup> zeigt: Trotz der massiven Kaufprogramme waren in keinem der Länder inflationäre Auswirkungen zu bemerken<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-16-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-16" class="simple-footnote" title="Was in Japan eigentlich die beabsichtigt gewesen wäre.">16</a></sup>; die Zinsen wurden aufgrund ihres ohnehin niedrigen Niveaus auch nicht signifikant beeinflusst.</p>
<p><a href="https://noctulog.net/images/anteil_staatsschulden_zentralbanken_2015-2020.jpg" data-featherlight="image"><img src="https://noctulog.net/images/anteil_staatsschulden_zentralbanken_2015-2020.jpg" alt="Anteil der Staatsschulden, die von Zentralbanken gehalten werden (von Blot und Hubert 2021)"></a></p>
<p>Wenn der Staat Schulden bei der Zentralbank aufnimmt oder diese später zur Zentralbank gekommen sind, sind sie <em>neutralisiert</em>: Zinszahlungen aus dem Staatshaushalt an die Zentralbank kehren über die Gewinnausschüttung der Zentralbank wieder in das Budget zurück<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-17-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-17" class="simple-footnote" title="Fast alle modernen Nationalbanken lassen ihre Gewinne vollständig in den Staatshaushalt fließen.">17</a></sup> (um dies grafisch zu verdeutlichen, sind Staatshaushalt und Zentralbank in den Grafiken blau eingefärbt). Ganz gleich wie hoch diese Schulden und ihre Zinslast nominell sein mag – sie wird das Budget nicht belasten.<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-18-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-18" class="simple-footnote" title="Etwas komplizierter wird es natürlich, wenn ein Zentralbankenverbund wie die EZB Staatsschulden ankauft, wenn die Verteilung der Staatsschulden nicht den Anteilen der Staaten am Zentralbankenverbund entspricht. In diesem Fall gibt es einen Zahlungsfluss vom Staat, dessen Schuldscheine sich überproportional zu seinem Anteil in der Bilanz der EZB befinden, an die anderen. In der Praxis sind diese Unterschiede in der EU eher gering.">18</a></sup> </p>
<p><a href="https://noctulog.net/images/monetarisierung_staatsschulden.svg" data-featherlight="image"><img src="https://noctulog.net/images/monetarisierung_staatsschulden.png" alt="Monetarisierung von Staatsschulden"></a></p>
<p>Ein Schritt über die Neutralisierung der Staatsschulden hinaus ist die <em>Monetarisierung</em>, mit der die Staatsschulden von der Zentralbank erlassen werden. Dieser Prozess (mit einer entsprechenden Reduktion des Eigenkapitals, die für eine Zentralbank <a href="https://blogs.faz.net/fazit/2015/04/05/zwoelf-jahre-lang-insolvent-und-trotzdem-quietschfidel-was-bedeuten-verluste-fuer-zentralbanken-1-5501/">keinerlei Konsequenzen hat</a>) ist rein buchhalterischer Natur und hat keine direkten Auswirkungen auf den Privatsektor. Eigentlich bedarf es dieser Operation auch gar nicht: Die Selbstverpflichtung, die Staatsanleihen ewig zu halten und zu verlängern („roll over debt“) ist zu einem Schuldenerlass vollkommen äquivalent, auch wenn die Schuldscheine dann <em>formal</em> weiter existieren und in den Bilanzen aufscheinen. </p>
<blockquote>
<p>Die Neutralisierung von Staatsschulden – der Kauf von Staatsanleihen durch die Zentralbank – hat keine Auswirkungen auf die nominellen Vermögenswerte im Privatsektor und führt unmittelbar zu keinem Inflationsdruck, was in den letzten Jahren auch empirisch zu beobachten war. Das Zinsniveau wird gedrückt, jedoch umso weniger, desto geringer Staatsanleihen verzinst sind. Die vollständige Monetarisierung von Staatsschulden (Schuldenerlass durch die Zentralbank) hat überhaupt keinen (direkten) makroökonomischen Effekt.</p>
</blockquote>
<h2>Zwischenfazit</h2>
<p>Fassen wir zum Überblick<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-19-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-19" class="simple-footnote" title="Selbstverständlich beruht diese Zusammenfassung auf verschiedene Vereinfachungen und könnte durch quantitative Modelle wesentlich erweitert werden; dennoch ist sie meines Erachtens ausreichend, um die wichtigsten Effekte zu erklären.">19</a></sup> die direkten volkswirtschaftlichen Konsequenzen der unterschiedlichen Formen der Finanzierung des Staatshaushalts und der Umwandlungen von Staatsschulden grafisch zusammen; insbesondere ihre Auswirkungen auf nominelle Vermögenswerte <span class="math">\(V\)</span>, Inflation <span class="math">\(I\)</span> und Zinsniveau <span class="math">\(Z\)</span>. </p>
<p><a href="https://noctulog.net/images/direkte_makro_effekte.svg" data-featherlight="image"><img src="https://noctulog.net/images/direkte_makro_effekte.png" alt="Staatsschulden – direkte makroökonomische Effekte"></a></p>
<p>In dieser Darstellung sind die bereits erwähnten Ähnlichkeiten der „privaten“ und „monetären“ Finanzierung (beide mit nomineller Vermögenssteigerung und möglicher Inflationssteigerung) sowie die limitierten Auswirkungen (vorrangig auf das Zinsniveau) der „Neutralisierung“ der Staatsschulden, also dem Kauf von Staatsanleihen durch die Zentralbank, ersichtlich. </p>
<p>Am interessantesten ist die <em>volkswirtschaftliche Bedeutungslosigkeit</em> der „Monetarisierung“, also der formalen Vernichtung von Staatsschulden durch die Zentralbank. Umso überraschender ist, dass ein solcher Schritt vielfach als Häresie betrachtet wird, als Sündenfall, der unweigerlich zu Hyperinflation führt. In den nächsten zwei Abschnitten möchte ich auf die Ursachen dieser paradoxen Einschätzung eingehen und dabei die <em>indirekte Effekte</em> einer Beteiligung der Zentralbank bei budgetären Fragen beleuchten.</p>
<h2>Indirekte Konsequenzen I: die Angst vor der Politik</h2>
<p>Es sollte so manchem Leser suspekt erscheinen, dass die Vernichtung der in einer Zentralbank geparkten Staatsschulden keine makroökonomische Konsequenzen haben solle, da Schulden – zukünftige Verpflichtungen – eine zentrale wirtschaftliche Funktion erfüllen, die durch einen plötzlichen Schuldenerlass erheblich gestört würde. Diese Bemerkung ist grundsätzlich richtig, trifft jedoch nur auf mikroökonomische Akteure zu. </p>
<p>Für einen privaten, mikroökonomischen Akteur, der – zumindest näherungsweise – mit eingeschränkten Ressourcen nach einer gewissen Maximierung des eigenen Wohlergehens operiert, bedeutet ein Kredit, dass <em>aktuelles</em> Einkommen mit <em>zukünftigem</em> Einkommen erkauft wird. Wenn ein Akteur davon ausgehen kann, dass seine Schulden nicht zurückgezahlt werden müssen, kann er sein aktuelles Einkommen steigern, ohne sein zukünftiges Einkommen zu reduzieren – die Abwägung zwischen Gegenwart und Zukunft funktioniert nicht mehr. In diesem Fall wäre es es rational, sich sofort so hoch wie möglich zu verschulden, möglichst viel zu konsumieren und Vermögenswerte anzuhäufen.</p>
<p>Es ist offensichtlich, dass dieses Verhalten wirtschaftlich problematisch wäre: Schon ein <em>einziger</em> Akteur, der sicher ist, dass er seine Schulden nicht wird zahlen müssen, bringt das gesamte System zum Kollaps, weil er durch die Ansammlung von Vermögenswerten die Preise in beliebige Höhen treibt. Weshalb trifft dieses Problem nicht auf staatliche Akteure zu, die sich unendlich verschulden können?</p>
<p>Die Antwort ist simpel: Ein Staat ist kein <em>homo oeconomicus</em> sondern folgt <em>politischen</em> Vorgaben. Er verfolgt verschiedene nicht-wirtschaftliche (Sicherheit, Rechtssicherheit, Bildung etc.) und gesamtwirtschaftliche (Wachstum, Beschäftigung, Wohlstand etc.) Ziele; er hat keinen Grund, aufgrund von Gratiskrediten das gesamte Eigentum im Staat aufzukaufen oder unendlich viel auszugeben, sondern wird aufgrund der negativen Konsequenzen auf die wirtschaftlichen Akteure, denen er verpflichtet ist, davon absehen. Wie auch die Zentralbank ist er<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-20-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-20" class="simple-footnote" title="Die Zentralbank hat jederzeit die Möglichkeit, das gesamte Vermögen im Land aufzukaufen. Wäre sie ein mikroökonomischer Akteur, etwa eine privilegierte private Bank, müsste sie das tun.">20</a></sup> ein <em>makroökonomischer Lenkungsakteur</em>.</p>
<p>Für einen Staat, der politische und volkswirtschaftliche Ziele verfolgt, sind das eigene Einkommen, Vermögen und Schulden nicht relevant, außer sie beschneiden <em>über Umwege</em> die Möglichkeit zur Verfolgung der eigenen Politik. Der Unterschied zwischen einer formal immensen Verschuldung bei der Zentralbank und einem Erlass dieser Schulden ändert die Erwartungshaltung des Staats nicht, weil der Prozess der Monetarisierung keine unmittelbaren<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-21-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-21" class="simple-footnote" title="Zu den mittelbaren Konsequenzen komme ich, wie schon angekündigt, im nächsten Abschnitt.">21</a></sup> gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen hat. Ein Schuldenerlass durch die Zentralbank ist deshalb <em>nicht</em> mit denselben problematischen Auswirkungen wie ein Schuldenerlass für Privatpersonen oder Firmen verbunden. </p>
<p>Nun müsste die aufmerksame Kritikerin mir entgegnen, dass es sehr wohl ein <em>politisches Ziel</em> sein kann, einen ausgeglichenen Haushalt anzustreben oder eine gewisse Verschuldung nicht zu überschreiten. Dies ist eine zutreffende, durchaus bedeutende Erkenntnis. Wenn ein solches Ziel besteht, kann ein Schuldenerlass tatsächlich zu einer Änderung der Staatsausgaben führen, hätte also reale volkswirtschaftliche Konsequenzen. Besteht etwa ein „Defizit-“ oder „Schuldenlimit“ kann sich das Verhalten des Staats durch eine Monetarisierung eines großen Teils seiner Schulden tatsächlich verändern. </p>
<p>Doch macht es in einer mit Fiatgeld funktionierenden Wirtschaft <em>a priori</em> keinen Sinn, sich derartige Einschränkungen zu verordnen und den Staatshaushalt wie ein Firmen- oder Familienbudget zu führen. Das Argument gegen die Monetarisierung von Schulden ist also <em>zirkulär</em>, weil es die Sinnhaftigkeit der künstlichen mikroökonomischen Beschränkungen voraussetzt beziehungsweise selbst schafft. Nur wenn der Staat starre budgetäre Ziele verfolgt, sind Änderungen in seiner Schuldenlast für seinen budgetären Spielraum (und damit indirekt auch volkswirtschaftlich) relevant. Tut er dies nicht und sieht lediglich auf makroökonomische Kenngrößen, hat die Monetarisierung seiner Schulden keine Auswirkung auf sein budgetäres Verhalten. Eine solche Zielsetzung hat Abba Lerner unter dem Schlagwort <em>functional finance</em> zusammengefasst:</p>
<blockquote>
<p>Functional Finance rejects completely the traditional doctrines of “sound finance” and the principle of trying to balance the budget over a solar year or any other arbitrary period. In their place it prescribes: first, the adjustment of total spending (by everybody in the economy, including the government) in order to eliminate both unemployment and inflation, using government spending when total spending is too low and taxation when total spending is too high; second, the adjustment of public holdings of money and of government bonds, by government borrowing or debt repayment, in order to achieve the rate of interest which results in the most desirable level of investment; and, third, the printing, hoarding or destruction of money as needed for carrying out the first two parts of the program. (<a href="http://www.levyinstitute.org/pubs/wp287.pdf">Abba Lerner (1943)</a>) </p>
</blockquote>
<p>Die konkreten volkswirtschaftlichen Ziele, die Lerner vorgibt, können sicherlich hinterfragt und adaptiert werden, aber seine Beobachtung, dass nur <em>reale Kenngrößen</em> den Staatshaushalt beeinflussen sollen, ist eine zentrale Erkenntnis, die auch von der <span class="caps">MMT</span> aufgegriffen wird. Ist der Haushalt des Staats allein an volkswirtschaftlichen Kenngrößen ausgerichtet, wird seine „Schuldenlast“ auch niemals ein Problem werden, weil das Defizit immer einen gesamtwirtschaftlichen Zweck hat und keine realen Ungleichgewichte produziert.</p>
<p>Die Angst vor der Monetarisierung von Schulden und die parallele Furcht vor der „Überschuldung“ des Staats bauen also auf dem Missverständnis auf, dass der Staat letztlich wie eine Familie oder ein Unternehmen haushalten <em>müsse</em> – eine Ansicht, die insbesondere im deutschsprachigen Raum weit verbreitet ist wird und wohl auf einer diffusen <a href="https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/ecpo.12182">Urangst vor einer Hyperinflation</a> wie jener von 1923 beruht.<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-22-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-22" class="simple-footnote" title="Obwohl diese nur zu einem geringen Grad mit budgetärer Sorglosigkeit und viel mehr mit einem schwierigen Übergang zwischen einer Kriegswirtschaft und einer Friedenswirtschaft zu tun hat, verbunden mit einer hohen Verschuldung bzw. Reparationszahlungen in Fremdwährungen und der spezifischen Episode der Besetzung der Ruhr.">22</a></sup></p>
<p>Es gibt aber auch eine andere, nachvollziehbare Begründung, Monetarisierung von Staatsschulden zu ächten – im vollen Verständnis, dass sie kaum <em>direkte</em> volkswirtschaftliche Konsequenzen hat. Es besteht jedoch auch die Sorge vor <em>indirekten</em> makroökonomischen Konsequenzen<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-23-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-23" class="simple-footnote" title="Eine besonders skeptische Leserin könnte einwenden, dass die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Konsequenzen künstlich sei. Dies ist jedoch nicht der Fall, weil sich beide Formen klar definieren lassen: direkte Konsequenzen sind jene, die eintreten, ohne dass die wirtschaftlichen Akteure über die Operation Bescheid wissen, indirekte hingegen welche, die nur aufgrund dieses Wissens auftreten. Direkte Effekte sind gewissermaßen mechanisch oder automatisch, indirekte hingegen kontingent; sie hängen von der vorherrschenden Erwartungshaltung und Ideologie ab und sind streng genommen nicht wirtschaftlicher, sondern soziologischer oder massenpsychologischer Natur.">23</a></sup> der Erkenntnis der Möglichkeit von Monetarisierung, weil Politikern und Wählern nicht zugetraut wird, mit ihr <em>umzugehen</em>. Wenn die Angst vor hoher Verschuldung durch die Möglichkeit der einfachen Vernichtung der Schulden wegfällt, so das Argument, würde der Staat letztlich unkontrolliert Geld ausgeben, nicht mehr auf volkswirtschaftliche Kenngrößen achten und damit letztlich seine makroökonomische Steuerungsfunktion aufgeben. Die Fiktion des Staats als mikroökonomischer Akteur wird in dieser paternalistischen Sichtweise bewusst aufrecht erhalten, um die gesamtwirtschaftliche Stabilität beizubehalten. <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_A._Samuelson">Paul Samuelson</a> hat den Begriff des „notwendigen Aberglaubens“ dafür verwendet:</p>
<blockquote>
<p>I think there is an element of truth in the view that the superstition that the budget must be balanced at all times [is necessary]. Once it is debunked [that] takes away one of the bulwarks that every society must have against expenditure out of control. There must be discipline in the allocation of resources or you will have anarchistic chaos and inefficiency. <a href="https://sms.cam.ac.uk/media/761745">Paul Samuelson (1995)</a></p>
</blockquote>
<p>Diese Begründung ist zwar rational, aber pervers, weil sie Bürger und Politiker infantilisiert. Sie geht davon aus, dass die Mehrheit Menschen ohne Furcht vor Überschuldung nicht in der Lage sei, die tatsächlichen makroökonomischen Grenzen, die dem Staatshaushalt gesetzt werden müssen (etwa Inflation), zu verstehen und damit umzugehen. </p>
<p>Eine solche Verschleierungstaktik ist natürlich keine nachhaltige Lösung, weil die Realität irgendwann anfängt durchzuschimmern. Es erscheint mir deshalb nicht sinnvoll, weiterhin den Aberglauben zu propagieren, dass Staatsschulden wie Privatschulden zurückgezahlt werden müssten. Denn wenn die Bevölkerung erkennt, dass diese Vorstellung absurd ist, sie aber parallel dazu nicht informiert wird, welche Funktion Steuern, Ausgaben und Schulden tatsächlich haben, besteht die Gefahr, einen Mythos mit einem anderen, womöglich noch schädlicheren, zu ersetzen – etwa dass Reichtum durch ein beliebig hohes Budgetdefizit hergestellt werden könnte. Auf Ignoranz zu setzen ist vielleicht eine Taktik, aber keine Strategie.</p>
<blockquote>
<p>Die Beschneidung der budgetären Freiheit des Staats basiert entweder (i) auf einem Missverständnis (der Staat müsse wie ein mikroökonomischer Akteur haushalten) oder (ii) auf einem tiefen, paternalistischen Misstrauen gegenüber einer demokratisch legitimierten Budgetpolitik (Politikern und Wählern sei nicht zu trauen, wenn der Aberglaube an das ausgeglichene Budget fällt).</p>
</blockquote>
<p>Eine weitere Kuriosität ist die „Unabhängigkeit von Zentralbanken“. Diese Unabhängigkeit ist ebenfalls eine Konsequenz des Misstrauens in die Politik; sie dient dazu, kurzfristige geldpolitische Entscheidungen zu verhindern, die volkswirtschaftlich längerfristig destabilisierend wirken können (etwa die Bildung von Vermögenspreisblasen). Selbstverständlich ist diese Unabhängigkeit nicht wirklich solide, weil das Mandat einer Zentralbank <em>gesetzlich</em> geändert werden kann; unabhängig davon ist jede Zentralbank in letzter Instanz dazu gezwungen, einen Staatsbankrott in Eigenwährung zu verhindern, um einen Kollaps der Währung und der Wirtschaft zu vermeiden.<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-24-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-24" class="simple-footnote" title="Eine Zahlungsunfähigkeit des Staates würde riesige Vermögenswerte wertlos machen und unweigerlich zu einem Bankenkollaps führen. Der Staat ist – weit mehr als jede Firma – „too big to fail“.">24</a></sup> Eine Zentralbank wird – <em>ganz gleich wie ihr Mandat ausformuliert ist</em> – mit der Fiskalpolitik „kooperieren“, und den Staatshaushalt entweder direkt finanzieren oder Staatsschulden neutralisieren, wenn die Gefahr einer untragbaren Zinslast für den Staat besteht.<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-25-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-25" class="simple-footnote" title="Selbst die EZB, die keine traditionelle nationale Zentralbank ist, hat im Hinblick auf die desaströsen Konsequenzen auf den gesamten Euroraum die Schulden mehrerer Staaten soweit neutralisiert, dass sie zahlungsfähig bleiben.">25</a></sup> Alle Versuche, den Staat als mikroökonomischen Akteur darzustellen und volkswirtschaftliche Funktionen an unpolitische Zentralbanken auszulagern, laufen an diesem Punkt ins Leere, weil der Staat seine einzigartigen makroökonomische Funktionen wahrnehmen können muss und deshalb nicht zahlungsunfähig werden darf. Die Trennung zwischen Geld- und Fiskalpolitik wird an einem gewissen Punkt der Verschuldung zur Fiktion.</p>
<h2>Indirekte Konsequenzen <span class="caps">II</span>: Massenpsychologie und selbsterfüllende Prophezeiungen</h2>
<p>Fassen wir kurz zusammen – die Neutralisierung oder Monetarisierung von bestehenden Staatsschulden (in eigener Fiatwährung) hat kaum <em>direkte</em> volkswirtschaftliche Effekte. Die Angst davor, dass das Bewusstsein dieses Sachverhalts <em>indirekt</em> die Politik dazu verführen würde, übermäßig viel auszugeben, was zu zerstörerischen Preisanstiegen und Währungsverfall führen würde, kann tatsächlich zu einem Vertrauensverlust, Inflation und einer Wirtschaftskrise führen.</p>
<p>Die offensichtliche Lösung ist, das Volk und die politischen Akteure über diese makroökonomischen Zusammenhänge zu informieren und den „Aberglauben“ an willkürlich ausgeglichene Budgets durch ein Verständnis der tatsächlichen Konsequenzen der Staatsausgaben zu ersetzen. Dadurch würde klar, dass es volkswirtschaftliche Kenngrößen wie Inflation, Immobilienpreise oder Zinssätze sind, die das Ausmaß der Staatsausgaben vorgeben, und nicht die Höhe des Defizits oder der Staatsverschuldung. In einem sehr bescheidenen Rahmen ist dieser Aufsatz ein Beitrag zu dieser Aufklärung. </p>
<p>Dieser Prozess wurde glücklicherweise bereits im Anschluss an die Krise von 2008 eingeleitet und erreicht mittlerweile breite Bevölkerungsschichten; es ist kein Zufall, dass Joe Biden heute eine Schuldenpolitik propagiert, an die Barack Obama nicht einmal zu träumen gewagt hätte. Dennoch wird diese ideologische Wende Jahre, vielleicht Jahrzehnte in Anspruch nehmen; gerade Europa läuft Gefahr, durch seine <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Ordoliberalismus">ideologische</a> und <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Stabilit%C3%A4ts-_und_Wachstumspakt">institutionelle</a> Trägheit weiter in der Urangst vor den Staatsschulden verhaftet zu bleiben, in einer Zeit, in der verschiedene Krisen und ein langer Investitionsmangel gerade das Gegenteil verlangen.</p>
<p>Es wäre also durchaus verlockend, diesen langwierigen Prozess zu umgehen. Am einfachsten würde dies dadurch erreicht, dass unabhängige Zentralbanken einen Großteil der Staatsanleihen aufkaufen und für nichtig erklären. Dadurch wären mit einem Schlag Schuldengrenzen ausgehebelt und gezeigt, dass diese Grenzen willkürlich sind. Der Aberglaube würde rasch zusammenbrechen.</p>
<p>Doch dieser Vorschlag birgt auch große Gefahren. Wenn ein großer Teil der wirtschaftlichen Akteure nämlich fest davon überzeugt ist, dass eine derartige Monetarisierung der Schulden furchtbare (direkte und indirekte) inflationäre Effekte hat, dann treten diese Effekte auch ein, weil Inflation im Grunde eine selbsterfüllende Prophezeiung ist.<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-26-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-26" class="simple-footnote" title="Dies ist nicht mit allen ökonomischen Erwartungshaltungen so. Eine Immobilienblase kann sich etwa eine Zeit lang entwickeln, muss aber irgendwann zusammenbrechen. Inflation besteht hingegen in einem Fiatsystem, solange die Erwartung der Inflation besteht.">26</a></sup> Die bedeutenden Beispiele Hyperinflationen wurden unterschiedlich <em>ausgelöst</em> (teilweise durch exogene Schocks, teilweise auch durch exzessive Staatsausgaben), haben sich aber immer weit über diesen Auslöser hinaus entwickelt, und als <a href="https://www.coppolacomment.com/2019/03/inflation-is-always-and-everywhere.html">reines psychologisches Massenphänomen</a> weiterentwickelt.<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-27-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-27" class="simple-footnote" title=" Folgendes Zitat beschreibt die Auswirkungen der bloßen Erwartungshaltungen ökonomischer Akteure sehr gut: „If not in the right hands, a shift in central bank objectives away from inflation targeting towards funding the government could cause inflation expectations to become unanchored, drive up bond yields and result in immense destruction to the economy.“">27</a></sup></p>
<p><a href="https://noctulog.net/images/indirekte_makro_effekte.svg" data-featherlight="image"><img src="https://noctulog.net/images/indirekte_makro_effekte.png" alt="Staatsschulden – indirekte, psychologische makroökonomische Effekte"></a></p>
<p>Der Verlust in das Vertrauen der Währung, der mit einem Schuldenerlass einhergehen könnte, ist in einer Welt, die (noch) noch an die Bedeutung von Staatsschulden glaubt, eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Die <span class="caps">USA</span> wären wohl der einzige Staat, der dies mehr oder weniger unbeschadet überstehen könnte, weil der internationale Dollarbedarf den Vertrauensschock lang genug konterkarieren könnte, bis klar wird, dass die Monetarisierung der Schulden keine direkten volkswirtschaftlichen Auswirkungen hat. </p>
<blockquote>
<p>Die Gefahr einer Monetarisierung der Staatsschulden, also eines Ankaufs durch die Zentralbank mit anschließendem Schuldenerlass, liegt nicht in den direkten inflationären Effekten, sondern darin, dass viele ökonomische Akteure <em>daran glauben</em>, dass die Währung dadurch ihren Wert verlieren wird. Die tatsächliche, indirekte Gefahr ist, dass Inflation im Kern eine selbsterfüllende Prophezeiung ist.</p>
</blockquote>
<p>Deshalb erscheint es mir sinnvoller, die aktuelle Politik der <em>Neutralisierung</em> der Staatsschulden im Rahmen des Mandats der Zentralbanken weiterzuführen, da diese mittlerweile bekannt ist und für keinen Vertrauensverlust in Zentralbank, Währung und Staat mehr sorgt. Durch eine <em>schrittweise</em> Erhöhung der von der Zentralbank gehaltenen Staatsschulden würde auch klar, dass das Ausmaß – 10%, 100% oder 1000% des <span class="caps">BIP</span> – grundsätzlich irrelevant ist und eine Monetarisierung an sich keine volkswirtschaftlichen Probleme schafft, aber eben auch keine löst.<sup id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-28-back"><a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-28" class="simple-footnote" title="Die Monetarisierung von Staatsschulden zielt auf ein Scheinproblem ab, das nur aufgrund der Fehleinschätzung der Rolle und Zielsetzung des Staats entsteht – jedoch mit einer Methode, die für Verfechter dieser Einschätzung eine Häresie ist deshalb mit einem großen Risiko verbunden ist.">28</a></sup> Japan ist den anderen entwickelten Volkswirtschaften diesbezüglich einen Schritt voraus und hat durch die lange Erfahrung mit der Bedeutungslosigkeit von – hierorts noch als „untragbar“ betrachteten – Schulden bereits eine Wende im Verständnis von Staatsschulden erreicht. Nun muss nur noch die Erkenntnis folgen, dass das japanische Beispiel keine magische Anomalie darstellt, sondern reproduziert werden kann. </p>
<p>Wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, wird die Zentralbank letztlich mit der Budgetpolitik kooperieren und die Zinslast erträglich halten, ganz gleich ob durch Neutralisierung (mit nominell hohen Schulden) oder Monetarisierung (mit nominell niedrigeren Schulden). Eine Monetarisierung erscheint mir jedoch – weil sie von vielen für gefährlich angesehen wird – die gefährlichere Variante.</p>
<h2>Zusammenfassung</h2>
<p>Zum Abschluss möchte ich die Argumente diese Artikels rekapitulieren:</p>
<ol>
<li>Die Zentralbank und der Staat erfüllen unterschiedliche volkswirtschaftliche Steuerungsfunktionen; sie können beide nicht als mikroökonomischen Akteure verstanden werden. </li>
<li>Ein nicht ausgeglichener Staatshaushalt erhöht <em>nominelle</em> Vermögenswerte: Verzinste Staatsanleihen werden bei der Ausgabe von Staatsanleihen am Privatmarkt geschaffen und unverzinstes Zentralbankgeld bei der direkten Finanzierung durch die Zentralbank. Der potentielle inflationäre Effekt dieses Defizits hängt von der konkreten Ausgestaltung der Ausgaben und der ökonomischen Situation ab.</li>
<li>In einem Niedrigzinsumfeld gibt es kaum volkswirtschaftliche Unterschiede zwischen monetärer und nicht-monetärer Finanzierung des Staatshaushalts. Deshalb ist die derzeit allgegenwärtige <em>Neutralisierung</em> von Staatsschulden – der Aufkauf von Anleihen durch die Zentralbank am Sekundärmarkt – ohne Auswirkungen geblieben.</li>
<li>Jede Zentralbank, auch eine gänzlich von der Politik unabhängige, wird letztlich mit der Fiskalpolitik kooperieren und einen Staatsbankrott (in eigener Währung) vermeiden.</li>
<li>Staatsschulden „belasten“ die Zukunftsgenerationen nur, wenn diese sich <em>selbst</em> dazu verpflichten, Schulden nicht fortzuschreiben, sondern durch die Vernichtung von nominellen Vermögenswerten abzubauen. Unsere Kinder zahlen nur für unsere Staatsschulden, wenn sie sich dazu entscheiden.</li>
<li>Eine Monetarisierung (Schuldenerlass durch die Zentralbank) der bestehenden Staatsschulden hat kaum direkte makroökonomische Konsequenzen. Sie würde den Aberglauben, nach dem ein Staat langfristig ausgeglichen budgetieren muss, widerlegen.</li>
<li>Dennoch gibt es problematische <em>indirekte</em> Konsequenzen eines solchen Schritts, weil ein großer Teil der ökonomischen Angst vor inflationären Konsequenzen hat; diese Angst selbst kann Inflation, die im Kern eine selbsterfüllende Prophezeiung ist, hervorrufen. </li>
<li>Deshalb ist es nicht wünschenswert, das Tabu der „untragbaren“ Schulden abrupt zu beenden. Vielmehr ist eine Fortführung einer erprobten, schrittweisen Neutralisierung der Schulden im Rahmen des Mandats unabhängiger Zentralbanken wünschenswert.</li>
<li>An einem gewissen Punkt – an dem Japan bereits angekommen ist – wird klar werden, dass das Staatsdefizit und Staatsschulden in eigener Fiatwährung <em>keine</em> makroökonomischen Kenngrößen sind, Inflation, Wachstum und Wechselkurs hingegen schon und dass der Staatshaushalt sich an letzteren orientieren sollte, und nicht an der eigenen Buchhaltung. </li>
</ol>
<p>Ich möchte abschließend auch in Erinnerung rufen, dass sich diese Analyse auf Staaten beschränkt, die fähig sind, sich in der eigenen Fiatwährung zu verschulden. Für kleinere Staaten, Entwicklungsländer oder Währungsunionen ist die Situation weitaus komplexer. Ich werde versuchen, die Unterschiede in einem Folgeartikel herauszuarbeiten.</p>
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</script><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-1">Womit eigentlich gemeint war, dass Euro-Länder (insbesondere Griechenland, Italien, Portugal, Spanien) vor dem Staatsbankrott bewahrt würden. Die Annahme war, dass dadurch die Stabilität des Euroraums als Ganzes geschützt würde. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-2">Die Inspiration für die Auseinandersetzung lieferte die durchaus empfehlenswerte Einführung von Stephanie Kelton <em>The Deficit Myth</em>, die trotz größerer Schwächen im Detail wesentliche <a href="https://blogs.lse.ac.uk/lsereviewofbooks/2020/06/22/book-review-the-deficit-myth-modern-monetary-theory-and-the-birth-of-the-peoples-economy-by-stephanie-kelton/">Denkanstöße</a> zum Wesen von Staatsschulden in modernen Wirtschaftssystemen liefert. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-3">Dies wurde vom „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Chartalismus">chartalistischen</a>“ Ansatz von Knapp und Keynes erkannt, der interessanterweise schon von Adam Smith vorweggenommen wurde. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-4">Der Anteil an Zentralbankgeld an der Gesamtgeldmenge variiert und hat in den letzten Jahren stark zugenommen. Derzeit beträgt er in der <span class="caps">EU</span> ca. 20%. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-5">Diese Einzigartigkeit wurde in der Corona-Pandemie wieder offensichtlich. Eine Zentralbank ist nicht legitimiert, darüber zu entscheiden, wer für behördliche Schließungen wie entschädigt wird, wie Unterstützung zur Kurzarbeit ausgezahlt wird, welche Gesundheitsberufe Prämien erhalten usw. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-6">Ich verwende „Vernichtung“ von Vermögen und „Schaffung“ von Einkommen, weil diese zwei Prozesse <em>a priori</em> nicht miteinander in Relation stehen müssen, weil der Staatshaushalt, wie wir sehen werden, nicht ausgeglichen sein muss. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-7">Etwas vereinfacht: Wenn Geld den Personen genommen wird, die es nur sehr langsam ausgeben und an Personen vergeben, die es rasch ausgeben, wird die Geldmenge zwar nicht erhöht, aber die Preise von Konsumgütern tendenziell schon. Im umgekehrten Fall könnten beschränkt verfügbare Vermögenswerte, wie Immobilien, sich verteuern. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-8">Grundsätzlich kann natürlich auch eine gänzlich durch Steuereinnahmen gegenfinanzierte Ausgabe inflationäre Effekte haben, wenn die Steuererhöhung sich derart negativ auf die Produktion auswirkt, dass die neuen Ausgaben dies nicht kompensieren. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-9">Diese Erkenntnis ist einleuchtend und auch nicht besonders neu, weil sie nach Erfahrungen der Großen Depression und der Kriegswirtschaft von Vertretern der „<a href="http://www.levyinstitute.org/pubs/wp287.pdf">functional finance</a>“ wie <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Abba_P._Lerner">Abba Lerner</a> einleuchtend dargelegt wurde; sie rückte aber erst durch die <span class="caps">MMT</span> wieder ins Rampenlicht. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-10">Das Phänomen der Verdrängung privater Investitionen durch staatliche Ausgaben wird <a href="https://www.investopedia.com/terms/c/crowdingouteffect.asp">„crowding out“</a> genannt. In einigen wirtschaftlichen Situationen (z. B. in einer Depression) oder bei gezielten staatlichen Ausgaben in Bereichen mit einem Investitionsrückstau (z. B. bei Infrastruktur, Bildung etc.) kann es jedoch zu höherer Nachfrage und höheren Spareinlagen bzw. Produktivitätssteigerungen kommen, die Investitionen profitabler machen und dem höheren Zinsniveau entgegenwirken – etwas, das Chartalisten, (Neo)Keynesianer und <span class="caps">MMT</span>-Proponenten besonders hervorheben und <a href="https://www.economicshelp.org/blog/glossary/crowding-in-effect/">„crowding in“</a> nennen. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-10-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-11">Selbst Schulden in Fremdwährung werden <a href="https://www.imf.org/external/pubs/ft/wp/2012/wp12203.pdf">nicht immer</a> – um nicht zu sagen <a href="https://journalistsresource.org/wp-content/uploads/2012/12/MIT-Press_Sovereign-Defaults-and-Debt-Restructurings.pdf">oft nicht</a> – gänzlich zurückgezahlt. Die Konsequenzen einer derartigen Entschuldung können jedoch – gerade wenn sie nicht einvernehmlich umgesetzt wird – die internationalen Beziehungen schwerwiegend belasten, wohingegen Schulden in eigener Währung, selbst wenn sie von Ausländern gehalten werden, zu keinen derartigen Schwierigkeiten führen können. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-11-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-12">Deshalb ist es auch eine falsche Analogie und ein Missverständnis des Staats als mikroökonomischer Akteur, wenn behauptet wird, dass Staatsschulden „von unseren Kindern“ zurückgezahlt würden. Sie können auch von unseren Enkelkindern, deren Enkelkindern (oder, wie wir in den nächsten Abschnitten sehen werden, überhaupt nicht!) zurückgezahlt werden. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-12-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-13">Bis auf sekundäre psychologische Effekte, wenn durch direkte monetäre Finanzierung etwa das Vertrauen in die Währung leidet. Ich komme am Ende des Aufsatzes zu diesem wesentlichen Punkt. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-13-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-14">Beim Kauf auf dem Sekundärmarkt wird eine zinstragende Anleihe mit unverzinstem Zentralbankgeld ersetzt, was die Zinsen drückt. Der Effekt ist wieder umso geringer, je niedriger die Verzinsung der Staatsanleihen ist. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-14-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-15">Der gesamte Artikel von Christophe Blot und Paul Hubert: <a href="https://www.ofce.sciences-po.fr/blog/public-debt-central-banks-to-the-rescue/">Public debt: Central banks to the rescue?</a> ist sehr zu empfehlen. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-15-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-16">Was in Japan eigentlich die <a href="https://www.reuters.com/article/us-japan-economy-boj-decision-idUSKCN0V70A7">beabsichtigt gewesen wäre</a>. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-16-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-17">Fast alle modernen Nationalbanken lassen ihre Gewinne vollständig in den Staatshaushalt fließen. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-17-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-18">Etwas komplizierter wird es natürlich, wenn ein Zentralbanken<em>verbund</em> wie die <span class="caps">EZB</span> Staatsschulden ankauft, wenn die Verteilung der Staatsschulden nicht den Anteilen der Staaten am Zentralbankenverbund entspricht. In diesem Fall gibt es einen Zahlungsfluss vom Staat, dessen Schuldscheine sich überproportional zu seinem Anteil in der Bilanz der <span class="caps">EZB</span> befinden, an die anderen. In der Praxis sind diese Unterschiede in der <span class="caps">EU</span> <a href="https://www.ofce.sciences-po.fr/blog/public-debt-central-banks-to-the-rescue/">eher gering</a>. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-18-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-19">Selbstverständlich beruht diese Zusammenfassung auf verschiedene Vereinfachungen und könnte durch quantitative Modelle wesentlich erweitert werden; dennoch ist sie meines Erachtens ausreichend, um die wichtigsten Effekte zu erklären. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-19-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-20">Die Zentralbank hat jederzeit die Möglichkeit, das gesamte Vermögen im Land aufzukaufen. Wäre sie ein mikroökonomischer Akteur, etwa eine privilegierte private Bank, <em>müsste</em> sie das tun. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-20-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-21">Zu den mittelbaren Konsequenzen komme ich, wie schon angekündigt, im nächsten Abschnitt. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-21-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-22">Obwohl diese nur zu einem geringen Grad mit budgetärer Sorglosigkeit und viel mehr mit einem schwierigen Übergang zwischen einer Kriegswirtschaft und einer Friedenswirtschaft zu tun hat, verbunden mit einer hohen Verschuldung bzw. Reparationszahlungen in Fremdwährungen und der spezifischen Episode der Besetzung der Ruhr. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-22-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-23">Eine besonders skeptische Leserin könnte einwenden, dass die Unterscheidung zwischen <em>direkten</em> und <em>indirekten</em> Konsequenzen künstlich sei. Dies ist jedoch nicht der Fall, weil sich beide Formen klar definieren lassen: <em>direkte</em> Konsequenzen sind jene, die eintreten, ohne dass die wirtschaftlichen Akteure über die Operation Bescheid wissen, <em>indirekte</em> hingegen welche, die nur aufgrund dieses Wissens auftreten. Direkte Effekte sind gewissermaßen mechanisch oder automatisch, indirekte hingegen kontingent; sie hängen von der vorherrschenden Erwartungshaltung und Ideologie ab und sind streng genommen nicht <em>wirtschaftlicher</em>, sondern <em>soziologischer</em> oder <em>massenpsychologischer</em> Natur. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-23-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-24">Eine Zahlungsunfähigkeit des Staates würde riesige Vermögenswerte wertlos machen und unweigerlich zu einem Bankenkollaps führen. Der Staat ist – weit mehr als jede Firma – „<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Too_big_to_fail">too big to fail</a>“. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-24-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-25">Selbst die <span class="caps">EZB</span>, die keine traditionelle nationale Zentralbank ist, hat im Hinblick auf die desaströsen Konsequenzen auf den gesamten Euroraum die Schulden mehrerer Staaten soweit neutralisiert, dass sie zahlungsfähig bleiben. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-25-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-26">Dies ist nicht mit allen ökonomischen Erwartungshaltungen so. Eine Immobilienblase kann sich etwa eine Zeit lang entwickeln, muss aber irgendwann zusammenbrechen. Inflation besteht hingegen in einem Fiatsystem, solange die Erwartung der Inflation besteht. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-26-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-27"> Folgendes <a href="https://economics.td.com/gbl-debt-monetization">Zitat</a> beschreibt die Auswirkungen der <em>bloßen Erwartungshaltungen</em> ökonomischer Akteure sehr gut: „If not in the right hands, a shift in central bank objectives away from inflation targeting towards funding the government could cause inflation expectations to become unanchored, drive up bond yields and result in immense destruction to the economy.“ <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-27-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-28">Die Monetarisierung von Staatsschulden zielt auf ein Scheinproblem ab, das nur aufgrund der Fehleinschätzung der Rolle und Zielsetzung des Staats entsteht – jedoch mit einer Methode, die für Verfechter dieser Einschätzung eine Häresie ist deshalb mit einem großen Risiko verbunden ist. <a href="#sf-staatsschulden-aberglauben-buchhaltung-nachhaltigkeit-monetarisierung-zentralbanken-28-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Hiroshima and Nagasaki – narratives of a war crime2021-03-16T00:00:00+01:002021-03-16T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2021-03-16:/hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-en.html<p>The nuclear attacks on the mainly civilian targets of Hiroshima and Nagasaki in August 1945 are well-researched and much debated. The postwar <span class="caps">US</span> narrative is remarkable, because it openly concedes that the bombs were deliberately used to kill a large number of civilians (something usually considered to be a war crime) but justifies it in terms of military advantage and potentially lower fatalities for the <span class="caps">US</span>. In this article, I argue that this narrative is not only historically and logically flawed, but also deeply revolting, because it leads to justifying all kinds of war crimes and discarding international humanitarian law altogether. Since the two main “critical” narratives of Hiroshima and Nagasaki are plagued by biases of their own and completely miss this crucial point, I propose a principled yet not moralizing reassessment of the nuclear bombings: Hiroshima and Nagasaki were <em>understandable</em> in the context of total war, in which moral and legal standards had steadily been eroded, but they were war crimes nonetheless, and as such no longer <em>justifiable</em>. Nothing is to be lost by the <span class="caps">US</span> or the West by embracing this reality.</p><h2>Introduction</h2>
<p>On 6 August 1945, a nuclear bomb was dropped on the Japanese city of Hiroshima, killing around 70,000 civilians. Three days later, on 9 August 1945, another nuclear bomb (of a different type) was detonated over Nagasaki, claiming around 50,000 civilian lives while inflicting little military damage.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-1-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-1" class="simple-footnote" title="These are relatively conservative estimates. The real death toll is difficult to establish, given statistical issues and long-term effects of radiation.">1</a></sup> The attacks were led on cities that had hitherto been purposefully left “untouched” by the ongoing campaign of <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Air_raids_on_Japan">napalm bombings</a> of Tokyo, Nagoya, Osaka and Kobe between March and June, which killed over 200,000 civilians and left millions homeless.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-2-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-2" class="simple-footnote" title="These bombings, as well as similar ones conducted in Europe, caused significantly more civilian casualties and damage than the two nuclear bombs.">2</a></sup></p>
<p>The nuclear attacks had been prepared for months – with the explicit goal of creating carnage among civilians to achieve maximal psychological damage. How come that such barbarous acts have rarely been condemned in the Western world, when much more limited war crimes in Vietnam or Iraq were? How come that, 75 years after the fact, Americans living in peace and having nothing to fear from Japan still <a href="https://www.pewresearch.org/fact-tank/2015/08/04/70-years-after-hiroshima-opinions-have-shifted-on-use-of-atomic-bomb/">mostly support the bombings</a>? How come that the voluntary obliteration of two cities is often equated to negative effects of nuclear testing?</p>
<p>This article is an attempt to retrace, dissect and criticize the main narratives surrounding Hiroshima and Nagasaki in the West, which I believe to be extremely unsatisfactory. The stage is set with a chapter reconstructing the decisions leading to the nuclear attacks – which, we will see, were not at all seen to pose a moral dilemma, but rather considered to be a natural evolution of the war. The second chapter retraces and deconstructs the official <span class="caps">US</span> narrative, its rationalization and metamorphosis of a war crime into an act of benevolence. After an interlude, which shows the parallels with other psychological warfare campaigns, such as German terror against civilians during the Second World War, the fourth chapter unveils the fundamental issue with the justification of the nuclear bombings on Hiroshima and Nagasaki and shows that accepting it leads to disregarding the laws governing warfare altogether. In the fifth chapter, I will review the two main alternative narratives – the “revisionist“ and the “nuclear disarmament” narratives – and shed light on their shortcomings and underlying hypocrisies. I will conclude by proposing a principled and yet humble reassessment of Hiroshima and Nagasaki, in line with international law and doing away with double standards. An appendix arguing for the classification of Hiroshima and Nagasaki as war crimes from a purely legalistic perspective is attached for the interested reader.</p>
<h2>1. Genesis of a war crime</h2>
<p>Few war crimes have been prepared as thoroughly and openly as the nuclear attacks on Hiroshima and Nagasaki. The entire genesis leading to the events of August 1945 is laid out in memoirs, memoranda, reports and minutes of meetings. It offers enough material for several monographs, but the main story is strikingly simple. Using nuclear weapons on civilian targets was essentially the only option taken into consideration, by politicians, generals and (most) scientists alike. </p>
<p>The <span class="caps">US</span> nuclear programme was tasked with designing, testing and making nuclear warheads ready for battle faster than Germany. It turned out that the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Manhattan_Project">Manhattan Project</a> had no real competitor, as neither Germany nor Japan had managed to establish promising nuclear programmes. Nevertheless, by 1944, both the bomb casings and bomber designs had been developed and in early 1945, the last technical issues in the design of the two bomb types had been solved. In May, Germany surrendered, leaving only Japan as a possible target for nuclear weapons. By that time, it was completely obvious that the Japanese nuclear programme posed no danger. </p>
<p>Yet the bombs had been developed to be used; and the question was <em>how</em>, not <em>if</em>. To address this question, a “Target Committee” consisting of military and scientific representatives was established to select suitable targets on 27 April 1945. At that time, the strategy of targeting Japanese civilians with napalm bombs had already been in use for over a month, causing the most deadly bombing in human history on <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Bombing_of_Tokyo_(10_March_1945)">10 March 1945</a>, when around 100,000 civilians were killed in Tokyo. They were indiscriminate in nature and did not directly target military buildings, but were built on the premise that <em>civilian destruction out of proportion with the military objective</em> was perfectly acceptable and actually a <em>positive side-effect</em> by crushing enemy morale.</p>
<p>In line with such indiscriminate (euphemistically called “strategic“) bombings, the Target Committee limited its choice to large urban areas <em>that had previously not been bombed</em>, so that nuclear destruction would be sufficiently impressive by itself.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-3-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-3" class="simple-footnote" title="Secretary of War Stimson was “fearful that before we could get ready the Air Force might have Japan so thoroughly bombed out that the new weapon would not have a fair background to show its strength.” to which the President “laughed and said he understood.”, quoted by Kolko (1990), The Politics of War, p. 540 ">3</a></sup> These areas were “preserved” by the Air Force until August, a clear indication of their limited military value. Contrary to the fire bombings, the nuclear bombs were designed with civilian destruction and psychological terror as the <em>primary goal</em>, with military destruction being a positive <em>side effect</em>.</p>
<p>The target list was modified a number of times, the most important change being the removal of Kyoto from the list. Kyoto was spared not because of concern for the loss of life, but because Secretary of War Stimson had by chance visited and liked the city and thought destroying it would risk bringing Japan closer to the <span class="caps">USSR</span> after the war.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-4-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-4" class="simple-footnote" title="See Kelly (2012)">4</a></sup> Nagasaki was added to the list in late July and bombed because of bad weather over Kokura. The decision when and which target to drop the second bomb on was left to <a href="http://blog.nuclearsecrecy.com/2015/08/03/were-there-alternatives-to-the-atomic-bombings/">lower-ranking officers of the Tinian air base</a>.</p>
<p>In addition to the Target Committee, an “<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Interim_Committee">Interim Committee</a>” led by Robert Oppenheimer was supposed to advise the military from a scientific point of view. It <em>could</em> have been some sort of conscience of the Manhattan project. Instead, it did not even try to consider other options than the most destructive use of the weapons and bluntly recommended (perhaps in a bid to justify the Manhattan Project itself, given that there was no more competing nuclear program and that the war was about to be won):</p>
<blockquote>
<p>“[…] that the weapon be used against Japan at the earliest opportunity, that it be used without warning, and that it be used on a dual target, namely, a military installation or war plant surrounded by or adjacent to homes or other buildings most susceptible to damage.” (Notes by the Interim Committee, <a href="https://www.atomicheritage.org/key-documents/interim-committee-report-0">21 June 1945</a>)</p>
</blockquote>
<p>The military, political and scientific deciders, had long prepared to use the nuclear bombs as fast as possible and in the most “effective” way. And in the age of fire bombings, <em>effectiveness</em> was measured in lives taken and houses destroyed. A few <span class="caps">US</span> scientists around Leo Szilard saved their conscience by pointing out the numerous alternatives of using nuclear bombs in ways that would spare civilians and nonetheless elicit a massive psychological response. They were totally ignored.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-5-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-5" class="simple-footnote" title="Leo Szilard, Eugene Wigner and a number of leading scientists of the Manhattan petitioned Truman not to use the bomb, given that there was no more necessity for doing so as late as 17 July. Their convincing alternative of using the threat of nuclear weapons to end the war seems never to have reached Truman. Similar alternatives had been laid out on 11 June in the Franck report, which was only released (still censored) in 1946. One redacted sentence reads: “We fear its early unannounced use [of the nuclear bomb] might cause other nations to regard us as a nascent Germany.” (quoted from Alex Wellerstein (2012))">5</a></sup> Some other factors also clearly played a role and Stimson throughout May and June 1945 noted in his diary that using nuclear bombs would confer an advantage to the <span class="caps">US</span> against the <span class="caps">USSR</span>.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-6-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-6" class="simple-footnote" title="Cf. Sherwin (1995).">6</a></sup></p>
<p>On 16 July 1945, the first nuclear test was successfully conducted, and by the end of July, during the Potsdam conference, the bombs were being prepared for use. The <a href="https://www.trumanlibrary.gov/library/personal-papers/subject-file-1943-1980/president-trumans-travel-logs-1945?documentid=NA&pagenumber=117">ultimatum on Japan of 26 July 1945</a> threatens Japan with complete destruction if it did not unconditionally surrender.</p>
<p>On 6 August, Hiroshima was bombed. The Japanese took around a day to grasp the extent of the damage. On 7 August, President Truman released a <a href="http://blog.nuclearsecrecy.com/2012/03/07/weekly-document-editing-trumans-announcement-of-the-bomb-1945/">written statement</a> in which it was announced (he did not write it) that a novel bomb had been used. On 9 August, he made a radio statement including a very curious claim, given the selection of the target and the death toll consisting of 90% civilians:</p>
<blockquote>
<p>“The world will note that the first atomic bomb was dropped on Hiroshima, a military base. That was because we wished in this first attack to avoid, insofar as possible, the killing of civilians.” (Truman on <a href="https://millercenter.org/the-presidency/presidential-speeches/august-9-1945-radio-report-american-people-potsdam-conference">9 August 1945</a>)</p>
</blockquote>
<p>There is a <a href="http://blog.nuclearsecrecy.com/2018/01/19/purely-military-target/">very convincing argument to be made</a> (by looking at previous diary entries and even more categorical drafts of this statement) that Truman (unlike any of the people involved in selecting the targets) <em>really</em> believed up to this point that the target had been primarily military, since he had left the selection process to Stimson and others. In any case, by the time the statement was made, the wheels were in motion and second bomb was already on its way to Nagasaki, because no provision to assess the damage of the first bomb (or the reaction of Japan!) before using the second had been made.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-7-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-7" class="simple-footnote" title="“During the morning of the 9th, Tokyo time, the United States dropped a second atomic bomb, this time on Nagasaki, without troubling to assess the impact of the first bomb or Soviet entry into the war on Japan’s intention to surrender. The commander at the Tinian B-29 air base made the decision to drop another bomb on the 9th—his superiors originally planned it for two days later—but he had authority from Washington to do so. During these very same days the vast B-29 attacks on the civilian populations continued on an accelerated scale, reflecting Washington’s belief that to defeat Japan would require much more than atomic bombs” (Kolko (1990), “The Politics of War”, p. 597).">7</a></sup> Afterwards, Truman vetoed the use of further nuclear bombs without his explicit consent. </p>
<p>On 9 August, the <span class="caps">USSR</span> also declared war on Japan and started an offensive in China, something that had long been planned but potentially hastened by the bombing of Hiroshima. This factor and a number of other rapid evolutions<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-8-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-8" class="simple-footnote" title="The few days after Nagasaki also led to an attempted coup, a conditional offer of surrender rejected by the US, continued conventional bombing campaigns on Japan and decisive Soviet victories in Manchuria (see Alex Wellerstein (2012)).">8</a></sup> seem as important in hastening Japanese surrender as the nuclear attacks themselves.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-9-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-9" class="simple-footnote" title="In 1946, the US Strategic Bombing Survey 1946 would claim: “Based on a detailed investigation of all the facts, and supported by the testimony of the surviving Japanese leaders involved, it is the Survey’s opinion that certainly prior to 31 December 1945, and in all probability prior to 1 November 1945, Japan would have surrendered even if the atomic bombs had not been dropped, even if Russia had not entered the war, and even if no [US] invasion had been planned or contemplated.” Truman himself also believed that the USSR entering the war would be decisive, and he did so even after both nuclear bombs had been used (see next chapter).">9</a></sup> On 15 August, Japan surrendered, opening the stage for the second act of the war crime – its discursive metamorphosis into an act of benevolence.</p>
<blockquote>
<p>The fact that nuclear bombs (and quite possibly more than two) would be used on large civilian targets was a foregone conclusion for much of the military, political and scientific establishment as early as May 1945. There were multiple goals, including crushing Japanese morale and limiting the postwar influence of the <span class="caps">USSR</span> by ending the war rapidly, while moral reasoning played virtually no role. There is scant evidence that the decision makers thought one (or two) nuclear bombs would suffice to end the war. </p>
</blockquote>
<h2>2. A metamorphosis: from war crime to benevolence</h2>
<p>The targeting of civilians in cities is a common war tactic and the Second World War is no exception, beginning with Japanese and German air raids and leading to Allied fire bombing campaigns on Germany and Japan. The nuclear attacks of Hiroshima and Nagasaki were, as we have seen, prepared using the same (a)moral compass as the fire bombings were. The novelty was the new tool and the prospect of a stronger psychological impact, which in turn led the decision makers to go one step further than indiscriminate bombings, carefully preparing attacks on hitherto preserved targets with little military relevance.</p>
<p>We should, however, not make the mistake to consider the attacks on Hiroshima and Nagasaki as being completely exceptional in this regard; in fact, a great deal of war crimes are <em>exclusively</em> directed at civilians, such as strategic rape campaigns or the shooting of hostages to retaliate for resistance attacks. What makes the nuclear attacks unique is their aftermath, the way they were retold and justified, the narrative that still leads more than half of Americans to see Hiroshima and Nagasaki as a <em>good, and exemplary</em> decision, and not as a <em>wrong, but understandable</em> one. In this chapter, I want to dissect this incredible metamorphosis of a war crime. </p>
<p>Usually, a state or society has three options in dealing with its “own”<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-10-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-10" class="simple-footnote" title="War crimes associated with the state or its people.">10</a></sup> war crimes or crimes against humanity after the fact. It can:</p>
<ol>
<li>Deny that the crimes happened, dismissing all evidence as some form of propaganda or conspiracy – e.g. “There was no <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Armenian_Genocide">Armenian genocide</a>.”</li>
<li>Acknowledge the existence of the war crime in question, but minimize its extent, justifying it by referring to war crimes committed by other sides (which are then often inflated in magnitude) – e.g. “The <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Srebrenica_massacre">Srebrenica massacre</a> was merely a response to attacks by Bosniaks.” </li>
<li>Acknowledge the extent of the crime and accept taking some sort of responsibility for it. This rarely happens without strong external pressure and sufficient time to overcome internal resistance – e.g. “Germany bears responsibility for the Holocaust.”</li>
</ol>
<p>As outlined above, the public <span class="caps">US</span> narrative of the Hiroshima and Nagasaki raids started off with Truman’s misunderstanding (or lie) that the first nuclear bomb was intended to “avoid, insofar as possible, the killing of civilians.” From there, it might have developed into denial, overstating the military importance and military casualties; it might have turned into a game of weighing up atrocities against each other, trying to minimize the atomic bombings in light of the unbelievably atrocious <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Japanese_war_crimes">Japanese war crimes</a>; it could also have led to simply recognizing and apologizing for the unmistakeable intent to kill civilians to possibly gain a military advantage. </p>
<p>In the end, neither of these options materialized, but it is interesting to see how Truman himself went through different rationalisations of the attacks within a few days’ time.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-11-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-11" class="simple-footnote" title="For more detail, refer to Alex Wellerstein (2020).">11</a></sup> Before and immediately after Hiroshima, as we saw above, he claimed (and possibly thought) that Hiroshima was primarily a military target, which means there would be no need for any justification for the bombings whatsoever. However, at some point before 9 August (before or after the Nagasaki attack), he seemed to realize that the casualties were mostly civilian and starts justifying the damage done as a <em>collateral damage</em>. At this point, he did not claim that the nuclear bombs were necessary or indeed would end the war, but still candidly professed that the <span class="caps">USSR</span> invasion would be decisive (something absolutely absent from the story later to be told):</p>
<blockquote>
<p>“For myself I certainly regret the necessity of wiping out whole populations because of the ‘pigheadedness’ of the leaders of a nation, and, for your information, I am not going to do it unless absolutely necessary. It is my opinion that after the Russians enter into war the Japanese will very shortly fold up.” (Truman to Richard Russell on <a href="https://www.trumanlibrary.gov/library/research-files/harry-s-truman-richard-russell"> 9 August 1945</a>)</p>
</blockquote>
<p>On 11 August, Truman, responding to a plea to stop further bombings (he had done just that <a href="http://blog.nuclearsecrecy.com/2020/06/09/what-journalists-should-know-about-the-atomic-bombings/#footnote_1_6907">the day before</a>), chooses another option, at least implicitly acknowledging the existence of the atrocity, but minimizing its significance by referring to Japanese war crimes and Japanese bestiality in general: </p>
<blockquote>
<p>“Nobody is more disturbed over the use of Atomic bombs than I am but I was greatly disturbed over the unwarranted attack by the Japanese on Pearl Harbor and their murder of our prisoners of war. The only language they seem to understand is the one we have been using to bombard them. When you have to deal with a beast you have to treat him as a beast. It is most regrettable but nevertheless true.” (Truman to Samuel McCrea Cavert on <a href="https://www.trumanlibrary.gov/library/research-files/correspondence-between-harry-s-truman-and-samuel-cavert">11 August 1945</a>)</p>
</blockquote>
<p>This very first response to a critical voice represents a very interesting alternative narrative that was probably close to what Truman, but also many soldiers and a large part of the <span class="caps">US</span> population instinctively felt, given the terrible reports of Japanese war crimes, in particular against <span class="caps">US</span> prisoners of war. The Japanese had largely been dehumanized in the eyes of Americans, which for example also led to <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/American_mutilation_of_Japanese_war_dead">large-scale mutilations of Japanese war dead</a>.</p>
<p>However, the narrative of retaliation did not establish itself, possibly simply because of the political imperative of making Japan a loyal ally in the beginning Cold War. Instead, Truman (and many others, such as Henry Stimson in his article ”<a href="https://www.atomicheritage.org/key-documents/stimson-bomb">The Decision to Use the Atomic Bomb</a>”) would make the case as follows:</p>
<blockquote>
<p>“I ordered the Atomic Bomb to be dropped on Hiroshima and Nagasaki. It was a terrible decision. But I made it. And I made it to save 250,000 boys from the United States, and I’d make it again under similar circumstances.” (<a href="https://catalog.archives.gov/id/165318647">Truman to Mary Jane Truman on 12 April 1948</a>)</p>
</blockquote>
<p>Leaving aside that Truman claims responsibility for a decision that he really left to the bureaucratic war machinery, this is an entirely different narrative. Let me break the reasoning down, also pointing some implicit parts in brackets:</p>
<ol>
<li>There were two options in August 1945: nuclear attacks [of purely civil targets] or a full invasion of Japan.</li>
<li>The number of fatalities of a nuclear attack was far lower than that of an invasion, with numbers between 250,000 and 500,000 being quoted.</li>
<li>This trade-off led to a “terrible decision” [of committing two war crimes].</li>
</ol>
<p>The reasoning is based upon distorted evidence and fallacious logic. First, of course, there were (as there always are!) more than just two possible options for the <span class="caps">US</span> in August 1945. Szilard and Franck had already laid out a number of alternatives that would similarly showcase the power of the new weapon. The possibility of striking a purely military base or an empty but prominent area (such as Tokyo Bay) come to mind, or a gap between the two bombings, to name only a few options.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-12-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-12" class="simple-footnote" title="Alex Wellerstein (2015) carefully goes through some options that would have entailed much lower civilian fatalities. Even Navy Under-secretary Bard recommended that the nuclear bombs should not be used without giving a few days’ warning to the Japanese (cf. Sherwin (1995)).">12</a></sup> Besides the nuclear bomb, there was an additional diplomatic option of explicitly offering the <a href="https://www.tandfonline.com/doi/pdf/10.1080/14672715.1991.10413158">emperor to remain after the Japanese surrender</a> (which happened anyway).</p>
<p>Second, there was absolutely no certainty that the two nuclear attacks would actually end the war, and, as we saw, nobody made such a claim before the bombs were used. Portraying the Japanese surrender as a necessary consequence of the nuclear attacks is a classic <em><a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Post_hoc_ergo_propter_hoc">post hoc ergo propter hoc</a></em> fallacy. On 8 August, the adviser to Stimson on nuclear matters was unsure whether the war would soon end and on 10 August, Stimson was surprised when Japan offered to surrender.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-13-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-13" class="simple-footnote" title="Cf. Bernstein (2008).">13</a></sup> And maybe most strikingly and as we saw above, Truman himself – as late as 9 August! – considered that the Soviet offensive would be decisive</p>
<p>Third, the estimates of <span class="caps">US</span> casualties and fatalities were massively inflated after the fact to support the narrative at hand. In reality, the main military estimated <span class="caps">US</span> fatalities to tens of thousands for a complete invasion of Japan.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-14-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-14" class="simple-footnote" title="“The estimates that the generals accepted at the time, and related to Truman, were that there would be on the order of tens of thousands of American casualties from a full invasion (and casualties include the injured, not just the dead)” (Alex Wellerstein (2020)). For more detail, refer to Bernstein (2008).">14</a></sup> The reality is that razing Hiroshima and Nagasaki was seen as <em>potentially</em> reducing <span class="caps">US</span> casualties by a significant amount. It is also to be noted that <span class="caps">US</span> fatalities during combat in the entire four-year war, on <em>all theatres</em> was <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/United_States_military_casualties_of_war">around 292,000</a>, less than purely <em>civilian</em> fatalities directly caused by <span class="caps">US</span> firebombings and nuclear bombings in <em>half a year</em> in <em>Japan alone</em>.</p>
<p>The moral rehabilitation of the war crime does not completely end here, as there is a popular extension of the narrative claiming that the nuclear bombings were, in fact, used <em>benevolently</em>. Since comparing the number of Japanese civilians who <em>really</em> died in Hiroshima and Nagasaki to the number <span class="caps">US</span> soldiers who <em>might</em> have died (under questionable assumptions) does not make for a very convincing moral argument, some have gone so far as to claim that the nuclear attacks had actually saved <em>Japanese</em> lives. Stimson takes this route in his 1947 article by comparing the casualties of the nuclear bomb and the ones that fire bombings (!) would have made. The wretchedness of this line of thought, which asks for <em>gratitude</em> for two <span class="caps">US</span> war crimes preventing other, even more deadly <span class="caps">US</span> war crimes, requires no further explanation. </p>
<p>To conclude the dissection of the main postwar justification for destroying civilian targets, it is interesting to also note how it shifts the suffering from the victims to the perpetrators. The civilians who were knowingly targeted, who endured pain, mutilation and destruction and often death are <em>not</em> viewed as the main victims of the bomb. Instead, it is the conscience of the likes of Truman and Stimson that seems to have suffered the most in Hiroshima and Nagasaki. The <em>decision</em>, not the <em>destruction</em> is portrayed as “terrible”, thus perniciously directing our empathy towards the tragic heroes who carry their horrific fate, not towards the actual victims of their bombings.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-15-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-15" class="simple-footnote" title="A more poetic mind than mine could make use of the motive of alchemical transmutation: the leaden guilt being transformed into golden heroism.">15</a></sup></p>
<blockquote>
<p>War crimes are usually denied, minimized or recognized by the perpetrators, but Hiroshima and Nagasaki were metamorphosed into perfectly justifiable acts, into <em>war crimes of benevolence</em>. Furthering the perversity, the suffering of the victims was transformed into the suffering of those who had to make that “terrible decision”. </p>
</blockquote>
<h2>3. Interlude: the efficacy of terror</h2>
<p>At this point, I find it interesting to change the perspective and transpose the justification of Hiroshima and Nagasaki into other contexts and other war crimes. By drawing parallels between the justification of the bombings of Nagasaki and Hiroshima and the rationale behind other war crimes, I do not in any way imply any sort of equality of guilt, for quantifying guilt is not the point of this essay. I simply wish to show where the logic behind the official <span class="caps">US</span> narrative would also have applied.</p>
<p>The first example is medieval and thus anachronistic, but still close enough for analogy to appear. The Mongol invasions of the 13th and 14th century led to the destruction of much of central Asia, the Middle East and parts of Europe. This destruction was not the result of pointless brutality, since the Mongols were not – as they are sometimes portrayed – <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Karakorum">uncivilized beasts</a>, who revelled in slaughter and destruction for its own sake. The massacres (or enslavement) of civilian populations who did not surrender, the complete destruction of cities <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Siege_of_Baghdad_(1258)#Destruction">such as Baghdad</a>, which was one of the jewels of the world, were <em>strategically used</em> to provide a clear military advantage. The Mongol war crimes were not gratuitous, but rationally devised to induce terror in civilian populations, and through them in political and military rulers. This psychological warfare was extremely successful and led to a great number of rapid surrenders, accelerated many Mongol military campaigns and reduced Mongol casualties. In a way, it hastened peace (on the Mongols’ terms, of course).</p>
<p>The parallels to the narrative used to justify Hiroshima and Nagasaki should be obvious and a Mongol warlord could use exactly the same justification as the <span class="caps">US</span> for their razing of cities and massacre of civilian populations – it indeed served military goals, reduced Mongol fatalities and hastened the end of the war. <em>Obliteration for peace</em>. </p>
<p>As a second example, let us consider a war crime contemporary to Hiroshima and Nagasaki – the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Kragujevac_massacre">execution of civilian hostages</a> in retaliation for insurgent attacks, which was extensively used by occupying Nazi forces in Europe throughout the war. The aim, once again, was genuinely military.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-16-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-16" class="simple-footnote" title="The dehumanization of the victims certainly aided the introduction of such measures, but they were not random acts of violence.">16</a></sup> It was believed that killing a disproportionate number of civilians – 100 civilians for every German casualty – would discourage attacks from the resistance. The rational underpinning of such war crimes becomes clear when noting the adaptations of the strategy in light of its failures, which finally led to it being rescinded in 1943.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-17-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-17" class="simple-footnote" title="In October 1941, the German commander in Serbia’s Kragujevac tried to make sure that people from the city would be spared and instead people from the surrounding villages be shot in retaliation for insurgent attacks. The question was not whether or how many civilians to shoot, but from where, so that the psychological effect of terror would not be counter-productive (cf. Supan (2013), “Hitler – Beneš – Tito“, pp. 975-1016).">17</a></sup> The Nazi wretchedness was a calculated one; its goal was to rapidly end the war and limit German casualties. Quoting from the relevant judgement of the Nuremberg case: </p>
<blockquote>
<p>“It is apparent from the evidence of these defendants that they considered military necessity, a matter to be determined by them, a complete justification of their acts.” (<a href="https://academic.oup.com/jcsl/article/22/3/463/4727625">Judgement of the United States Military Tribunal (n 19)</a>)</p>
</blockquote>
<p>The reasoning of German military commanders in occupied territories was extremely similar to Truman’s and Stimson’s justification devised after the nuclear bombs were used. The parallel is particularly striking, because from the German perspective in 1941 as well as from the <span class="caps">US</span> perspective in 1945, the war had essentially been won and was only dragged out by fanatics fighting a bloody guerilla warfare, who needed to be crushed rapidly. The best method was seen to be through psychological warfare and the murder of civilians. All of this was – just as Hiroshima and Nagasaki – genuinely intended to rapidly <em>establish peace</em> (on the victor’s terms, of course). </p>
<p>Again, I want to emphasize that the Mongol mass murders and German retaliatory massacres are differ in many ways from the bombings of Hiroshima and Nagasaki; <span class="caps">US</span> warfare <em>in general</em> was certainly not morally comparable to the Mongol or Nazi warfare. And yet the <em>logic</em> behind these atrocities is exactly the same as the logic used after the fact for the nuclear obliteration of Hiroshima and Nagasaki: hastening the end of the war, avoiding casualties, making peace on the terms wished for. It is a justification that opens Pandora’s box of degrading international humanitarian law (the law of warfare) to a mere <em>recommendation</em>, as I will discuss in the next chapter.</p>
<h2>4. Exceptionalism and the disregard for international humanitarian law</h2>
<p>As the historical examples have shown, the main issue with the official <span class="caps">US</span> narrative about Hiroshima and Nagasaki is not its distortion of reality, its incoherent logic or even its particularly unpleasant reversal of victimhood. The fundamental problem resides in its basic depravity, in it negating that the <span class="caps">US</span> is subjected to any limits in conducting warfare.</p>
<p>Let us leave aside the distorted facts and logical non sequiturs and assume for the sake of argument that razing Hiroshima and Nagasaki to the ground really was the best way to minimize <span class="caps">US</span> fatalities and make sure the war would end. There is no question that the nuclear bombings were war crimes, at the <em>very</em> least by today’s standards (see the Appendix if you are into international law). So the <span class="caps">US</span> narrative – until today! – entails that <em>certain war crimes can be appropriate military tools</em>.</p>
<p>One could object that the justification of the nuclear bombings applies only to very specific war crimes for which there is a <em>sizeable</em> military benefit, which would somehow make them morally justifiable. But this is not the case, since the Mongol and Nazi examples showed that many atrocious war crimes – that few would be tempted to defend from today’s perspective – have a very significant military value and are easily morally justified from the perpetrators’ side. </p>
<p>The problem runs even deeper. There is a very common misunderstanding that only a tiny fraction of war crimes procure a military advantage, while it is quite the opposite: the <em>vast majority</em> of war crimes is caused by military goals. Instead of the cities razed by the Mongols or civilian mass executions in World War <span class="caps">II</span>, I could have mentioned <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Wartime_sexual_violence">strategic rape campaigns</a> (in many wars), the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Srebrenica_massacre">massacre of Srebrenica</a>, the starvation of Leningrad, <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Halabja_chemical_attack">chemical bombings of Kurdistan</a>, <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Abu_Ghraib_torture_and_prisoner_abuse">torture of prisoners in Iraq</a> etc. All of them included acts of extreme brutality, sometimes amplified by a few sadists, but at the core, they were caused by <em>military decisions</em>, framed in terms of providing a significant military advantage. Justifying the war crimes of Hiroshima and Nagasaki in terms of their possible positive military effects opens the door to justifying just about <em>any</em> war crime. </p>
<p>The basic tenet of international humanitarian law, codified from the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/First_Geneva_Convention">1864 Geneva Convention</a> through the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Hague_Conventions_of_1899_and_1907">Hague Conventions of 1899 and 1907</a> and the Geneva Conventions of <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Geneva_Convention_(1929)">1929</a> and <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Geneva_Conventions">1949</a> with their additional Protocols is precisely to outlaw a certain number of practices <em>regardless</em> of the context and of their military value:</p>
<blockquote>
<p>“The right of belligerents to adopt means of injuring the enemy is not unlimited.” (Hague Convention <span class="caps">II</span> (1899), <a href="https://avalon.law.yale.edu/19th_century/hague02.asp#art22">Article 22</a>)</p>
</blockquote>
<p>Some forms of warfare are simply <em>off limits</em> and must not be justified through their supposedly positive consequences.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-18-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-18" class="simple-footnote" title="International humanitarian law consists, at least in large parts, of absolute, categorical imperatives and not of hypothetical imperatives, to put it in a Kantian terminology.">18</a></sup> It then becomes clear that the entire argument made in defence of Nagasaki and Hiroshima is based on a rejection of this basic principle, in a certain sense, a rejection of <a href="https://www.icrc.org/en/war-and-law/ihl-other-legal-regmies/jus-in-bello-jus-ad-bellum">international humanitarian law</a> (the law of warfare – jus in bello) altogether. </p>
<p>In Truman’s and Stimson’s fable about why they bombed Hiroshima and Nagasaki, the laws of warfare is no more than an advice, at least for the <span class="caps">US</span>. This position has not significantly been modified and continues to enjoy bipartisan support, which appears to have other concrete consequences, such as the <span class="caps">US</span> not ratifying the <a href="https://casebook.icrc.org/case-study/united-states-president-rejects-protocol-i">Additional Protocol I</a> or <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/United_States_and_the_International_Criminal_Court">violently rejecting the jurisdiction of the International Criminal Court</a> for its own citizens, while allowing the Security Council to refer <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/International_Criminal_Court_investigation_in_Darfur">war crimes committed by others to it</a>. I believe that the postwar narrative on Hiroshima and Nagasaki might have played an important role in elaborating this doctrine of <span class="caps">US</span> exceptionalism: that it is not <em>really</em> bound by international law.</p>
<blockquote>
<p>The official <span class="caps">US</span> narrative used to justify the bombing of Hiroshima and Nagasaki is incompatible with the very foundation of international humanitarian law. Framing military operations only in terms of weighing military costs and benefits, means that belligerents can use unlimited means. Most – perhaps all – war crimes can be justified in the exact same way as Truman and Stimson justified bombing Hiroshima and Nagasaki.</p>
</blockquote>
<p>The similarity of the <span class="caps">US</span> credo with the 19th century German doctrine according to which “military success takes precedence over the obligation to observe law” (“<a href="https://academic.oup.com/jcsl/article/22/3/463/4727625">Kriegsraison geht vor Kriegsmanier</a>”) is striking.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-19-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-19" class="simple-footnote" title="The analogy was also noted by the only dissenting judge in the Tokyo tribunal, Radhabinod Pal, who saw in the indiscriminate bombings in Japan the same doctrine as followed by Kaiser Wilhelm II during the First World War.">19</a></sup> It goes without saying that this doctrine was denounced after both World Wars by the Allies as being unacceptable. There is not much to add to the Nuremberg tribunal’s judgement regarding the execution of civilian hostages, except for the hope that the universality of the argument may one day be recognized: </p>
<blockquote>
<p>“We do not concur in the view that the rules of warfare are anything less than they purport to be. Military necessity or expediency do not justify a violation of positive rules. […] the rules of International Law must be followed even if it results in the loss of a battle or even a war. Expediency or necessity cannot warrant their violation.” (<a href="https://academic.oup.com/jcsl/article/22/3/463/4727625">Judgement of the United States Military Tribunal (n 19)</a>)</p>
</blockquote>
<p>To conclude this chapter, let me briefly deal with two objections that could be raised against my critique of the reasoning behind main <span class="caps">US</span> narrative. The first one is that certain methods of warfare might be justified when used by the <em>right</em> side and that the <span class="caps">US</span> certainly was on the right side of World War <span class="caps">II</span>. Being on the “right” side would thus justify committing acts that would be considered war crimes if employed by the “wrong” side. I do not question the fact that, broadly speaking, the <span class="caps">US</span> was fighting a “just war” in World War <span class="caps">II</span>. However, one of the causes of <span class="caps">US</span> superiority was precisely that they were fighting against enemies who had decided not to abide by the rules of warfare. The moral superiority of the Allies was grounded in their <em>greater adherence</em> to international humanitarian law. It would be absurd to let this superiority justify disregarding the very rules constituting it.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-20-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-20" class="simple-footnote" title="On a theoretical level, this means distinguishing between the right to enter war (jus ad bellum) and the rules of warfare or international humanitarian law (jus in bello). Moussa (2008) convincingly makes the case that reacting to a violation of international law, such as an aggression, does not justify different standards of warfare, even in very extreme cases of self-defence. Already in 1625, Hugo Grotius, in The Rights of War and Peace, Book 3, Chapter 11 recognized that leading a “just war” does not exempt from respecting the standards of warfare.">20</a></sup> Additionally, justifying war crimes by being on the “right” is just as dangerous as justifying them for giving a military advantage, since every warring party naturally considers itself to be on the “right” side of history. </p>
<p>A second, more serious, concern is that my defence of international humanitarian law and condemnation in principle of war crimes is theoretical and does not withstand the “reality” of war. This is a valid point <em>on the descriptive level</em>, and as I tried to outline in the historical part of the essay, the context of the erosion of moral and legal standards throughout the war explains why civilian targets were chosen much better than the subsequent narrative of a careful calculation designed to minimize overall casualties. In an otherwise quite unconvincing article<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-21-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-21" class="simple-footnote" title="It extrapolates the supposed Japanese fanaticism from anecdotal evidence coming from two (!) Japanese soldiers, fails to explain why the very same madmen who would have sacrificed their entire population during a land invasion would suddenly give up after two nuclear bombs and manages avoiding any mention of the Soviet invasion altogether.">21</a></sup> the physicist Karl Compton candidly states his world-view:</p>
<blockquote>
<p>“Was the use of the atomic bomb inhuman? All war is inhuman. […] Compare [it] with the results of two B-29 incendiary raids over Tokyo. One of these raids killed about 125,000 people, the other nearly 100,000.” (<a href="https://www.theatlantic.com/magazine/archive/1946/12/if-the-atomic-bomb-had-not-been-used/376238/">Karl Compton, 1946</a>)</p>
</blockquote>
<p>Compton reveals how much moral standards had decayed by the end of the war, how, by that point, the <span class="caps">US</span>’s <em>own</em> war crimes had led to justifying dropping the nuclear bomb, garnered with the fatalistic platitude “all war is inhuman”. There is no question that the reality of war has the tendency to produce deviations from legal and moral standards. But this is merely a <em>descriptive</em> statement of the psychology behind the war crimes of Hiroshima and Nagasaki, not a <em>normative</em> one, not a justification of any sort. It explains that Hiroshima and Nagasaki <em>seemed</em> acceptable by the standards of 1945, when all means were deemed appropriate to end the war, but also allows for a reconsideration of the attacks after the war, held to peaceable norms.</p>
<p>This differentiation between <em>understanding</em> and <em>judging</em> would open the door for a relatively painless shift in the <span class="caps">US</span> narrative. It could continue to express empathy for the motives of the actors who decided to bomb Hiroshima and Nagasaki, given the difficult context in which they made the decision, while at the same recognizing that these were war crimes by any reasonable definition, that the real victims were Japanese civilians, and that the <span class="caps">US</span> should not be judged by other standards than other nations. Unfortunately, since any change in position would be domestically framed as a “weakness”,<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-22-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-22" class="simple-footnote" title="When it really is the other way around, since relying on distortions to maintain cohesion and international standing points to fundamental frailness. Only strong leaders can recognize past mistakes without being forced to do so.">22</a></sup> and a betrayal of veterans<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-23-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-23" class="simple-footnote" title="Note the outrage at the (relatively tame) exhibition at the National Air and Space Museum in 1995, where historical facts were portrayed as betrayal of veterans (cf. Sherwin (1995)).">23</a></sup> there is now little to expect from <a href="http://blog.nuclearsecrecy.com/2016/05/27/obama-visits-hiroshima/"><span class="caps">US</span> officials in this regard</a>.</p>
<blockquote>
<p>“In the United States, the ‘collective memory’ of World War <span class="caps">II</span> sees the war as ‘our finest hour.” […] If we did some terrible things, they had to be done; the Germans and Japanese brought the punishment they received – their well-deserved punishment, many members of the war generation would say – on themselves.” (<a href="https://www.jstor.org/stable/2945113?seq=1">Sherwin (1995)</a>)</p>
</blockquote>
<h2>5. Another metamorphosis: a war crime as the original sin</h2>
<p>Before dealing with alternative narratives and their shortcomings, it is instructive to summarize the core of the main argument developed in the last chapter. Hiroshima and Nagasaki were predominantly civilian targets, which makes their deliberate bombing a war crime. The subsequent <span class="caps">US</span> justification that the nuclear attacks might have reduced <span class="caps">US</span> fatalities opens the door to justifying war crimes in general, since most of them have military goals. The <span class="caps">US</span> narrative is thus based on the premise that international law is irrelevant in times of war, or at least does not concern the <span class="caps">US</span>. </p>
<p>This line of reasoning relies on very broadly accepted facts and is completely independent of the question whether the nuclear bomb actually shortened the war or the controversy about the “real” intention of using nuclear weapons. Finally, the fact that the bomb was <em>nuclear</em> is not in principle relevant – the point is that massive civilian destruction was traded for a psychological military advantage. </p>
<p>Strangely enough, most voices critical of the Truman and Stimson narrative ignore this line of reasoning and focus on peripheral points supporting specific political aims. The left-leaning “revisionist“ camp is generally suspicious of <span class="caps">US</span> foreign policy and focusses on the intentions behind using the bombs, building an equally teleological (and shaky) alternative story intent on showing that the attacks <a href="https://www.latimes.com/opinion/story/2020-08-05/hiroshima-anniversary-japan-atomic-bombs">did <em>nothing</em> to end war</a> and that therefore, the <span class="caps">US</span> used nuclear bombs <em>only</em> to start the Cold War in a strong position. The official narrative of essentially benevolent <span class="caps">US</span> intentions is replaced with a counter-narrative of essentially <em>malevolent</em> <span class="caps">US</span> intentions, ignoring the question of the universality of the prohibition of war crimes as independent of their military value.</p>
<p>The “nuclear disarmament” narrative about Hiroshima and Nagasaki, which was instigated by <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Bulletin_of_the_Atomic_Scientists">scientists opposing the nuclear arms race</a> during the Cold War, enjoys an even larger visibility, inter alia through its “<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Doomsday_Clock">Doomsday Clock</a>”<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-24-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-24" class="simple-footnote" title="A clock that, incidentally, seems to behave much like Zeno’s arrow and that might arrive to one millisecond before midnight in around a hundred years’ time.">24</a></sup> and reflects much of Western public opinion, particularly in <a href="">countries without nuclear weapons</a>. It frames Hiroshima and Nagasaki in quasi-religious terms: as an <em>original sin</em> that led to a world with nuclear weapons, a sin leading all of us to doom. In this narrative, it does not really matter whether the bomb was used on a military or civilian target, with or without warning, once or twice. The main point is that nuclear weapons were used, and the genie let out of the box. </p>
<p>The question is then shifted from the (un)justifiability of war crimes to the (un)justifiability of military nuclear programmes, which are supposed to make nuclear destruction more likely. There is certainly a good point to be made for nuclear disarmament and I do not deny that unintentional nuclear holocaust has been a <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_nuclear_close_calls">real threat to mankind</a>, but framing Hiroshima and Nagasaki only in terms of an arms race, conflating a <a href="https://thebulletin.org/2020/08/what-europeans-believe-about-hiroshima-and-nagasaki-and-why-it-matters/">war crime with subsequent nuclear testing</a><sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-25-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-25" class="simple-footnote" title="Nuclear tests could also be argued to violate international law because of their negative transborder effects. Yet this is essentially a question of pollution, not one of international humanitarian law. Different types of norms should not be confused.">25</a></sup> betrays intellectual dishonesty and shaky moral standards.</p>
<p>By portraying the horrors of Hiroshima and Nagasaki as <em>inevitable consequences of nuclear armament</em>, the disarmament narrative ironically <em>exonerates</em> those who made the choice to bomb civilians from their responsibility. Hiroshima and Nagasaki undergo a metamorphosis from <em>concrete</em> war crimes into <em>abstract</em> symbols of a dark nuclear age, which mankind has to be saved from.</p>
<p>The pinnacle of this disturbing hodgepodge of all matters “nuclear” can currently be witnessed in the promotion of the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Treaty_on_the_Prohibition_of_Nuclear_Weapons">Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons</a> (<span class="caps">TPNW</span>), which aims to ban nuclear weapons altogether. The aim might be sensible, but since no nuclear power has ratified it, its proponents have to make up for its hollowness with bombastic public campaigns, in which Hiroshima and Nagasaki tend to feature prominently. The <a href="https://www.icanw.org/">International Campaign to Abolish Nuclear Weapons</a> (<span class="caps">ICAN</span>), a main driving force of the international alliance, goes so far as to claim that the treaty is meant to <em>honour</em> the victims of Hiroshima and Nagasaki:</p>
<blockquote>
<p>“[The] Nuclear Ban Treaty is a rallying call, an advocacy tool and a basis for progress towards nuclear disarmament. The most meaningful way to honor the Hibakusha is to answer their appeal for a nuclear weapons free world and make concrete progress towards nuclear disarmament – the <span class="caps">TPNW</span>, the first globally applicable multilateral agreement to comprehensively ban nuclear weapons, is one of them.” (<span class="caps">ICAN</span>, <a href="https://www.icanw.org/hiroshima_nagasaki_and_the_nuclearban">Hiroshima, Nagasaki, and the Nuclear Ban</a>)</p>
</blockquote>
<p>This narrative is warped, since the horrors which the “<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Hibakusha">Hibakusha</a>” suffered through would have been prevented with nuclear bombs developed (possibly even employed) but the <span class="caps">US</span> simply <em>abiding by the basic rules of warfare</em>. Promoting the nuclear disarmament agenda by portraying the victims of a war crime as <em>abstract victims</em> of nuclear armament – without ever mentioning the illegal nature of the bombings themselves –<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-26-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-26" class="simple-footnote" title="Why this subject is so carefully evaded is not entirely clear to me. It might be to avoid antagonizing the US public, and in any case smells of cowardice, especially for self-styled principled proponents of world peace.">26</a></sup> is a tasteless distortion of history. It might make sense to refer to victims of <em>nuclear testing</em> to justify the urgency for nuclear disarmament, but it might be that the horrors of Hiroshima and Nagasaki just sells better.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-27-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-27" class="simple-footnote" title="There are certainly a number of survivors of Hiroshima and Nagasaki who do support nuclear disarmament, and I do not question their sincerity. Nevertheless, the argumentation remains extremely misleading by omitting the fact that Hiroshima and Nagasaki were war crimes.">27</a></sup></p>
<p>Similar manipulations of Hiroshima and Nagasaki are used by a number of states that promote the <span class="caps">TPNW</span>, and Austria is unfortunately <a href="https://www.bmeia.gv.at/das-ministerium/presse/aussendungen/2021/01/aussenminister-schallenberg-atomwaffen-schaffen-keine-sicherheit/">no exception</a>. Again, what particularly bothers me is the cowardice of this <span class="caps">PR</span>-oriented foreign policy, which happily uses Hiroshima and Nagasaki as rhetorical tools to open portentous speeches meant to oppose nuclear weapons but at the same time shies away from mentioning the revolting choice of civilian targets and from using the two appropriate words: “war crime”.</p>
<p>Those – often Western – states passionately arguing for the <span class="caps">TPNW</span> are putting on a carefully choreographed show to avoid overstepping the limits of the Hiroshima and Nagasaki narrative. They therefore do not really bother the <span class="caps">US</span>, which is neither bound to nor cares about talk of nuclear disarmament. Question nuclear weapons in general? Fine. Question the justification for Hiroshima and Nagasaki? Better not, it might lead to a backlash.</p>
<p>To conclude this chapter and essay, I would like to plead for another narrative about Hiroshima and Nagasaki, a narrative that tries to <em>understand</em> the specific conditions leading to the bombings in 1945, that does <em>not absolve Japan</em> from facing its own terrible history, that does not claim to give definitive answers to questions which have none (did the bombs end the war?), that does not focus on vilifying the <span class="caps">US</span>, but that simply recognizes two facts: (i) Hiroshima and Nagasaki were war crimes; (ii) war crimes must not be justified because they provide military gains or shorten wars, even when employed by the “right” side. </p>
<blockquote>
<p>An honest, balanced assessment of Hiroshima and Nagasaki is not impossible. It is possible to try to understand the specific context of total war and its erosion of moral and legal standards, to avoid the trap of minimizing Japanese war crimes and vilifying the <span class="caps">US</span>, while also remaining firmly committed to the principle that war crimes never can be justified by projected military gains, even when committed by the “right” side. There is nothing to be lost in such a reappraisal, only a great deal humility and decency to be regained.</p>
</blockquote>
<p>I believe the global public opinion is, albeit very slowly, <a href="https://www.pewresearch.org/fact-tank/2015/08/04/70-years-after-hiroshima-opinions-have-shifted-on-use-of-atomic-bomb/">moving towards readiness for this truth</a>. Retelling the story of Hiroshima and Nagasaki differently will not lead to unnecessary trials or reparations,<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-28-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-28" class="simple-footnote" title="The question of reparations was finally settled in 1951 by the Treaty of San Francisco for both sides. Reassessing Hiroshima and Nagasaki by no means implies reopening this topic.">28</a></sup> will not open new wounds nor tarnish the West’s reputation. There is nothing to be lost, but the truth – and a great deal of decency – to be regained by being principled and renouncing double standards.</p>
<h2>Appendix: a legal perspective</h2>
<p>In this appendix, I wish to dispel the myth according to which the nuclear bombings of August 1945 should not, at least in a strict legal sense, be considered as war crimes.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-29-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-29" class="simple-footnote" title="As a disclaimer, although I did receive basic training in international law and tried to review all available evidence, I do not claim to be an expert on the matter and am open to take into account additional expertise on the topic.">29</a></sup> It is not, as we have seen, the main justification for the use of nuclear weapons on Hiroshima and Nagasaki, but is sometimes used to add a veneer of legality to standard narrative justifying the use of nuclear bombs on civilian targets laid out above.</p>
<p>According to the <a href="https://ihl-databases.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/INTRO/470?OpenDocument">1977 Additional Protocol I to the Geneva Conventions of 1949</a>, civilian populations are afforded extensive protection: “Parties to the conflict shall at all times distinguish between the civilian population and combatants and between civilian objects and military objectives” (Art. 48). More specifically, “indiscriminate attacks” and attacks with the primary purpose of “spreading terror” are outlawed (Art. 51). To avoid any misunderstanding, the Convention explicitly mentions that bombings such as the fire bombings of Japan or the nuclear attacks on Hiroshima and Nagasaki are considered as indiscriminate:</p>
<blockquote>
<p>“[…] an attack which may be expected to cause incidental loss of civilian life, injury to civilians, damage to civilian objects, or a combination thereof, which would be excessive in relation to the concrete and direct military advantage anticipated.” (<a href="https://ihl-databases.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/Article.xsp?action=openDocument&documentId=4BEBD9920AE0AEAEC12563CD0051DC9E">1977 Additional Protocol I, Art. 51</a>) </p>
</blockquote>
<p>A number of further provisions also prohibit detonating nuclear bombs over cities, such as the prohibition of targeting cultural and religious objects (Art. 53) or the prohibition of causing widespread and long-term natural damage (Art. 55), so there can be no debate that, at the very least by the standards of the 1977 Additional Protocol, the bombing of Hiroshima and Nagasaki was a war crime on several accounts.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-30-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-30" class="simple-footnote" title="The United States has signed the Protocol, but has not ratified it, which is interesting in itself and seems related to its conflictual relationship with international law; it is in the company of Pakistan and Iran in refusing to do so. In any case, the provisions have long entered customary international law; the United States’ objections with respect to the Protocol are related to decolonisation and not to these provisions. In 1987, State Department Deputy Legal Advisor Michael Matheson gave a speech in which Art. 51 was explicitly recognized as being part of customary international law.">30</a></sup></p>
<p>The only<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-31-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-31" class="simple-footnote" title="There is yet another, even more far-fetched, option to argue for the legality of using nuclear weapons on civilian targets that requires no long consideration to be ruled out. If the survival of the state was at stake (in an “extreme circumstance“ of self-defence), some legal scholars argue that using a nuclear bomb might be legitimate. This position is by no means universal but more importantly, it does not at all apply to the attacks on Hiroshima and Nagasaki, since by August 1945 Japan had essentially been vanquished and there was no existential threat to the US.">31</a></sup> – and purely legalistic – trick used to escape this qualification is to claim that the nuclear bombings of 1945 cannot be called war crimes because <em>at the time</em> there was no <em>explicit</em> international prohibition of such acts. As we have already seen, this defence is patently absurd, coming from the <span class="caps">US</span>, the very country that developed tribunals and laws – the “<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Nuremberg_charter">Nuremberg Charter</a>” – <em>after the fact</em> to condemn war criminals.<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-32-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-32" class="simple-footnote" title="Incidentally, the Nuremberg and Tokyo Charters explicitly include jurisdiction to convict the act of “wanton destruction of cities, towns or villages“ (Art. 6(b)). It is difficult to imagine much better examples for this description than Hiroshima and Nagasaki.">32</a></sup> The entire judicial system set up after the Second World War to try Axis defendants in <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Nuremberg_trials">Nuremberg</a> and <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/International_Military_Tribunal_for_the_Far_East">Tokyo</a>, was rightly built on the premise that there was no need for <em>explicit</em> Treaty prohibitions to try war crimes and crimes against humanity, but that customary international law was sufficient. </p>
<blockquote>
<p>Refusing to call the attacks on Hiroshima and Nagasaki war crimes entails refusing to accept the legitimacy of the principles of the trials of Nuremberg and Tokyo – ultimately also refusing to accept that the Holocaust could be called crimes against humanity.</p>
</blockquote>
<p>Claiming that dropping nuclear bombs on cities was no war crime is thus just as ridiculous as claiming that there could be no crime of genocide before the the <a href="https://www.un.org/en/genocideprevention/genocide-convention.shtml">1948 Genocide Convention</a> had entered in force. The <span class="caps">US</span> has not only itself created such a retro-active mechanism directly after the Second World War, but is has also not shied away from applying retroactive qualifications for much older crimes against humanity, such as the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Armenian_Genocide">Armenian genocide</a>, which was condemned by <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/United_States_recognition_of_the_Armenian_Genocide">extensive majority in Congress in 2019</a>. </p>
<p>Moreover, it can be shown that nuclear bombings <em>also</em> violated a number of Treaty Law provisions already in force in 1945, such as Articles 22, 23 and 27 of the <a href="https://ihl-databases.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/ART/195-200033?OpenDocument">1907 Hague Convention</a>, which forbid employing arms “calculated to cause unnecessary suffering”, as well as customary international law, which by 1945 already reflected most of the provisions of the 1977 Additional Protocol cited above, that had been included in the 1923 Draft <a href="https://ihl-databases.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/Treaty.xsp?documentId=B9CA3866276E91CFC12563CD002D691C&action=openDocument">Hague Rules on Air Warfare</a> and the 1938 <a href="https://ihl-databases.icrc.org/applic/ihl/ihl.nsf/Treaty.xsp?documentId=29DF95181E9CC0FDC12563CD002D6A9B&action=openDocument">Amsterdam Draft Convention</a>. In 1963 a Japanese court considered this body of evidence and indeed <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Ryuichi_Shimoda_v._The_State">ruled that the bombings were a crime under international law</a>. Interestingly, the court was very measured in its judgement, acknowledging that this “total war“ against Japan was of a special nature, while carefully laying out why this circumstancd alone did not justify what it calls “blind aerial bombardment“ behind enemy front lines.</p>
<p>Beyond these legal intricacies, it is important to note that the <span class="caps">US</span> itself recognized the prohibition of indiscriminate bombing as reflecting international law before and during the Second World War. In 1937, it protested against the Japanese bombing of non-combatant population: “any general bombing of an extensive area wherein there resides a large populace engaged in peaceful pursuits is unwarranted and contrary to principles of law and of humanity“;<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-33-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-33" class="simple-footnote" title="As quoted in Melissa Ballard, From Conciliation to Sanctions: U.S.-Japan Relations, 1937-1939">33</a></sup> in 1939, President Roosevelt urgently appealed to all sides to “under no circumstances, undertake the bombardment from the air of civilian populations or of unfortified cities” and up to 1945, Secretary of War Henry Stimson publicly assured that “there has been no change in the policy against conducting ‘terror bombings’ against civilian populations”. As we saw, even <em>after</em> the nuclear attacks, the President somewhat bizarrely claimed that “we wished in this first attack to avoid, insofar as possible, the killing of civilians“,<sup id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-34-back"><a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-34" class="simple-footnote" title="All quotes from Conway-Lanz Sahr (2014).">34</a></sup> which was not true but does indicate that he considered that there was rules of warfare applying to nuclear bombs. All these statements show unequivocally that the <span class="caps">US</span> considered indiscriminate bombings to be contrary to customary international law <em>throughout</em> the Second World War.</p>
<blockquote>
<p>“One other thing LeMay said, and I heard him say it myself: “If we lose the war, we’ll be tried as war criminals.” On that last point, I think he was right. We would have been. But what makes one’s conduct immoral if you lose and not immoral if you win?” (Robert McNamara, Los Angeles Times, <a href="https://www.latimes.com/archives/la-xpm-2003-aug-03-oe-mcnamara3-story.html">3 August 2003</a>)</p>
</blockquote>
<p>To summarize, the nuclear bombings of Hiroshima and Nagasaki are textbook examples of war crimes. The prohibition of indiscriminate bombings was already in force in 1945 and had been repeatedly recognized by the <span class="caps">US</span>, which therefore cannot claim being a “<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Persistent_objector">persistent objector</a>” to the rule. If we hold it to the more stringent account of subsequent developments in international humanitarian law, which is what the <span class="caps">US</span> does for other war crimes, they constitute a violation of an even wider array of norms belonging to international humanitarian law.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-1">These are <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Atomic_bombings_of_Hiroshima_and_Nagasaki">relatively conservative estimates</a>. The real death toll is <a href="https://thebulletin.org/2020/08/counting-the-dead-at-hiroshima-and-nagasaki">difficult to establish</a>, given statistical issues and long-term effects of radiation. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-2">These bombings, as well as similar ones conducted in Europe, caused significantly more civilian casualties and damage than the two nuclear bombs. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-3">Secretary of War Stimson was “fearful that before we could get ready the Air Force might have Japan so thoroughly bombed out that the new weapon would not have a fair background to show its strength.” to which the President “laughed and said he understood.”, quoted by Kolko (1990), <em>The Politics of War</em>, p. 540 <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-4">See <a href="https://brill.com/view/journals/jaer/19/2/article-p183_5.xml?language=en">Kelly (2012)</a> <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-5">Leo Szilard, Eugene Wigner and a number of leading scientists of the Manhattan <a href="https://biology.indiana.edu/documents/historical-materials/gest_pdfs/hgSzilard.pdf">petitioned Truman</a> not to use the bomb, given that there was no more necessity for doing so as late as 17 July. Their convincing alternative of using the threat of nuclear weapons to end the war seems never to have reached Truman. Similar alternatives had been laid out on 11 June in the <a href="http://www.dannen.com/decision/franck.html">Franck report</a>, which was only released (still censored) in 1946. One redacted sentence reads: “We fear its early unannounced use [of the nuclear bomb] might cause other nations to regard us as a nascent Germany.” (quoted from <a href="http://blog.nuclearsecrecy.com/2012/01/11/weekly-document-9-the-uncensored-franck-report-1945-1946/">Alex Wellerstein (2012)</a>) <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-6">Cf. <a href="https://www.jstor.org/stable/2945113?seq=1">Sherwin (1995)</a>. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-7">“During the morning of the 9th, Tokyo time, the United States dropped a second atomic bomb, this time on Nagasaki, without troubling to assess the impact of the first bomb or Soviet entry into the war on Japan’s intention to surrender. The commander at the Tinian B-29 air base made the decision to drop another bomb on the 9th—his superiors originally planned it for two days later—but he had authority from Washington to do so. During these very same days the vast B-29 attacks on the civilian populations continued on an accelerated scale, reflecting Washington’s belief that to defeat Japan would require much more than atomic bombs” (Kolko (1990), “The Politics of War”, p. 597). <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-8">The few days after Nagasaki also led to an attempted coup, a conditional offer of surrender rejected by the <span class="caps">US</span>, continued conventional bombing campaigns on Japan and decisive Soviet victories in Manchuria (see <a href="http://blog.nuclearsecrecy.com/2020/06/09/what-journalists-should-know-about-the-atomic-bombings">Alex Wellerstein (2012)</a>). <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-9">In 1946, the <span class="caps">US</span> <a href="https://www.anesi.com/ussbs01.htm">Strategic Bombing Survey 1946</a> would claim: “Based on a detailed investigation of all the facts, and supported by the testimony of the surviving Japanese leaders involved, it is the Survey’s opinion that certainly prior to 31 December 1945, and in all probability prior to 1 November 1945, Japan would have surrendered even if the atomic bombs had not been dropped, even if Russia had not entered the war, and even if no [<span class="caps">US</span>] invasion had been planned or contemplated.” Truman himself also believed that the <span class="caps">USSR</span> entering the war would be decisive, and he did so even after <em>both</em> nuclear bombs had been used (see next chapter). <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-10">War crimes associated with the state or its people. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-10-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-11">For more detail, refer to <a href="http://blog.nuclearsecrecy.com/2020/06/09/what-journalists-should-know-about-the-atomic-bombings/">Alex Wellerstein (2020)</a>. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-11-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-12"><a href="http://blog.nuclearsecrecy.com/2015/08/03/were-there-alternatives-to-the-atomic-bombings/">Alex Wellerstein (2015)</a> carefully goes through some options that would have entailed much lower civilian fatalities. Even Navy Under-secretary Bard recommended that the nuclear bombs should not be used without giving a few days’ warning to the Japanese (cf. <a href="https://www.jstor.org/stable/2945113?seq=1">Sherwin (1995)</a>). <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-12-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-13">Cf. <a href="https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/01402399908437744">Bernstein (2008)</a>. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-13-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-14">“The estimates that the generals accepted at the time, and related to Truman, were that there would be on the order of tens of thousands of American casualties from a full invasion (and casualties include the injured, not just the dead)” (<a href="http://blog.nuclearsecrecy.com/2020/06/09/what-journalists-should-know-about-the-atomic-bombings/#footnote_1_6907">Alex Wellerstein (2020)</a>). For more detail, refer to <a href="https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/01402399908437744">Bernstein (2008)</a>. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-14-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-15">A more poetic mind than mine could make use of the motive of alchemical transmutation: the leaden guilt being transformed into golden heroism. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-15-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-16">The dehumanization of the victims certainly aided the introduction of such measures, but they were not random acts of violence. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-16-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-17">In October 1941, the German commander in Serbia’s Kragujevac tried to make sure that people from the city would be spared and instead people from the surrounding villages be shot in retaliation for insurgent attacks. The question was not <em>whether</em> or <em>how many</em> civilians to shoot, but from <em>where</em>, so that the psychological effect of terror would not be counter-productive (cf. Supan (2013), “<a href="https://library.oapen.org/bitstream/handle/20.500.12657/33519/461691.pdf">Hitler – Beneš – Tito</a>“, pp. 975-1016). <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-17-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-18">International humanitarian law consists, at least in large parts, of absolute, <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Categorical_imperative">categorical imperatives</a> and not of <em>hypothetical imperatives</em>, to put it in a Kantian terminology. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-18-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-19">The analogy was also noted by the only <a href="https://apjjf.org/2011/9/44/Nakajima-Takeshi/3627/article.html">dissenting judge in the Tokyo tribunal</a>, Radhabinod Pal, who saw in the indiscriminate bombings in Japan the same doctrine as <a href="https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/1354066114555775">followed by</a> Kaiser Wilhelm <span class="caps">II</span> during the First World War. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-19-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-20">On a theoretical level, this means distinguishing between the <em>right to enter war</em> (jus ad bellum) and the <em>rules of warfare</em> or international humanitarian law (jus in bello). <a href="Jasmine Moussa*">Moussa (2008)</a> convincingly makes the case that reacting to a violation of international law, such as an aggression, does not justify different standards of warfare, even in very extreme cases of self-defence. Already in 1625, Hugo Grotius, in <em>The Rights of War and Peace</em>, <a href="https://oll-resources.s3.us-east-2.amazonaws.com/oll3/store/titles/1427/1032-03_LFeBk.pdf">Book 3, Chapter 11</a> recognized that leading a “just war” does not exempt from respecting the standards of warfare. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-20-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-21">It extrapolates the supposed Japanese fanaticism from anecdotal evidence coming from two (!) Japanese soldiers, fails to explain why the very same madmen who would have sacrificed their entire population during a land invasion would suddenly give up after two nuclear bombs and manages avoiding any mention of the Soviet invasion altogether. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-21-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-22">When it really is the other way around, since relying on distortions to maintain cohesion and international standing points to fundamental frailness. Only strong leaders can recognize past mistakes without being forced to do so. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-22-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-23">Note the outrage at the (relatively tame) exhibition at the National Air and Space Museum in 1995, where historical facts were portrayed as betrayal of veterans (cf. <a href="https://www.jstor.org/stable/2945113?seq=1">Sherwin (1995)</a>). <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-23-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-24">A clock that, incidentally, seems to behave much like <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Zeno%27s_paradoxes">Zeno’s arrow</a> and that might arrive to one millisecond before midnight in around a hundred years’ time. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-24-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-25">Nuclear tests could also be argued to violate international law because of their negative transborder effects. Yet this is essentially a question of pollution, not one of international humanitarian law. Different types of norms should not be confused. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-25-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-26">Why this subject is so carefully evaded is not entirely clear to me. It might be to avoid antagonizing the <span class="caps">US</span> public, and in any case smells of cowardice, especially for self-styled principled proponents of world peace. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-26-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-27">There are certainly a number of <a href="https://www.icanw.org/setsuko_thurlow_statement_on_tpnw_entry_into_force">survivors</a> of Hiroshima and Nagasaki who <em>do</em> support nuclear disarmament, and I do not question their sincerity. Nevertheless, the argumentation remains extremely misleading by omitting the fact that Hiroshima and Nagasaki were war crimes. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-27-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-28">The question of reparations was finally settled in 1951 by the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Treaty_of_San_Francisco">Treaty of San Francisco</a> for both sides. Reassessing Hiroshima and Nagasaki by no means implies reopening this topic. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-28-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-29">As a disclaimer, although I did receive basic training in international law and tried to review all available evidence, I do not claim to be an expert on the matter and am open to take into account additional expertise on the topic. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-29-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-30">The United States has signed the Protocol, but has not ratified it, which is interesting in itself and seems related to its conflictual relationship with international law; it is in the company of Pakistan and Iran in refusing to do so. In any case, the provisions have <a href="https://ihl-databases.icrc.org/customary-ihl/eng/docs/v1_cha_chapter3_rule13">long entered customary international law</a>; the <a href="https://casebook.icrc.org/case-study/united-states-president-rejects-protocol-i">United States’ objections</a> with respect to the Protocol are related to decolonisation and not to these provisions. In 1987, State Department Deputy Legal Advisor Michael Matheson gave a speech in which Art. 51 was <a href="https://www.hrw.org/reports/Iraq%20IHL%20formatted.pdf">explicitly recognized</a> as being part of customary international law. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-30-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-31">There is yet another, even more far-fetched, option to argue for the legality of using nuclear weapons on civilian targets that requires no long consideration to be ruled out. If the survival of the state was at stake (in an “extreme circumstance“ of self-defence), <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Advisory_opinion_on_the_Legality_of_the_Threat_or_Use_of_Nuclear_Weapons">some legal scholars argue</a> that using a nuclear bomb might be legitimate. This position is by <a href="https://international-review.icrc.org/sites/default/files/irrc-872-7.pdf">no means universal</a> but more importantly, it does not at all apply to the attacks on Hiroshima and Nagasaki, since by August 1945 Japan had essentially been vanquished and there was no existential threat to the <span class="caps">US</span>. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-31-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-32">Incidentally, the Nuremberg and Tokyo Charters explicitly include jurisdiction to convict the act of “wanton destruction of cities, towns or villages“ (Art. 6(b)). It is difficult to imagine much better examples for this description than Hiroshima and Nagasaki. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-32-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-33">As quoted in Melissa Ballard, <a href="https://www.drake.edu/media/departmentsoffices/dussj/2006-2003documents/JapanBallard.pdf">From Conciliation to Sanctions: U.S.-Japan Relations, 1937-1939</a> <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-33-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-34">All quotes from <a href="https://www.sciencespo.fr/mass-violence-war-massacre-resistance/en/document/ethics-bombing-civilians-after-world-war-ii-persistence-norms-against-targeting-civilians-k.html">Conway-Lanz Sahr (2014)</a>. <a href="#sf-hiroshima-nagasaki-narrating-war-crime-narratives-nuclear-bombs-34-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Nach dem Terror: Die notwendige Spaltung des Islams in Europa2020-11-22T00:00:00+01:002020-11-22T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2020-11-22:/posts/2020/11/22/nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa/<p>Der Anschlag von Wien hat gezeigt, wie gefährdet ganz Europa von islamistischem Terror mittlerweile ist. Doch Terrorismus ist nur eine Ausdrucksform des Islamismus, einer antisäkularen und damit staatsfeindlichen Ideologie, die mittlerweile eines der größten Hindernisse zur religiösen Integration darstellt. Es ist deshalb dringend notwendig, Islamisten vom Rest der Muslime soweit wie möglich zu isolieren, Islamismus politisch zu bekämpfen und als Gegenmodell einen von den Herkunftsstaaten unabhängigen „europäischen“ Islam aufzubauen.</p><p>Es gibt unleugbar ein Problem mit islamistischem Terrorismus. Das Phänomen hat sich seit einigen Jahrzehnten auf allen Kontinenten etabliert, spätestens seit zwanzig des Jahrhunderts auch in Westeuropa. Nach 2004 (Attentate von Madrid) gab es dutzende ausgeübte und hunderte vereitelte Anschläge und ab 2011 Tausende aus Europa stammende Terroristen, die in Syrien und dem Irak gekämpft haben. Mit dem 2. November 2020 und der Ankunft des islamistischen Terrors in Wien – der viel strapazierte Ausdruck „Insel der Seligen“ hat eine gewisse Berechtigung – ist endgültig klar geworden, dass die Bedrohung sich in ganz Europa eingenistet hat und uns über die nächsten Jahre, vielleicht Jahrzehnte, begleiten wird. </p>
<h2>Islamistischer Terror</h2>
<p>Das tückische am Terrorismus ist natürlich, dass seine Auswirkungen weit über die <em>unmittelbare</em> Gefahr für Leib und Leben gehen.<sup id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-1-back"><a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-1" class="simple-footnote" title="Der Anschlag hat wohl weniger Tote verursacht als die vollen Restaurants und Bars mitten im Coronaausbruch.">1</a></sup> Der islamistische Terrorismus zielt darauf ab, Gesellschaften zu zersetzen, Chaos und alle möglichen Formen von Radikalisierung zu befördern, um schließlich in einem Bürgerkrieg zu münden, einem Endkampf, in dem der Islamismus letztlich siegen würde. Das ist keine bloße Mutmaßung, sondern ein explizit formuliertes Ziel des internationalen Jihadismus, der etwa im Al-Kaida-Handbuch „<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Management_of_Savagery">Management of Savagery</a>“, das auch von den <span class="caps">IS</span>-Magazinen <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Dabiq_(magazine)">Dabiq</a> und <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Rumiyah_(magazine)">Rumiyah</a> aufgegriffen wurde.<sup id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-2-back"><a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-2" class="simple-footnote" title="In ihren Feldstudien Wut (2018) und Radikalisierungsmaschinen (2019) zeigt Julia Ebner, dass dieses Ideal in der islamistischen Praxis bis heute eine zentrale Rolle einnimmt.">2</a></sup></p>
<p>Im Migrations- und Integrationskontext, in dem ein großer Teil der Migranten muslimisch geprägt sind, ist diese Vorgangsweise des islamistischen Terrorismus natürlich besonders gefährlich. Attentate sollen die Segregierung zwischen Muslime und Nichtmuslime befördern um schließlich in Gewaltakten entlang religiöser Trennlinien zu münden. Nicht selten gelingt dies auch, wenn Rechtsextreme nach Attentaten mit symbolischen oder physischen Angriffen auf Muslime tätig werden<sup id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-3-back"><a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-3" class="simple-footnote" title="Nach dem Attentat von Wien war diese Tendenz nicht besonders ausgeprägt, aber dennoch existent.">3</a></sup> und auch die allgemeine Abneigung gegenüber Muslimen fast unweigerlich zunimmt,<sup id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-4-back"><a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-4" class="simple-footnote" title="Dazu gibt es unzählige Studien, z. B. Obaidi et al. (2018) die durchaus auch auf langfristige wirtschaftliche Effekte hinweisen Wagner, Petev (2019).">4</a></sup> – eine als ungerecht wahrgenommene Behandlung, die zu stärkerer Selbstsegregierung eines Teils von Muslimen führt.<sup id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-5-back"><a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-5" class="simple-footnote" title="Auch zu dieser negativen „Reaktion auf die Reaktion“ gibt es dutzende Studien aus verschiedenen europäischen Kontexten, u.a. Neumann et al. (2018) über Muslime aus Deutschland und den Niederlanden.">5</a></sup></p>
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<p>Islamistischer Terrorismus zielt bewusst auf chaotische Zustände und einen Bürgerkrieg zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen ab. Nicht selten gelingt es Attentätern auch, derartige Spannungen zu schüren und die Segregation von Muslimen zu befördern. </p>
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<p>Wie ich in meinem <a href="https://noctulog.net/posts/2020/11/07/migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation/">letzten Artikel</a> zur Integration dargelegt habe, muss diese Tendenz zur Segregation durch aktive desegregierende Maßnahmen bekämpft werden – in diesem konkreten Fall über eine positiv konnotierte und klar definierte <em>religionsübergreifende</em> Identität, über die Förderung von Kontakten zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, einem besonderen Fokus auf die Bildung muslimischer Kinder und auf geographische Desegregierung.</p>
<h2>Islamismus als Segregationsfaktor</h2>
<p>Doch dabei gerät man in Gefahr, einen Aspekt zu übersehen, den ich in meinem Artikel über Integration nur angedeutet hatte – die Dynamik <em>innerhalb</em> der Gruppe der Muslime. Im gegenständlichen Fall sind es nicht nur Terroristen, sondern allgemeiner <em>Islamisten</em>, die eine negative Rolle bei der Integration spielen. </p>
<p>Unter Islamisten verstehe ich in diesem Kontext Muslime, für die religiöse Gesetze, auch wenn sie im Widerspruch mit einer demokratischen Gesetzgebung stehen, <em>absoluten Geltungsvorrang</em> haben.<sup id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-6-back"><a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-6" class="simple-footnote" title="Selbstverständlich gibt es ganz unterschiedliche Formen des Islamismus, sowohl schiitischer als auch sunnitischer Prägung, die untereinander in erbittertem Konflikt stehen. Den Grundgedanken des Primats der islamischen Theologie über menschengemachtes Recht teilen sie.">6</a></sup> Im Kern jeder islamistischen Ideologie steht also eine – zumindest implizite – Ablehnung des säkularen Staatsmodells. Über islamistische Theologien, Moscheen und Vertreter in der islamischen Glaubensgemeinschaft wird eine Art der Selbstabsonderung von Muslimen betrieben; Integration ist ein Feindbild, wenn nur Muslime gute Menschen sein können. Muslime werden von Islamisten also ermutigt, den Islam zum Kern ihrer Identität zu machen, sie werden aufgerufen sich von Nicht-Muslimen abzuwenden, jeden Menschen nach dem Merkmal der Religion zu bewerten.<sup id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-7-back"><a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-7" class="simple-footnote" title="Das Spiegelbild dazu sind Rechtsextreme, die ebenfalls, nur von außen, die Zugehörigkeit zum Islam essentialisieren und Kontakte über Religionsgrenzen hinweg zu unterbinden suchen.">7</a></sup></p>
<p>Was kann diesem islamistischen Angriff auf den säkularen Staat und Integration von Muslimen entgegengehalten werden? Die Integration von Islamisten selbst ist aufgrund ihrer fundamentalen, ideologischen Ablehnung des gewünschten Modells kaum erfolgversprechend. Stattdessen erscheint es mir praktikabel, Islamisten von anderen Muslimen möglichst zu trennen, also die Spaltung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen durch eine <em>Spaltung zwischen Muslimen und staatsfeindlichen Muslimen</em> zu ersetzen. Das Ziel muss es sein, den Einfluss von Islamisten auf Muslime zu reduzieren, die Diffusion des Islamismus in islamische Diskurse und Strukturen soweit wie möglich zu unterbinden. </p>
<blockquote>
<p>Für die Integration des größtmöglichen Anteils der Muslime muss die Isolierung einer islamistischen Minderheit, die den Nährboden für Separatismus und Terrorismus bildet, in Kauf genommen werden.</p>
</blockquote>
<h2>Das islamische Spektrum und die Frage der Grenzziehung</h2>
<p>Die zentrale Schwierigkeit ist natürlich, <em>wo</em> eine solche Grenze verlaufen soll. In zwei schematischen Darstellungen habe ich die Verteilung von Muslimen und islamischen Institutionen in Abhängigkeit einer (als eindimensional aufgefassten) religiösen Strenge dargestellt. Dies ist natürlich nur eine ganz grobe Einteilung, die aber zumindest das Spektrum und die Größenordnungen einigermaßen sichtbar macht.<sup id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-8-back"><a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-8" class="simple-footnote" title="Die Grafik über die Bedeutung des Islams für Muslime ist jedenfalls kompatibel mit den Zahlen aus Studien des Österreichischen Integrationsfonds aus 2017 und 2019. Natürlich könnten zahlreiche weitere Unterscheidungen nach Herkunftsland, Form des Islam, Verweildauer in Europa, usw. gemacht werden, die jedoch für die Grundsatzfrage nicht relevant erscheinen.">8</a></sup> </p>
<p><a href="https://noctulog.net/images/muslime-europa.png" data-featherlight="image"><img src="https://noctulog.net/images/muslime-europa.png" alt="Muslime in Europa"></a></p>
<p>Das Spektrum der Muslime soll darstellen, dass ein Großteil der Muslime zwar gläubig sind, aber nur ein geringer Teil islamistisch und grundsätzlich integrationsfeindlich. Integrationspolitik muss versuchen, dass Muslime eher auf der linken Seite des Spektrums bleiben, Islamismus hingegen (und noch mehr der islamistische Terrorismus) zielt darauf aub, die Kurve nach rechts zu verschieben. Die Trennlinie zwischen „strenggläubigen Muslimen“ und „Islamisten“ wird in dem Bereich zu ziehen sein, an dem Potential für rasche Integration endet und die ideologische Bekämpfung des säkularen Staates anfängt.<sup id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-9-back"><a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-9" class="simple-footnote" title="Dies ist natürlich eine je nach Land unterschiedliche Grauzone, die nicht unbedingt eindimensional und schon gar nicht eindeutig gezogen werden kann, aber hier geht es um die grundsätzliche Existenz einer solchen Grenze.">9</a></sup> Es wird akzeptiert und gefördert, dass der Teil der Muslime „jenseits der islamistischen Grenze“ in einer Art Parallelgesellschaft lebt, die möglichst von anderen Muslimen isoliert und überwacht wird. Idealerweise ist dies ein <em>temporärer</em> Zustand – durch Auswanderung, aber vor allem durch Integration der <em>Nachkommen</em> von Islamisten soll diese Parallelgesellschaft langfristig ausgetrocknet werden. Diese segregierte Gesellschaft soll so groß wie nötig sein, um alle staatsfeindlichen Personen zu erfassen, aber zugleich so klein wie möglich, also auch <em>nicht alle streng gläubigen Muslime erfassen</em>.<sup id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-10-back"><a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-10" class="simple-footnote" title="Um kurz auf die Frage des Kopftuchs einzugehen: Das Kopftuch ist ein deutliches Segregationsmerkmal und als solches für die Integration ein Hindernis, aber keine grundsätzlich ideologische Barriere dafür. Die wünschenswerte Reduktion des Kopftuchtragens sollte deshalb nicht über den Ausschluss von kopftuchtragenden Frauen aus dem Alltag geschehen, sondern über eine Förderung von Interpretationen, die den Kopftuchzwang ablehnen (siehe weiter unten).">10</a></sup></p>
<p><a href="https://noctulog.net/images/islam-europa.png" data-featherlight="image"><img src="https://noctulog.net/images/islam-europa.png" alt="Islam in Europa"></a></p>
<p>Das Spektrum der islamischen Vereine entspricht nicht jenem der Muslime, da sich Agnostiker und wenig Gläubige naturgemäß kaum organisieren. Die Vereinslandschaft ist deshalb deutlich in Richtung strenggläubige bis fundamentalistische Strömungen verschoben, wie untenstehend schematisch dargsestellt. Dieser „natürliche“ Effekt wird durch die starke Fremdfinanzierung aus der Türkei und Golfstaaten – die eine offen islamistische Außenpolitik betreiben – weiter verstärkt.<sup id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-11-back"><a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-11" class="simple-footnote" title="Auch hier gilt, dass die Islamisten aus der Türkei und etwa aus Saudi-Arabien zwar keinesfalls befreundet sind, aber durch ihren Wettbewerb den Einfluss des Islamismus weltweit und auch in Europa insgesamt stärken.">11</a></sup></p>
<p>Die Grenzziehung bei Institutionen muss demnach eine andere sein – um das Ungleichgewicht, das von islamistischen Geldgebern und den fehlenden Rückhalt liberaler Strömungen zu kompensieren, sollten streng religiöse Moscheen und Vereine beobachtet und höchstens toleriert, nicht aber gefördert werden. Offen islamistische und jihadistische Gebetshäuser sollten noch stärker überwacht und gegebenenfalls (aufgrund von Finanzvergehen, Terrorismusfinanzierung etc.) rasch geschlossen werden. Im Gegenzug müssen Maßnahmen gesetzt werden, um das Angebot „liberaler“ und sonstiger eindeutig mit einem säkularen Staat kompatibler Strömungen deutlich auszubauen – diese Strömungen müssen in der Auseinandersetzung um mediale Aufmerksamkeit, um die theologische Deutungshoheit, im Wettbewerb um die Gläubigen gegen islamistische, aber auch andere prinzipiell im Ausland verankerte Interpretationen bestehen können. </p>
<h2>Maßnahmen zur Isolierung des Islamismus</h2>
<p>Nun möchte ich einige konkrete Vorschläge zu Maßnahmen machen, mit denen eine derartige Absonderung zu Islamisten funktionieren kann. In einem säkularen Staat ist die direkte Einflusnahme auf – grundsätzlich freie – Religionen äußerst heikel, aber zumindest indirekt möglich, wenn die Ausübung an allgemeingültige Grenzen stößt, wie etwa bei dem <a href="https://noctulog.net/posts/2017/11/12/kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz/">Verbot der Gesichtsverschleierung</a>, das ebenfalls eine Isolierung und Unsichtbarmachung islamistischer Praktiken bezweckt. Ich möchte hier drei Grundpfeiler einer solchen Strategie skizzieren:</p>
<ol>
<li>Ein <em>klares politisches und gesellschaftliches Narrativ</em>, das die Trennlinie klar macht: Der Islam gehört zu Europa, nicht aber der Islamismus. Begriffe wie „Europäischer Islam“ und „Muslime“ sollen klar positiv besetzt werden, islamistische Strömungen dagegen systematisch negativ, etwa durch den in Frankreich geprägten Begriff <a href="https://www.lemonde.fr/politique/article/2020/02/18/emmanuel-macron-en-deplacement-a-mulhouse-veut-lutter-contre-le-separatisme-islamiste_6029978_823448.html">„islamistischer Separatismus“</a>.<sup id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-12-back"><a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-12" class="simple-footnote" title="„Politischer Islam“ ist zwar kein grundsätzlich falscher Begriff, aber semantisch noch zu nah an „Islam“, um hier den gewünschten Effekt zu erzielen.">12</a></sup> Der Schutz von Muslimen gegenüber Übergriffen soll ebenso deutlich thematisiert werden wie Razzien gegen Terroristen und ihre Unterstützer.</li>
<li>Ein ebenso klares <em>internationales Narrativ</em>, insbesondere für die muslimische Welt, um das islamistische Narrativ der Feindschaft zwischen Westen und Islam zurückzudrängen. Dabei muss die Bedeutung des „europäischen Islam“ als gleichwertiges Pendant zu anderen islamischen Strömungen hervorgehoben werden. Als <em>gemeinsamer Feind</em> Europas und aller Muslime kann der „Terrorismus“ dienen werden, der weltweit tatsächlich hauptsächlich Muslime trifft. Bei Angriffen von islamistischen Staaten (etwa im Karikaturenstreit) sollte deutlich auf die Heuchlerei eingegangen werden, etwa auf ihr Schweigen bei den tatsächlichen Verbrechen Chinas gegen Milionen von Muslimen, wohingegen Europa sich deutlich positioniert hat.<sup id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-13-back"><a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-13" class="simple-footnote" title="Dadurch entsteht ein starkes Druckmittel auf muslimische Staaten, erst gar nicht mit der Einmischung in interne Angelegenheiten Europas zu beginnen.">13</a></sup></li>
<li><em>Institutionelle Unterstützung für den „europäischen Islam“</em> durch gezielte Vergabe von Forschungsgeldern für islamische Theologie, Medienförderung und Projektfinanzierung für interreligiösen Dialog. Darüber hinaus sollen externe Einflüsse sowohl im Diskurs marginalisiert („fremde Strömungen im Islam“) werden als auch durch Finanzierungsbeschränkungen, über die Erfordernis der vollständigen Ausbildung für alle Imame und Religionslehrer in Europa oder eine verpflichtende Berücksichtigung säkularer Grundsätze in universitären und schulischen Lehrplänen für den Islam.</li>
</ol>
<p>Fasst man diese Maßnahmen auf den vorherigen Diagrammen zusammen, ergibt sich ein recht einfaches Merkbild, auf dem farblich die Einstellung zu unterschiedlichen Gruppen bzw. Institutionen festgehalten wird.</p>
<p><a href="https://noctulog.net/images/muslime-europa-2.png" data-featherlight="image"><img src="https://noctulog.net/images/muslime-europa-2.png" alt="Muslime in Europa"></a></p>
<p><a href="https://noctulog.net/images/islam-europa-2.png" data-featherlight="image"><img src="https://noctulog.net/images/islam-europa-2.png" alt="Islam in Europa"></a></p>
<p>Abschließend möchte ich noch anmerken, dass diese Trennung nicht nur notwendig ist, um die <em>Selbstsegregierung</em> von Muslimen zu unterbinden, sondern auch geeignet ist, um <em>Diskriminierung</em> vonseiten der Gesamtgesellschaft zu reduzieren. Der „Islamismus“ kann als Feindbild dafür dienen, wofür sonst oft der „Islam“ als Ganzes herhalten müsste; ebenso kann der „europäische Islam“ ein positiver Anknüpfungspunkt für Nichtmuslime sein, der weniger Ängste hervorruft als es „Islam“ alleine tun würde. </p>
<p><strong>Nachtrag (28.2.2021):</strong> In den letzten Monaten haben mehrere Stimmen aus der islamischen Glaubensgemeinschaft, wie etwa <a href="https://www.derstandard.at/story/2000122024922/muessen-muslime-zusammenhalten-die-solidaritaetsfalle">Ruşen Timur Aksak</a>, nicht nur von Terroristen desolidarisiert, sondern auch von jenen, die Islamismus und Salafismus nicht als dahinterliegendes Problem erkennen. Diese Tendenzen zur internen Absonderung des Islamismus sind erfreulich und zeigen, dass die hier skizzierte Strategie nicht unrealistisch ist.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-1">Der Anschlag hat wohl weniger Tote verursacht als die vollen Restaurants und Bars mitten im Coronaausbruch. <a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-2">In ihren Feldstudien <em>Wut</em> (2018) und <em>Radikalisierungsmaschinen</em> (2019) zeigt <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Julia_Ebner">Julia Ebner</a>, dass dieses Ideal in der islamistischen Praxis bis heute eine zentrale Rolle einnimmt. <a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-3">Nach dem Attentat von Wien war diese Tendenz nicht besonders ausgeprägt, aber dennoch <a href="https://www.derstandard.at/story/2000121531959/polizei-eskortierte-auto-das-ueber-lautsprecher-schuesse-abspielte">existent</a>. <a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-4">Dazu gibt es unzählige Studien, z. B. <a href="https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1002/ejsp.2362#">Obaidi et al. (2018)</a> die durchaus auch auf langfristige wirtschaftliche Effekte hinweisen <a href="http://crest.science/RePEc/wpstorage/2019-22.pdf">Wagner, Petev (2019)</a>. <a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-5">Auch zu dieser negativen „Reaktion auf die Reaktion“ gibt es dutzende Studien aus verschiedenen europäischen Kontexten, u.a. <a href="https://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/15205436.2018.1430832">Neumann et al. (2018)</a> über Muslime aus Deutschland und den Niederlanden. <a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-6">Selbstverständlich gibt es ganz unterschiedliche Formen des Islamismus, sowohl schiitischer als auch sunnitischer Prägung, die untereinander in erbittertem Konflikt stehen. Den Grundgedanken des Primats der islamischen Theologie über menschengemachtes Recht teilen sie. <a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-7">Das Spiegelbild dazu sind Rechtsextreme, die ebenfalls, nur von außen, die Zugehörigkeit zum Islam essentialisieren und Kontakte über Religionsgrenzen hinweg zu unterbinden suchen. <a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-8">Die Grafik über die Bedeutung des Islams für Muslime ist jedenfalls kompatibel mit den Zahlen aus Studien des Österreichischen Integrationsfonds aus <a href="https://www.integrationsfonds.at/fileadmin/content/AT/Fotos/Publikationen/Forschungsbericht/Forschungsbericht_Muslimische_Gruppen_in_OEsterreich_web.pdf">2017</a> und <a href="https://www.integrationsfonds.at/fileadmin/content/AT/Downloads/Publikationen/FoBe_Guengoer_Gesamt_Ansicht.pdf">2019</a>. Natürlich könnten zahlreiche weitere Unterscheidungen nach Herkunftsland, Form des Islam, Verweildauer in Europa, usw. gemacht werden, die jedoch für die Grundsatzfrage nicht relevant erscheinen. <a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-9">Dies ist natürlich eine je nach Land unterschiedliche Grauzone, die nicht unbedingt eindimensional und schon gar nicht eindeutig gezogen werden kann, aber hier geht es um die grundsätzliche Existenz einer solchen Grenze. <a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-10">Um kurz auf die Frage des Kopftuchs einzugehen: Das Kopftuch ist ein deutliches Segregationsmerkmal und als solches für die Integration ein Hindernis, aber keine grundsätzlich ideologische Barriere dafür. Die wünschenswerte Reduktion des Kopftuchtragens sollte deshalb nicht über den Ausschluss von kopftuchtragenden Frauen aus dem Alltag geschehen, sondern über eine Förderung von Interpretationen, die den Kopftuchzwang ablehnen (siehe weiter unten). <a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-10-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-11">Auch hier gilt, dass die Islamisten aus der Türkei und etwa aus Saudi-Arabien zwar keinesfalls befreundet sind, aber durch ihren Wettbewerb den Einfluss des Islamismus weltweit und auch in Europa insgesamt stärken. <a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-11-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-12">„Politischer Islam“ ist zwar kein grundsätzlich falscher Begriff, aber semantisch noch zu nah an „Islam“, um hier den gewünschten Effekt zu erzielen. <a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-12-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-13">Dadurch entsteht ein starkes Druckmittel auf muslimische Staaten, erst gar nicht mit der Einmischung in interne Angelegenheiten Europas zu beginnen. <a href="#sf-nach-terror-islamismus-notwendige-spaltung-islam-europa-13-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Migration und Integration: für eine Grundsatzdebatte2020-11-07T00:00:00+01:002020-11-07T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2020-11-07:/posts/2020/11/07/migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation/<p>Migration und Integration werden die Zukunft Europas maßgeblich prägen. Deshalb ist es alarmierend, dass der Diskurs über diese Themen von vorgefertigtem ideologischen Geplänkel über irrelevante Maßnahmen dominiert wird und dabei nicht auf die eigentlich verfolgten Ziele und soziologischen Rahmenbedigungen eingegangen wird. In diesem Artikel möchte ich deshalb knapp, aber dennoch nachvollziehbar darstellen, welche Faktoren Integration und Segregation prägen, warum Integration meines Erachtens ein erstrebenswertes Ideal ist und mit welchen Mitteln es erreicht werden kann. Ein Beitrag, der versucht einen über Schuldzuweisungen („latenter Rassismus“, „Integrationsunwilligkeit“) hinauszugehen und die Fragen anspricht: Wie und warum passiert Integration (nicht)? Was ist eigentlich das Ziel im Umgang mit Migration?</p><p>Migration und der Umgang mit Migranten sind wohl die Phänomene, die den Werdegang Europas in den nächsten Jahrzehnten am meisten prägen werden.<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-1-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-1" class="simple-footnote" title="Die massive globale Klimaerwärmung oder Transformationen von Produktion und Arbeit sind natürlich essentielle weltweite Herausforderungen; in Europa werden sie sich aber eben auch hauptsächlich über die Phänomene der Migration und Integration auswirken.[/ref.] Bereits jetzt ist die Auseinandersetzung mit Immigration und Integration – implizit oder explizit – das politische Leitthema in Westeuropa; in Ost- und Südosteuropa steht Auswanderung ähnlich hoch auf der Agenda.">1</a></sup></p>
<p>Angesichts dieser Situation ist es verwunderlich und auch problematisch, dass die Frage sich nur in einer sterilen, binären Gegenüberstellung zwischen den sogenannten „harten“ und „offenen“ Linien bei der Einwanderungspolitik, zwischen „Assimilation“ und „Multikulturalismus“,<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-2-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-2" class="simple-footnote" title="Ein Terminus, den ich nicht verwenden möchte, weil er keinen klaren Inhalt hat und darüber hinaus zu einem ideologischen Kampfbegriff geworden ist, der von unterschiedlichen Seiten ganz anders verwendet wird.">2</a></sup> zwischen „Hol-“ und „Bringschuld“ bei der Integration darstellt. Diese Konfrontation, die sich rein auf die Ebene der Maßnahmen bezieht, verdeckt den Blik auf die zugrunde liegenden Sachverhalte, Hypothesen und Theorien und auf mögliche alternative Handlungsoptionen. Welche soziologischen Tendenzen sind bei Migration zu beobachten? Welches Ziel kann sich eine Gesellschaft im Umgang mit Migration setzen?</p>
<p>Ich möchte in diesem Artikel einen Teil dieser dringend notwendigen Grundlagenarbeit leisten und auch darlegen, welche Zukunftsperspektiven bei der Migrations- und Integrationsthematik aus meiner Sicht bestehen. </p>
<blockquote>
<p>Die Konfrontation zwischen „harter“ und „offener“ Linie der Einwanderungspolitik, und die damit einhergehende „Schuldfrage“ – undankbare Migranten oder rassistische Einheimische? – ist steril und verdeckt essentielle Fragen: Wie und warum passiert Integration (nicht)? Was ist eigentlich das Ziel im Umgang mit Migration?</p>
</blockquote>
<h2>Schlüsselbegriffe</h2>
<p>Dass die öffentliche Debatte zu Migration und Integration derart unzulänglich geführt wird, hängt zu einem großen Teil mit der Unklarheit der verwendeten Begriffe zusammen, die aus verschiedenen ideologischen Perspektiven unterschiedlich definiert und aufgeladen werden. Zunächst erscheint es mir deshalb notwendig, die Begriffe, die ich verwenden werde, zu definieren.<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-3-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-3" class="simple-footnote" title="Für eine ausführlichere Darstellung der Begriffe siehe zum Beispiel Friedrich Heckmann (Hg.), Integration von Migranten, 2015, Wiesbaden:Springer.">3</a></sup></p>
<ul>
<li>Migration: Bewegung von Menschen von einem Ort zu einem anderen, mit der Absicht, sich dort niederzulassen (aus Sicht des Zielorts <em>Immigration</em>).<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-4-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-4" class="simple-footnote" title="In diesem Artikel werde ich in erster Linie auf internationale Migration eingehen, auch wenn das Analysemuster grundsätzlich auch für nationale, regionale, ja lokale Migration anwendbar ist.">4</a></sup></li>
<li>Integration: Prozess,<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-5-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-5" class="simple-footnote" title="Es gibt auch Definitionen, die Integration als Zustand betrachten; ich ziehe es hingegen vor, von einer mehr oder weniger integrierten Gesellschaft zu sprechen.">5</a></sup> der die <em>Segregation</em>, also die Fragmentierung der sozialen Kontakte (Arbeit, Freundschaft, Sport, Liebe usw.) zwischen unterschiedlichen Untergruppen reduziert. Die Natur der Untergruppen – sozial, ethnisch, religiös, politisch, geografisch usw. – ist dabei zunächst nicht bestimmt. Eine völlig integrierte, unfragmentierte Gesellschaft ist eine, bei der menschliche Beziehungen komplett unabhängig von Gruppenzugehörigkeiten sind.<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-6-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-6" class="simple-footnote" title="Das bedeutet nicht, dass alle Menschen gleich sind, sondern lediglich, dass sie auf Basis individueller Präferenzen und Identitäten interagieren, nicht auf der Grundlage von Gruppenzugehörigkeiten.">6</a></sup></li>
<li>Integration im Migrantionskontext: Verminderung der Fragmentierung der Gesellschaft entlang der (echten oder zugeschriebenen) Zugehörigkeit zu eingewanderten Gruppen. Diese Form der Integration reduziert die Bedeutung von mit Migration assoziierten – z. B. ethnischen, religiösen, sprachlichen usw. – Faktoren für zwischenmenschliche Beziehungen.<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-7-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-7" class="simple-footnote" title="Ein alternativer Begriff wäre zum Beispiel jener der Verwirklichungschance, der zwar mit Integration zusammenhängt, aber eine andere Frage beantwortet („Kann ein Einzelner grundsätzlich alles werden?“) und nicht die Kontakte in der Gesellschaft betrachtet („Wieviel Austausch gibt es zwischen Migraten und Einheimischen?“). Ich betrachte die Frage nach der Integration als grundlegender.">7</a></sup></li>
<li>Assimilation: Integrationsprozess, der darin besteht, dass Einwandernde sich den Einheimischen angleichen und schließlich nicht mehr von ihnen zu unterscheiden sind.</li>
<li>Synkretismus: Integrationsprozess, der darin besteht, dass Einwandernde und schon länger Ansässige sich aufgrund von gegenseitigem Austausch einander angleichen, sodass sie untereinander nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind.</li>
<li>Integrations- und Segregationsfaktoren<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-8-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-8" class="simple-footnote" title="Diesen Begriff möchte zunächst ich rein deskriptiv verwenden; die Alternativen dazu wären etwas künstlich, wie „Desintegrationsfaktor“ oder „Spaltungsfaktor“.">8</a></sup>: Einflüsse, die zu Integration oder im Gegenteil zu einer stärkeren Fragmentierung der Gesellschaft führen. Manche Faktoren können zugleich integrierend und segregierend wirken, weil sie <em>gewisse</em> Fragmentierungen fördern und dabei <em>andere</em> reduzieren. </li>
</ul>
<p>Ein Begriff, den ich <em>nicht</em> verwenden möchte, ist „Verantwortung“ oder der „Schuld“ an unzureichender Integration – sind es die „undankbaren Migranten“? oder doch eher die „fremdenfeindlichen Autochtonen“? Bei einer soziologischen und im weiteren Verlauf politischen Untersuchung ist die Verwendung derartiger Termini ein schwerer Kategorienfehler, weil Verantwortung und Schuld bei <em>Individuen</em> (etwa bei einem Islamisten oder bei einer Rassistin) festgestellt werden können, aber für die Beschreibung des Zustands einer Gesellschaft und der Bewertung politischer Maßnahmen nicht adäquat sind.</p>
<h2>Wider den Fatalismus</h2>
<p>Als zweite Vorarbeit für die eigentlichen Analyse von Migration und Integration möchte ich zwei fatalistische Fehleinschätzungen aus dem Weg räumen, welche dazu beitragen, die Debatte zum Thema zu vergiften. </p>
<p>Die erste ist, dass Migration eine Art <em>Naturgewalt</em> ist, die immer schon existiert hat und deshalb auch durch nichts beeinflusst werden kann. Dass es Migration immer gegeben hat und immer geben wird, steht außer Frage, aber die Geschichte zeigt genauso deutlich, dass Migration in ihrem Ausmaß und ihrer Ausformung, von zahlreichen Faktoren sowohl in den Ursprungs- als auch in den Zielländern abhängt, die durchaus politisch beeinflusst werden können.<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-9-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-9" class="simple-footnote" title="Die Migrationsgeschichte der Vereinigten Staaten liefert dazu gleich mehrere Beispiele, siehe auch ausführlicher bei Conzen et al., The Invention of Ethnicity: A Perspective from the u.s.a., 1992.">9</a></sup> </p>
<p>Eine zweite fatalistische Hypothese ist, dass Migration <em>notwendigerweise</em> zur Katastrophe führen muss, weil eine zunehmende „Überfremdung“ zur Zerstörung des Staatsgebildes führt. Auch hier gibt es zahlreiche Gegenbeispiele von relativ stabilen Staatsgebilden, die langfristige und signifikante Migration von durchaus fremden Kulturkreisen erfahren haben und nicht zusammengebrochen sind. Auch hier besteht eine große politische Gestaltungsmöglichkeit, die zwischen erfolgreicher und erfolgloser Vermittlung von Migration entscheidet. Die Grundannahme dieser Untersuchung ist also zweifach antifatalistisch: </p>
<blockquote>
<p>Migration und Integration sind politisch beeinflussbar. Weder ist Immigration „unausweichlich“ noch Integration „unmöglich“. </p>
</blockquote>
<h2>Empirische Postulate</h2>
<p>Nachdem der begriffliche Rahmen feststeht, werde ich drei soziologische Beobachtungen über desintegrierende und integrierende Faktoren im Migrationskontext darlegen und begründen.<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-10-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-10" class="simple-footnote" title="Es handelt sich natürlich nicht um eine ausführliche theoretische Abhandlung über die Soziologie von Migration und Integration; die Thesen sind erweiterbar und können auch empirisch widerlegt werden. Dennoch glaube ich, damit die wichtigsten Faktoren erfasst zu haben.">10</a></sup> </p>
<h3>Segregationsfaktoren</h3>
<blockquote>
<p>Identifizierbarkeit einer Gruppe ist ein Segregationsfaktor. Je einfacher Mitglieder einer Gruppe anhand ihres Aussehens, ihrer Sprache, ihrer Kleidung usw. zugeordnet werden können, umso schwieriger ist die Integration über die Trennlinie hinweg, weil sowohl Selbst- („einer von uns“) als auch Fremdzuordnung („einer von ihnen“) zur Segregierung beitragen. </p>
</blockquote>
<p>Daraus folgt, dass die Überlagerung mehrerer Trennmerkmale die Integration einer Gruppe erschwert, weil sie die Identifizierbarkeit erhöht. Eine Gruppe, die durch ethnische und darüber hinaus auch kulturelle und soziale Merkmale selbst- bzw. fremddefiniert wird, wird viel schwerer zu integrieren sein, als eine, die sich nur entlang eines Merkmals unterscheidet.<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-11-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-11" class="simple-footnote" title="An dieser Stelle nochmals die Wiederholung, dass es sich um eine Beobachtung soziologischer Mechanismen handelt, nicht um eine Schuldzuweisung. Es geht mir darum zu erläutern, welche Faktoren Segregation beeinflussen, nicht, die Schuld „Rassisten“ oder „Integrationsverweigerern“ zuzuschreiben.">11</a></sup></p>
<blockquote>
<p>Der geringe sozioökonomische Status von Migranten ist Segregationsfaktor. Migration geht tendenziell mit einem einstweiligen sozialen Abstieg (neue Sprache, neues Land, kaum Bekannte) einher. Bei bereits einkommensschwachen und wenig gebildeten Migranten fällt dieser Effekt stärker aus, da die Codes und Mittel zum sozialen Aufstieg meist nicht greifbar sind und führt zu einer „ethnosozialen“ oder „soziokulturellen“ Segregierung. </p>
</blockquote>
<p>Aus dieser Erkenntnis folgt auch, dass bei einem hohen Anteil von relativ unterdurchschnittlich gebildeten neuen Migranten, wie er derzeit in Europa üblich ist, die soziale Ungleichheit der Empfangsgesellschaft eine wesentliche Rolle spielt. Je ungerechter (also sozial segregierter) die Gesellschaft ist, umso schwieriger wird die Integration von einkommensschwachen Migranten, umso eher wird längerfristig, also auch in späteren Generationen eine ethnosoziale Gruppe entstehen.</p>
<blockquote>
<p>Geografische Trennung ist ein zentraler Segregationsfaktor, weil die meisten sozialen Kontakte in unmittelbarer Nähe des Wohnorts konzentriert sind. Dies gilt nicht nur für migrierte Gruppen, aber gerade bei diesen ist der kumulative Effekt mit anderen Segregationsmechanismen besonders bedeutend.</p>
</blockquote>
<p>Tendenziell etabliert sich eine Form von geographischer Trennung, sobald eine – meist sozioökonomisch schwächere – eingewanderte Gruppe eine gewisse Größe erreicht hat, sowohl aus internem (Leben mit Freunden und Familie, weniger Verständigungsschwierigkeiten) als auch aus externem Druck (meiden des Viertels durch Einheimische). Daraus folgt, dass starke Zuwanderung bereits migrierter Gruppen selbst ein Segregationsfaktor ist.</p>
<h3>Integrationsfaktoren</h3>
<p>Es lassen sich zunächst natürlich alle Postulate über Segregationsfaktoren umkehren und in enstprechende Aussagen über Integrationsfaktoren umwandeln. So sind eine geringe Identifizierbarkeit, ein hoher soziökonomischer Status, eine sozial homogene Empfangsgesellschaft und eine mit geringer, geographisch stark verteilter Migration klarerweise Faktoren, die Integration befördern.</p>
<p>Zusätzlich dazu gibt es einen genuin positiven Integrationsfaktor, der nicht nur in der Abwehr von Segregationsfaktoren besteht: das Bestehen einer gesellschaftsübergreifenden <em>Identität</em>, das Verständnis, das all jene, die in einer Gesellschaft leben, grundlegende verbindende Regeln und Werte teilen, ja in gewisser Weise auch ein gemeinsames Schicksal. Eine solche Identität kann auf verschiedenen Ebenen existieren und wirkt <em>dort</em> integrativ – eine Lokalidentität auf der Mikroebene, eine nationale oder supranationale Identität auf Makroebene; für die nächste höhere Ebene kann sie aber auch segregierend wirken (z. B. starke Lokalidentität in Abgrenzung zur nationalen Identität).</p>
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<p>Das Bestehen einer Reihe von gesamtgesellschaftlich geteilten Identifikationsmerkmalen – eine gemeinsame Identität – ist ein wesentlicher Integrationsfaktor. </p>
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<p>Genauso bedeutend für das Verständnis langfristiger Integration ist zudem, dass sie primär in einem sehr spezifischen Mikrokosmos – in Kindergärten und Schulen – stattfindet. Dieser Mikrokosmos bildet zu einem gewissen Grad die zukünftige Gesellschaft ab, ist aber um ein Vielfaches formbarer und kontrollierbarer. Das hohe Lernvermögen und die rasche Entwicklung von Kindern, ihre Fähigkeit, sofort neue Kontakte zu knüpfen, verbinden sich mit einer beispiellosen staatlichen Einflussnahme<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-12-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-12" class="simple-footnote" title="Einzig in Gefängnissen gibt es ein ähnlich umfassendes Regelprogramm, das jedoch weit weniger Tragweite hat, da es nur auf einen winzigen, als problematisch erachteten Teil der Bevölkerung wirkt.">12</a></sup> auf das Schulmilieu – durch durchgehende Anwesenheitspflicht, die Auswahl von Lehrpersonal, die Vorgabe von Stunden- und Lehrplänen usw.</p>
<p>Im schulischen Mikrokosmos ist Integration deutlich einfacher zu erreichen als in der Gesamtgesellschaft: Sprachliche Barrieren können durch Förderung innerhalb weniger Monate überwunden, Identifikationsmerkmale durch Kleidungs- und Verhaltensvorschriften eingedämmt, geographische Segregierung durch eine aktive Durchmischung des Einzugsgebiets neutralisiert, soziale Unterschiede durch frühe und lange Einschulung und Ganztagsschule minimiert werden. Schule ist also der Raum für Integration par excellence. </p>
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<p>Das Bildungssystem ist ein Mikrokosmos, der in vielerlei Hinsicht die Zukunft der Gesellschaft abbildet; dieser Mikrokosmos ist wesentlich einfacher zu beeinflussen und steuern denn die Gesellschaft als Ganzes. Langfristige Integration ist also am effektivsten im Schulmilieu zu erreichen.</p>
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<h2>Die Zielsetung</h2>
<p>Ich möchte nun zum normativen Teil dieses Essays kommen und ein Ziel – den Idealzustand – <em>explizit</em> darstellen. Auch auf diesen einfachen Schritt wird im öffentlichen Diskurs um Integration verzichtet und deshalb die Debatten über die Umsetzung mit jener über die Zielsetzung vermischt. </p>
<p>Das <em>Ausmaß</em> der gewünschten Migration ist im Hinblick auf die demographische und wirtschaftliche Situation zu bestimmen – es kann hier keine einheitliche Vorgabe für ganz Europa geben. Länder mit schwächerer Demographie und stärker wachsender Wirtschaft werden grundsätzlich einen stärkeren Bedarf an Immigration haben, als andere. Ist einmal ein Ausmaß an Migration anhand von gesamtwirtschaftlichen Kriterien festgelegt, stellt sich die Frage nach der Art, damit umzugehen, nach dem Ausmaß der gewünschten Integration von Migranten. Dazu zählen konkrete Fragen wie: Sollen sich Viertel mit überwiegender Mehrheit von Migranten herausbilden können? Sollen Einwanderergruppen die sozialen Strukturen ihrer jeweiligen Herkunftsorte im Empfangsland reproduzieren? Ist eine geringe Anzahl von „Mischehen“ ein gesellschaftliches Problem?</p>
<p>Mir erscheint gleich aus mehreren Gründen eine möglichst wenig ethnisch, religiös, sozial usw. segregierte Gesellschaft wünschenswert. Zunächst, weil Segregation immer im Keim eine Ungerechtigkeit trägt: ein in eine gespaltene Gesellschaft geborenes Kind wird je nach Gruppenzugehörigkeit ganz unterschiedliche Bedingungen und Entfaltungsmöglichkeiten haben. Noch wichtiger ist jedoch, dass eine segregierte Gesellschaft nur schwer demokratisch zu verwalten ist: Weil Interessen großteils Gruppenzugehörigkeiten abbilden, kristallisiert sich entweder ein staatliches Repräsentationssystem heraus, das die segregierten Gruppen einbezieht (z. B. ethnische Parteien in einem ethnisch segregierten Staat) und in dem aufgrund des <em>Klientelismus</em> oder Proporzsystem das Allgemeinwohl in den Hintergrund gerät, oder die staatliche Repräsentation gliedert sich entlang anderer Linien, die aber die Realität nicht abbilden, was zu einer Legitimitätskrise der demokratischen Institutionen führt (hoher Nichtwähleranteil, Politikverdrossenheit, Ablehnung des Staats), die zu einer Gefahr für das System selbst werden kann.<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-13-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-13" class="simple-footnote" title="Es gibt natürlich Alternativen zum Parteiensystem, die diesbezüglich robuster sind, wie etwa die zufällige Auswahl der Volksvertreter, nur finden sie bislang kaum eine Anwendung.">13</a></sup> Beide Varianten gefährden mittelfristig die Substanz des Staats.</p>
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<p>Eine wenig segregierte Gesellschaft erscheint mir als ein erstrebenswertes politisches Ziel, sowohl allgemein als auch spezifisch im Hinblick auf Merkmale, die mit Migration zusammenhängen (ethnisch, religiös, sprachlich usw.).</p>
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<h2>Die Umsetzung</h2>
<p>Nachdem die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Zielsetzung erläutert wurden, kann nun zum dritten und letzten Schritt übergegangen werden – zur Formulierung konkreter politischer Maßnahmen, die der Integration in der Gesellschaft zuträglich sind. Dabei liegt es nahe, zu untersuchen, wie die im vorletzten Abschnitt dargestellten Integrationsfaktoren begünstigt und Segregationsfaktoren zurückgedrängt werden können. </p>
<p>Um eine gemeinsame gesellschaftliche Identität zu stärken, ist es ein durchaus wirksamer erster Schritt, sich politisch dazu zu bekennen und sie explizit auszuformulieren. Ein klares, für alle verständliches Bekenntnis zu einer gemeinsamen Grundidentität sollte auch institutionell verankert werden und in Gesetzestexte, in Lehrprogramme und Integrationsvereinbarungen aufgenommen werden.</p>
<p>Es wäre ein Irrtum, dies als „reaktionären“ Vorschlag abzutun, der auf einen Urzustand ohne Migranten oder ein vollständiges Verschwinden der migrantischen Identitäten abzielen würde. Ganz im Gegenteil – eine gemeinsame Identität kann durchaus aufgeklärt und nicht folklorisierend sein; sie kann kulturell und nicht ethnoreligiös sein, sie kann zu einem gewissen Grad wandelbar sein und migrantische Einflüsse aufnehmen.<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-14-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-14" class="simple-footnote" title="Damit wird auch die steril geführte Debatte, wer an Integrationsmangel schuld sei („Hol- oder Bringschuld?“) durchbrochen, weil klar wird, dass es zum Gemeinsamen gemeinsames Bekenntnis geben muss.">14</a></sup> Wichtig ist nur, dass sie möglichst breit geteilt wird, dass die Änderungen langsam getragen werden. </p>
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<p>Ein deutliches politisches Bekenntnis zum Ideal einer nicht-segregierten Gesellschaft, zu einer gemeinsamen Grundidentität, die Gruppenzugehörigkeiten, Herkunft und soziale Klasse transzendiert, ist notwendig.</p>
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<p>Eine zweite essentielle Erkenntis im Bereich der Umsetzung betrifft die gezielte Implementierung desegregierender Maßnahmen, die umso umfangreicher sein muss, je stärker die intrinsische Tendenz zur Segregation ist – also je einkommensschwächer, identifizierbarer, geographisch konzentrierter und ungebildeter die betroffene Gruppe ist. Es ist ganz offensichtlich, dass zum Beispiel wenig gebildete Migranten aus Afghanistan aufwändigere und kostspieligere staatliche Maßnahmen zur erfolgreichen Integration benötigen werden, als etwa Migranten mit Universitätsabschluss aus der Europäischen Union. Zur Berücksichtigung dieses Sachverhalts könnte ein Punktesystem implementiert werden, mit dem der Bedarf an Maßnahmen für jeden Migranten erhoben wird: Wieviel Sprach- und Kulturkurse, wieviel finanzielle Unterstützung bei gutem Fortschritt sind notwendig? Braucht es möglicherweise auch direkte oder indirekte Anreize zur geographischen Desegregierung? </p>
<p>In der Realität sind die finanziellen Mittel für derartige Maßnahmen nicht unbeschränkt (auch wenn sie wohl in den meisten Staaten deutlich aufgestockt werden könnten und müssten, weil sie eine äußerst sinnvolle Investition darstellen). Damit geht einher, dass besonders aufwändig zu integrierende Gruppen in geringeren Maßen aufgenommen werden sollten, als leichter zu integrierende Gruppen, etwa aus ähnlichen Sprach- und Kulturräumen. Diese Einsicht ist nicht diskriminierend, sondern im Gegenteil eine Grundbedingung, um Diskriminierung zu unterbinden: Es sind primär die am schwersten zu integrierenden Migranten, die später an der gesellschaftlichen Spaltung leiden, nicht die Einheimischen.<sup id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-15-back"><a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-15" class="simple-footnote" title="Hier eine kurze Bemerkung zur Flüchtlingskrise von 2015. Das berühmte „Wir schaffen das!“ ist ein Slogan, der hätte stimmen können, wäre das Ausmaß der Herausforderung angesichts der sehr spezifischen einwandernden Gruppen erkannt und entsprechende massive Mittel und Desegregierungsmaßnahmen bereitgestellt worden. Doch hat es sich mittlerweile für viele unter den Einwanderern als Betrug entpuppt.">15</a></sup></p>
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<p>Aktive Desegregierung ist für Gruppen, für die grundsätzlich besonders starke (ethnische, religiöse, sprachliche, soziale usw.) segregierende Faktoren bestehen, mit einem größeren Aufwand verbunden. Wenn die finanziellen Ressourcen begrenzt sind und Integration als Ziel beibehalten wird, muss also die Aufnahmekapazität für diese Gruppen eingeschränkt werden. </p>
</blockquote>
<p>Die dritte konkrete Maßnahme zielt auf den Sonderbereich der Schule ab, der wie oben dargelegt der primäre Raum für effektive Integrationsmaßnahmen ist. Im Schulbereich sind die nachhaltigsten und weitereichendsten aber auch kostengünstigsten Maßnahmen möglich, in der Schule können auch sonst sehr schwer zu erreichende Gruppen innerhalb einiger Jahrzehnte zur Teilhabe gebracht werden. </p>
<p>Es muss zur Notwendigkeit gestanden werden, von diesen einzigartigen Möglichkeiten für die Integration Gebrauch zu machen, auch wenn sie oft unpopulär sein mögen – im Übrigen sowohl bei Migranten als auch bei Einheimischen, die beide aus etablierten Strukturen herausgerissen werden. Effektive Integrationsmaßnahmen wären etwa eine radikale geographische Durchmischung der Schulsprengel (z. B. nach einem strengen Zufallsprinzip); eine starke Einschränkung der Freiheit von Privatschulen (z. B. die Zuweisung eines signifikanten Anteils von zufällig ausgwählten „öffentlichen“ Schülern an Privatschulen), eine Ausweitung der Unterrichtszeiten und Pflichtschuldauer; eine besondere Unterstützung bei Sprachdefiziten bei gleichzeitiger weiterer gemeinsamer Einschulung mit anderen Kindern; die Betonung der bereits erwähnten gemeinsamen Identität im Lehrplan; die Einschränkung von Heimunterricht; das Verbot gewisser religiöser Identifikationsmerkmale; usw. </p>
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<p>Die aktive Desegregierung im Schulbereich ist das effizienteste Mittel für nachhaltige Integration. Auch ihre Maßnahmen müssen umso einschneidender sein, je höher der Migrationsanteil und je stärker die soziologische Grundtendenz zur Segregation sind. Dabei sind gewisse fundamentale Einschränkungen – etwa betreffend die freie Schulwahl – in Kauf zu nehmen. </p>
</blockquote>
<h2>Assimilation oder Synkretismus</h2>
<p>Abschließend noch eine Bemerkung zur Wahl zwischen <em>Assimilation</em> und <em>Synkretismus</em>, die ich bislang nicht angesprochen habe. Es wird von der jeweiligen Gesellschaft, der Herkunft und Anzahl der Immigrierenden, der Flexibilität der Einheimischen abhängen, wie stark der gegenseitige Einfluss sein kann. Traditionelle Einwanderungsländer werden es leichter haben, sich recht stark von Einwanderern beeinflussen zu lassen, während traditionelle Auswanderungsländer mit einer statischeren Kultur dafür weniger geeignet sein werden. </p>
<p>Meines Erachtens ist diese Frage aber ohnehin zweitrangig – wesentlicher ist, dass das Ziel der <em>Integration</em>, die Notwendigkeit <em>aktiver politischer Desegregierung</em> und die dafür wichtigsten Parameter sowie der essentielle Schauplatz des Bildungssystems erkannt werden.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-1">Die massive globale Klimaerwärmung oder Transformationen von Produktion und Arbeit sind natürlich essentielle weltweite Herausforderungen; in Europa werden sie sich aber eben auch hauptsächlich über die Phänomene der Migration und Integration auswirken.[/ref.] Bereits jetzt ist die Auseinandersetzung mit Immigration und Integration – implizit oder explizit – das politische Leitthema in Westeuropa; in Ost- und Südosteuropa steht Auswanderung ähnlich hoch auf der Agenda. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-2">Ein Terminus, den ich nicht verwenden möchte, weil er keinen klaren Inhalt hat und darüber hinaus zu einem ideologischen Kampfbegriff geworden ist, der von unterschiedlichen Seiten ganz anders verwendet wird. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-3">Für eine ausführlichere Darstellung der Begriffe siehe zum Beispiel Friedrich Heckmann (Hg.), Integration von
Migranten, 2015, Wiesbaden:Springer. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-4">In diesem Artikel werde ich in erster Linie auf <em>internationale</em> Migration eingehen, auch wenn das Analysemuster grundsätzlich auch für nationale, regionale, ja lokale Migration anwendbar ist. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-5">Es gibt auch Definitionen, die Integration als <em>Zustand</em> betrachten; ich ziehe es hingegen vor, von einer mehr oder weniger <em>integrierten Gesellschaft</em> zu sprechen. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-6">Das bedeutet <em>nicht</em>, dass alle Menschen gleich sind, sondern lediglich, dass sie auf Basis individueller Präferenzen und Identitäten interagieren, nicht auf der Grundlage von Gruppenzugehörigkeiten. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-7">Ein alternativer Begriff wäre zum Beispiel jener der <a href="https://www.researchgate.net/profile/Bernhard_Perchinig/publication/286190494_Migration_Integration_und_Staatsburgerschaft_-_was_taugen_die_Begriffe_noch/links/57166af508ae497c1a56ffb5.pdf">Verwirklichungschance</a>, der zwar mit Integration zusammenhängt, aber eine andere Frage beantwortet („Kann <em>ein Einzelner</em> grundsätzlich alles werden?“) und nicht die Kontakte in der Gesellschaft betrachtet („Wieviel Austausch gibt es zwischen Migraten und Einheimischen?“). Ich betrachte die Frage nach der Integration als grundlegender. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-8">Diesen Begriff möchte zunächst ich rein <em>deskriptiv</em> verwenden; die Alternativen dazu wären etwas künstlich, wie „Desintegrationsfaktor“ oder „Spaltungsfaktor“. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-9">Die <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/History_of_immigration_to_the_United_States">Migrationsgeschichte der Vereinigten Staaten</a> liefert dazu gleich mehrere Beispiele, siehe auch ausführlicher bei Conzen et al., <a href="https://www.jstor.org/stable/27501011">The Invention of Ethnicity: A Perspective from the u.s.a.</a>, 1992. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-10">Es handelt sich natürlich nicht um eine ausführliche theoretische Abhandlung über die Soziologie von Migration und Integration; die Thesen sind erweiterbar und können auch empirisch widerlegt werden. Dennoch glaube ich, damit die wichtigsten Faktoren erfasst zu haben. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-10-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-11">An dieser Stelle nochmals die Wiederholung, dass es sich um eine Beobachtung soziologischer Mechanismen handelt, nicht um eine Schuldzuweisung. Es geht mir darum zu erläutern, welche Faktoren Segregation beeinflussen, nicht, die Schuld „Rassisten“ oder „Integrationsverweigerern“ zuzuschreiben. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-11-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-12">Einzig in Gefängnissen gibt es ein ähnlich umfassendes Regelprogramm, das jedoch weit weniger Tragweite hat, da es nur auf einen winzigen, als problematisch erachteten Teil der Bevölkerung wirkt. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-12-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-13">Es gibt natürlich Alternativen zum Parteiensystem, die diesbezüglich robuster sind, wie etwa die <a href="https://lpql.net/democracy-without-elections-sortition-en.html">zufällige Auswahl der Volksvertreter</a>, nur finden sie bislang kaum eine Anwendung. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-13-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-14">Damit wird auch die steril geführte Debatte, wer an Integrationsmangel schuld sei („Hol- oder Bringschuld?“) durchbrochen, weil klar wird, dass es zum Gemeinsamen gemeinsames Bekenntnis geben muss. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-14-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-15">Hier eine kurze Bemerkung zur Flüchtlingskrise von 2015. Das berühmte „Wir schaffen das!“ ist ein Slogan, der <em>hätte stimmen können</em>, wäre das Ausmaß der Herausforderung angesichts der sehr spezifischen einwandernden Gruppen erkannt und entsprechende massive Mittel und Desegregierungsmaßnahmen bereitgestellt worden. Doch hat es sich mittlerweile für viele <em>unter den Einwanderern</em> als Betrug entpuppt. <a href="#sf-migration-integration-grundsatzdebatte-segregation-einwanderung-assimilation-15-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Grundlagen der außenpolitischen Analyse: Akteure, Ziele, Handlungen2020-06-07T00:00:00+02:002020-06-07T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2020-06-07:/posts/2020/06/07/grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen/<p>In diesem Beitrag wird eine simples Analysemuster für außenpolitische Beziehungen vorgeschlagen, das auf den den Konzepten <em>Akteur</em>, <em>Ziel</em> und <em>Handlung</em> aufbaut. Außenpolitische Akteure (Staaten, aber auch internationale Organisationen, Firmen, Vereine usw.) formulieren – aufgrund vielfältiger Hintergrundfaktoren und nicht notwendigerweise rational – Ziele, die dann durch geeignete Handlungen umgesetzt werden. Von diesem Idealtypus wird in der Realität vielfach abgegangen, etwa in dem Ziele nicht formuliert oder Handlungen durch Äußerungen ersetzt werden.</p><p>Außenpolitik ist ein schwieriges und für viele suspektes Terrain. Das rührt einerseits daher, dass sie zu einem großen Teil hinter verschlossenen Türen stattfindet und sich der medialen Analyse und öffentlichen Kontrolle entzieht, aber auch am Fehlen eines einfachen Analysemusters der Entscheidungen und Handlungen, wie sie in der Innenpolitik existieren. In diesem Beitrag möchte ich ein solches Grundmuster vorschlagen und dann auf drei wichtige Abweichungen von diesem Muster eingehen, die einen großen Teil der außenpolitischen Handlungen abdecken.</p>
<h2>Das Grundmotiv: Akteure – Ziele – Handlungen</h2>
<p>Zunächst möche ich zunächst das grundlegende Paradigma zur Beschreibung und Analyse außenpolitischer Beziehungen<sup id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-1-back"><a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-1" class="simple-footnote" title="Grundsätzlich eignet es sich für jede Form individueller und sozialer Interaktion. Die Abweichungen davon werden außenpolitische Spezifizitäten aufweisen.">1</a></sup> vorstellen, das zwar nicht besonders innovativ ist, aber als Gerüst für die Analyse und diplomatische Praxis ausreicht das die drei fundamentalen Fragen beanwortet: <em>Wer</em> handelt, <em>weshalb</em> und <em>wie</em>? </p>
<h3>Akteure</h3>
<p><em>Internationale Akteure</em> sind über territoriale Grenzen hinweg tätige Entitäten, die über eine gewisse Autonomie verfügen. Neben Staaten und internationalen Organisationen<sup id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-2-back"><a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-2" class="simple-footnote" title="Zahlreiche internationale Organisationen bestehen eigentlich aus mehreren Akteuren. Wenn die Hierarchien und Entscheidungsmechanismen unabhängig sind, wie etwa zwischen der Europäischen Kommission und dem Rat oder der Generalversammlung und dem Sekretariat der Vereinten Nationen, ist es sinnvoll, diese Organe als eigenständige Akteure zu betrachten.">2</a></sup> zählen unter vielen anderen auch Konzerne, kriminelle Organisationen, Kirchen, Nichtregierungsorganisationen, politische Bewegungen, Kultur- und Forschungsnetzwerke dazu. Alle beteiligen sich an grenzüberschreitenden Handlungen und Diskursen und wirken über staatliche Grenzen hinaus.</p>
<p>Staaten bleiben aufgrund ihres einzigartigen territorialen Quasi-Gewaltmonpols weiterhin die wichtigsten internationalen Akteure und ich werde mich auch überwiegend auf sie konzentrieren. Grundsätzlich ist die Typisierung aber auf alle Akteure anwendbar.</p>
<h3>Ziele</h3>
<p>Der traditionelle <a href="http://observare.ual.pt/janus.net/en/121-english-en/v7n2/articles/356-vol7-n2-art2-en">Streit</a> über die „wirkliche“, ontologische Erklärung internationaler Zusammenhänge – zwischen Anhängern der Realpolitik („Realismus“ als Kampf um Macht und Überleben) und Wertepolitik („Idealismus“ als Zusammenarbeit entlang gemeinsamer Werte) – ist längst steril und sinnlos. </p>
<p>Es ist offensichtlich, dass – genau wie bei Individuen – nicht ein, sondern eine Vielzahl von nicht aufeinander reduzierbaren Elementen die Entscheidungsprozesse internationaler Akteure maßgeblich beeinflussen: Interessen, Werte, Denkmuster, interne Strukturen, Wissen(slücken), aber auch Empfindungen.<sup id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-3-back"><a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-3" class="simple-footnote" title="Auf welche Weise Gruppen überhaupt entscheiden können („group agency“) ist eine weitreichende philosophische Frage, die u.a. an der Universität Wien erforscht wird. Ich gehe darauf nicht ein und nehme nur an, dass es solche Entscheidungen gibt und sie grundsätzlich in Analogie zu individuellen Entscheidungen verstanden werden können. In gewissen Fällen bricht diese Analogie zusammen, wie sich weiter unten zeigen wird.">3</a></sup> </p>
<p>Diese Elemente können als <em>Hintergrundfaktoren</em> bezeichnet werden. Sie führen, im Kontext der gegenwärtigen Umgebung des Akteurs, zum Wunsch nach einem gewissen Sachverhalt: „Wir wollen S“.<sup id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-4-back"><a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-4" class="simple-footnote" title="Genauer werden verschiedene vorstellbare Sachverhalte nach Präferenz gereiht: S > S’ > S” usw.">4</a></sup> Solche Wünsche nennen wir <em>Ziele</em>, <em>Absichten</em>, oder <em>Handlungsmotive</em>. Sie sind auf vielfältige Art und Weise rationalisierbar – „Wir wollen S weil X,Y,Z“ –, was jedoch nicht bedeutet, dass die Konstituierung der Absicht <em>tatsächlich</em> auf eine rationale Begründung zurückgeht.<sup id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-5-back"><a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-5" class="simple-footnote" title="Die Standardbeschreibung individueller Ziele bei Hume geht überhaupt davon aus, dass es immer einen Gefühlsanteil für Motivation braucht.">5</a></sup> Bei der Untersuchung internationaler Beziehungen sind derartige Rationalisierungen nicht primär von Bedeutung, sondern vielmehr das Ziel selbst.<sup id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-6-back"><a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-6" class="simple-footnote" title="An die Stelle der Erklärung der Absichten sollte deshalb die – ohnehin schon schwierige – sorgfältige Beschreibung der Handlungsmotive treten. Der Drang, sämtliche Motive erklären zu wollen, verhält sich umgekehrt proportional zum Vermögen, diese überhaupt sinnvoll zu beschreiben. Gerade unter Kolumnisten ist die schlechte Angewohnheit weit verbreitet, von China über Russland bis zum Nahen Osten ein- und dieselben Erklärungsmuster – üblicherwiese die eigenen – zu spannen, ohne die Absichten überhaupt zu charakterisieren.">6</a></sup> </p>
<h3>Handlungen</h3>
<p>Die <em>Handlungen</em> der internationalen Akteure folgen nun aus den Zielen: „Wir wollen S, deshalb machen wir H“. Dabei wird (im Gegensatz zur nachträglichen Rationalisierung der Absichten) in erster Näherung <em>rational</em> vorgegangen, das heißt Handlungsoptionen werden daraufhin untersucht, ob sie geeignet sind, um S zu erreichen.<sup id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-7-back"><a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-7" class="simple-footnote" title="Hochtrabender formuliert: sie gehorchen dem hypothetischen Imperativ der praktischen Rationalität Kants.">7</a></sup> </p>
<p>Bei dieser Untersuchung, die H als die den Umständen entsprechend geeignetste Vorgangsweise auszeichnet, fließen wieder jene Hintergrundfaktoren (die Wissenslage und Prognosen) des Akteurs ein. Deshalb ist auch dieser Prozess, obowhl er rational ist, gleichwohl <em>subjektiv</em>.</p>
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<p>Das Grundmodell für die Analyse außenpolitischer Zusammenhänge folgt folgendem Paradigma: (1) Identifikation der relevanten <em>Akteure</em> (Staaten, internationale Organisationen oder deren Organe, Konzerne, usw.); (2) Beschreibung – nicht notwendigerweise Erklärung – ihrer <em>Ziele</em>; (3) Identifikation und Erklärung der rational gesetzten <em>Handlungen</em> als Mittel zur Umsetzung der Absichten. </p>
</blockquote>
<h2>Erste Variation: ziellose Handlungen</h2>
<p>In der Realität wird von der einfachen kausalen Kette Akteur – Ziele – Handlungen vielfach abgewichen. Die wohl häufigste Variation besteht darin, die Handlungsoptionen ohne explizite Ziele zu formulieren und direkt zu bewerten. Anstatt zu fragen: „Was wollen wir und wie kann es erreicht werden?“ wird gefragt „Was kann getan werden?“. </p>
<p>Die folgende Abwägung ist dann üblicherweise nicht zielorientiert sondern <em>regel-</em> beziehungsweise <em>gewohnheitsbasiert</em>, zum Beispiel: „Das hat letztes Mal gut funktioniert.“ oder: „Etwas ähnliches hat bei <span class="caps">XY</span> nicht funktioniert.“ Dieses Verhalten ist sinnvoll, wenn es um sich wiederkehrende Situationen handelt, in denen rasch entschieden und gehandelt werden muss und wo die Handlungsoptionen teilweise vorgegeben sind, wie etwa bei Abstimmungen in internationalen Organisationen. Der Nachteil ist natürlich, dass Handlungsoptionen und Änderungen der Rahmenbedingungen übersehen werden können, wenn die eigenen Ziele nicht mehr formuliert werden. </p>
<blockquote>
<p>Ein Großteil der außenpolitischen Entscheidungen, gerade die kurzfristigen, „taktischen“, beruhen auf einer gewohnheitsmäßigen Beurteilung bereits bekannter Handlungsoptionen. Die <em>Ziele</em> der Handlungen stehen nicht im Vordergrund und werden oftmals nicht einmal formuliert.</p>
</blockquote>
<h2>Zweite Variation: Ersatzhandlungen</h2>
<p>Die zweite Abweichung des oben skizzierten Grundmodells geht in die entgegengesetzte Richtung – der Akteur arbeitet Ziele zwar aus, sucht aber anschließend nicht nach den besten Handlungsoptionen, sondern bleibt bei der Bewertung von bestehenden oder potentiellen Sachverhalten – „Wir wollen X“ oder „Y darf nicht passieren“.</p>
<p>Als Ersatzhandlung tritt oftmals die bloße <em>Äußerung</em> beziehungsweise <em>Erklärung</em> der eigenen Einschätzung, über Interviews, Presseaussendungen usw. in Erscheinung. Streng genommen gibt es also durchaus Handlungen,<sup id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-8-back"><a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-8" class="simple-footnote" title="In einem gewissen Sinn kann alles – auch das Nichthandeln – als eine Art Handlung aufgefasst werden.">8</a></sup> aber nicht solche, die sich rational aus den Absichten ergeben.</p>
<p>Diese Variante hat ebenfalls den Vorteil, dass sie rasch umgesetzt werden kann, gerade in den Fällen, in denen eine bloße Äußerung ohnehin das geeignetste Mittel ist. Im Gegenzug wird die fehlende Abwägung weiterer Handlungsoptionen oft zum Nachteil des Akteurs gereichen. </p>
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<p>In vielen Fällen versucht der Akteur gar nicht erst, die Handlungsoptionen im Hinblick auf die Ziele abzuwägen und beschränkt sich stattdessen auf eine deklamatorische Ersatzhandlung, die in der bloßen Äußerung (und eventuell Erklärung) vermeintlicher Ziele besteht.</p>
</blockquote>
<h2>Dritte Variation: zersplitterte Rationalität</h2>
<p>Die dritte und letzte Variante des Grundmusters tritt dann auf, wenn der außenpolitische Akteur sich nicht erfolgreich als solcher konstituiert, also keine kohärenten Ziele oder Handlungen verfolgt. Dies kann durchaus auch bein einem grundsätzlich institutionell und historisch gefestigten internationalen Akteur, wie einem stabilen Staat, geschehen. </p>
<p>Das wohl offensichtlichste Beispiel dafür ist die <em>parallele Außenpolitik unterschiedlicher Ministerien</em> oder regionaler Regierungsebenen,<sup id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-9-back"><a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-9" class="simple-footnote" title="Zu einem gewissen Grad können auch Parlamente außenpolitisch aktiv werden, was besonders in Präsidialsystemen wie den Vereinigten Staaten relevant ist.">9</a></sup> die sich u.a. aufgrund unterschiedlicher politischen Ausrichtungen und Interessen ergibt und zu inkonsistenter Zielsetzung und Handlungen führt, weil es keine vermittelnde Oberinstanz gibt<sup id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-10-back"><a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-10" class="simple-footnote" title="In Österreich sind etwa alle Minister prinzipiell gleichberechtigt und nicht weisungsgebunden, können also auf europapolitischer Ebene durchaus konträre Ziele verfolgen.">10</a></sup> oder diese nicht funktioniert. Je nach Betrachtung ist der Staat in diesen Bereichen dann ein offen inkonsistenter, irrationaler Akteur oder überhaupt kein Akteur mehr. </p>
<p>Weniger bekannt aber noch verbreiteter ist die <em>unbeabsichtigte Zersetzung des Akteurs</em>, die nicht durch offene Machtkämpfe entsteht, sondern durch dezentrale Abwägungs- und Entscheidungsmechanismen innerhalb von Institutionen. Gerade auf der „Arbeitsebene“, also im täglichen Geschäft der unteren Organisationsebenen, werden tagtäglich unzählige „Mikroentscheidungen“ getroffen, zwar im Wissen um die grundsätzliche übergeordnete Zielsetzung, doch lokal durchaus unterschiedlich ausgelegt.<sup id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-11-back"><a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-11" class="simple-footnote" title="Es gibt damit also eine lokale Rationalität, die sich jedoch unter Umständen nicht mehr zu einer Rationalität des übergeordneten Akteurs zusammenfügt. Zum Beispiel wird jede Botschaft tendenziell versuchen, durch ihre Handlungen die Beziehungen zum Gaststaat zu verbessern, ohne sich notwendigerweise um die gesamte Außenpolitik zu sorgen. Ein zentraler, hierarchischer Weisungsmechanismus kann diese Tendenz korrigieren.">11</a></sup> Etwas vereinfacht: jede Botschaft, jede Abteilung legt Außenpolitik in ihrem eigenen Kontext aus, was zu Inkonsistenzen im Auftreten des Staats führen kann. </p>
<blockquote>
<p>Entstehen innerhalb eines internationalen Akteurs divergierende Zielsetzungen oder Umsetzungen der Ziele, kann dieser unter Umständen nicht mehr als rationaler Akteur betrachtet werden. Dieses Phänomen tritt auf der Arbeitsebene auch unwillkürlich, ohne institutionellen Kompetenzstreit oder Machtkampf auf.</p>
</blockquote><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-1">Grundsätzlich eignet es sich für jede Form individueller und sozialer Interaktion. Die Abweichungen davon werden außenpolitische Spezifizitäten aufweisen. <a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-2">Zahlreiche internationale Organisationen bestehen eigentlich aus <em>mehreren</em> Akteuren. Wenn die Hierarchien und Entscheidungsmechanismen unabhängig sind, wie etwa zwischen der Europäischen Kommission und dem Rat oder der Generalversammlung und dem Sekretariat der Vereinten Nationen, ist es sinnvoll, diese <em>Organe</em> als eigenständige Akteure zu betrachten. <a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-3">Auf welche Weise Gruppen überhaupt entscheiden können („<a href="https://global.oup.com/academic/product/group-agency-9780199591565?cc=us&lang=en&#">group agency</a>“) ist eine weitreichende philosophische Frage, die u.a. an der Universität Wien <a href="https://groupagency.univie.ac.at/">erforscht wird</a>. Ich gehe darauf nicht ein und nehme nur an, dass es solche Entscheidungen gibt und sie grundsätzlich in Analogie zu individuellen Entscheidungen verstanden werden können. In gewissen Fällen bricht diese Analogie zusammen, wie sich weiter unten zeigen wird. <a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-4">Genauer werden verschiedene vorstellbare Sachverhalte nach Präferenz gereiht: S > S’ > S” usw. <a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-5">Die Standardbeschreibung individueller Ziele bei Hume geht überhaupt davon aus, dass es <a href="https://plato.stanford.edu/entries/hume-moral">immer einen Gefühlsanteil für Motivation braucht</a>. <a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-6">An die Stelle der Erklärung der Absichten sollte deshalb die – ohnehin schon schwierige – sorgfältige <em>Beschreibung</em> der Handlungsmotive treten. Der Drang, sämtliche Motive <em>erklären</em> zu wollen, verhält sich umgekehrt proportional zum Vermögen, diese überhaupt sinnvoll zu <em>beschreiben</em>. Gerade unter Kolumnisten ist die schlechte Angewohnheit weit verbreitet, von China über Russland bis zum Nahen Osten ein- und dieselben Erklärungsmuster – üblicherwiese die eigenen – zu spannen, ohne die Absichten überhaupt zu charakterisieren. <a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-7">Hochtrabender formuliert: sie gehorchen dem <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Hypothetischer_Imperativ">hypothetischen Imperativ</a> der praktischen Rationalität Kants. <a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-8">In einem gewissen Sinn kann alles – auch das Nichthandeln – als eine Art Handlung aufgefasst werden. <a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-9">Zu einem gewissen Grad können auch Parlamente außenpolitisch aktiv werden, was besonders in <a href="https://www.oxfordhandbooks.com/view/10.1093/oxfordhb/9780199653010.001.0001/oxfordhb-9780199653010-e-016">Präsidialsystemen wie den Vereinigten Staaten relevant ist</a>. <a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-10">In Österreich sind etwa alle Minister prinzipiell gleichberechtigt und nicht weisungsgebunden, können also auf europapolitischer Ebene durchaus konträre Ziele verfolgen. <a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-10-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-11">Es gibt damit also eine <em>lokale Rationalität</em>, die sich jedoch unter Umständen nicht mehr zu einer Rationalität des übergeordneten Akteurs zusammenfügt. Zum Beispiel wird jede Botschaft tendenziell versuchen, durch ihre Handlungen die Beziehungen zum Gaststaat zu verbessern, ohne sich notwendigerweise um die gesamte Außenpolitik zu sorgen. Ein zentraler, hierarchischer Weisungsmechanismus <em>kann</em> diese Tendenz korrigieren. <a href="#sf-grundlagen-aussenpolitische-analyse-akteure-ziele-handlungen-idealtypus-abweichungen-11-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Der Bruch von Karlsruhe – die Hybris der deutschen Verfassungsrichter und die Zukunft der europäischen Rechtsordnung2020-05-17T00:00:00+02:002020-05-17T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2020-05-17:/posts/2020/05/17/der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung/<p>Das historische Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts über die Geldpolitik der <span class="caps">EZB</span>, in dem erstmals offen eine Entscheidung des EuGH zurückgewiesen wird, stellt eine nie dagewesene Herausforderung für die europäische Rechtsordnung dar. Ich versuche darzulegen, wie die Argumentation aus Karlsruhe jedem nationalen Gericht als Muster dienen kann, um den den EuGH nach Belieben zu ignorieren. Die Explosion der europäischen Rechtsordnung wäre wohl nur mit einer – politisch kaum zu erwartenden – raschen Zurechtweisung Deutschlands in einem Vertragsverletungsverfahren abzuwenden.</p><p>Das <a href="https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200505_2bvr085915.html">Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts</a> (BVerfG) in Karlsruhe, dem Pendant zum österreichischen Verfassungsgerichtshof, über die Verfassungswidrigkeit der Geldpolitik der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Zentralbank">Europäischen Zentralbank</a> (<span class="caps">EZB</span>) ist gleich aus mehreren Gründen historisch. Es wird Auswirkungen auf die europäische Rechtsordnung, die Geldpolitik, die Machtverteilung der europäischen Institutionen und natürlich auch auf die deutsche Innenpolitik haben. </p>
<p>Ich werde mich auf den wesentlichen Punkt beschränken, jenem der <em>Beziehung zwischen nationalem Recht und Europarecht</em> beziehungsweise zwischen nationaler und europäischer Gerichtsbarkeit und auf die meines Erachtens desaströsen Konsequenzen des deutschen Urteils.</p>
<p>Die geldpolitische und wirtschaftliche Bewertung der Politik der <span class="caps">EZB</span>, aber auch die Beantwortung der Fragen, ob die <span class="caps">EZB</span> europarechtskonform und die deutsche Bundesbank Grundgesetzkonform gehandelt haben, traue ich mir nicht zu; sie erscheinen mir auch als absolut zweitrangig. </p>
<h2>Grundlagen des Europarechts</h2>
<p>Um den Kontext und die Folgen des Urteils des BVerwG zu verstehen, ist etwas Grundwissen über die europäischen Rechtsordnung und die wesentlichen Begriffe notwendig:</p>
<ul>
<li>Eine <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Vorabentscheidungsverfahren">„Vorabentscheidung“</a> gemäß <a href="https://www.ris.bka.gv.at/NormDokument.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10008049&Artikel=267&Paragraf=&Anlage=&Uebergangsrecht=">Art. 267 <span class="caps">AEUV</span></a> ist ein Verfahren, bei dem nationale Gerichte den <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ischer_Gerichtshof">Europäischen Gerichtshof</a> (EuGH) um Klärung europarechtlicher Fragen, die im eigenen Verfahren auftauchen, ersucht. </li>
<li>Der EuGH hat im Zuge solcher Verfahren sehr früh ein „Auslegungsmonopol“ für Europarecht beansprucht.<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-1-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-1" class="simple-footnote" title="Van Gend und Loos 1963.">1</a></sup> Die Begründung ist denkbar einfach: Nur so kann die einheitliche Auslegung des Rechts der <span class="caps">EU</span> in allen Staaten gewährleistet werden, was insbesondere eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren des Binnenmarkts ist. </li>
<li>Darüber hinaus hat sich in der Rechtssprechung des EuGH auch der „<a href="https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=LEGISSUM%3Al14548">Anwendungsvorrang</a>“ des Europarechts über nationales Recht, auch Verfassungsrecht, herauskristallisiert, weil ansonsten die europäische Rechtsordnung einfach durch nationales Recht ausgehebelt werden könnte.<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-2-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-2" class="simple-footnote" title="Costa/ENEL 1964, Simmenthal 2 und Foto-Frost 1987.">2</a></sup></li>
<li>Diese Prinzipien wurden von nationalen Gerichten, aber auch von der Legislative und Exekutive bislang grundsätzlich<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-3-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-3" class="simple-footnote" title="Diese Anerkennung hat zwar gewisse Grenzen, die aber eher theoretischer Natur waren. In Österreich etwa ist die Lehrmeinung, dass die Bundesverfassung vom Europarecht „ausgehebelt“ wird – mit der Ausnahme der sogenannten „Grundprinzipien“ – wie dem Demokratieprinzip, dem föderalen Prinzip, dem republikanischen Prinzip und dem Legalitätsprinzip.">3</a></sup> annerkannt – was der EuGH über Europarecht entscheidet, gilt und wird umgesetzt. Dies entspricht auch dem Grundsatz der „loyalen Zusammenarbeit“ gemäß <a href="https://www.ris.bka.gv.at/NormDokument.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10008048&FassungVom=2016-04-28&Artikel=4&Paragraf=&Anlage=&Uebergangsrecht=">Art. 4 <span class="caps">EUV</span></a> entspricht.<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-4-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-4" class="simple-footnote" title="Umgekehrt gibt sich auch der EuGH durchaus kooperativ, in dem er die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten berücksichtigt und in einen „Dialog“ mit nationalen Gerichten tritt.">4</a></sup> Urteilt ein Gericht nicht europarechtskonform, begeht der Staat eine <a href="https://ec.europa.eu/info/law/law-making-process/applying-eu-law/infringement-procedure_de">Vertragsverletzung</a> und kann, wenn er von Kommission oder einem anderen Mitgliedstaat angeklagt wird, vom EuGH verurteilt werden.<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-5-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-5" class="simple-footnote" title="Es gab bislang zwei Fälle, in denen nationale Gerichte sich geweigert haben, die Rechtsprechung des EuGH anzuerkennen. Der erste Fall (Landtovà) ging 2012 vom tschechischen Höchstgericht aus, der sich auf eine Doktrin des BVerfG im Lissabon-Urteil berief. Der zweite Fall aus 2016 (Ajos) betraf Dänemark. Aufgrund der relativen Obskurität und geringen Tragweite der beiden Fälle wurde diesen Urteilen jedoch außerhalb von Fachkreisen – die sie scharf kritisierten – kaum Aufmerksamkeit geschenkt.">5</a></sup></li>
</ul>
<blockquote>
<p>Der EuGH hat seit 1963 das Auslegungsmonopol des europäischen Rechtsbestands sowie die unmittelbare Anwendbarkeit seiner Urteile – auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht – beansprucht, was von nationalen Gerichten auch weitgehend anerkannt wurde. Dadurch wird die Einheit des europäischen Rechts in allen Mitgliedstaaten garantiert.</p>
</blockquote>
<h2>Drei Brüche mit dem EuGH</h2>
<p>Ohne auf die komplexe rechtliche Vorgeschichte einzugehen<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-6-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-6" class="simple-footnote" title="Zwei verständliche Zusammenfassungen von Alexander Thiele und Franz Mayer sind für Interessierte empfehlenswert.">6</a></sup> möchte ich nun die wesentlichen Etappen des Bruches des BVerfGs mit dem EuGH darstellen.</p>
<p>Das BVerfG hat bislang nur zweimal vom EuGH um eine „Vorabentscheidung“ ersucht. Die erste Vorlage betraf das angekündigte <span class="caps">EZB</span>-Programm der „Outright Monetary Transactions“, das letztlich niemals umgesetzt wurde. Vereinfacht gesagt urteilte der EuGH, dass die <span class="caps">EZB</span> auch bei Umsetzung ihre Kompetenzen nicht überschritten habe (insb. keine nach <a href="https://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:12008E123:DE:HTML">Art. 123 <span class="caps">AEUV</span></a> verbotene Finanzierung der Mitgliedstaaten betrieben habe). Das BVerfG nahm diese Entscheidung zur Kenntnis, <a href="https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2016/06/rs20160621_2bvr272813.html">ließ dabei aber deutlich anklingen</a>, dass es sich grundsätzlich das Recht herausnehme, vom EuGH abweichende Beurteilungen vorzunehmen – ein erster Bruch mit dem Auslegungsmonopol.</p>
<p>Die zweite, gegenständliche Vorlage des BVerfG betrifft ein anderes Programm der <span class="caps">EZB</span>, mit der diese tatsächlich am Sekundärmarkt Staatsanleihen kaufte – das „<a href="https://www.bundesbank.de/de/aufgaben/geldpolitik/geldpolitische-wertpapierankaeufe/public-sector-purchase-programme-pspp--830348">Public Sector Purchase Programme (<span class="caps">PSPP</span>)</a>“. Der <a href="https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2018-12/cp180192de.pdf">EuGH verneinte am 11. Dezember 2018 erneut</a>, dass die <span class="caps">EZB</span> ihre Kompetenzen damit überschritten habe (keine Verletzung von Art. 123 <span class="caps">AEUV</span>). Der Argumentation des <span class="caps">EUGH</span> folgt das BVerwG in seinem Urteil vom 5. Mai <em>bereits nicht mehr</em>. Er gelangt zwar zum gleichen Schluss, aber mitteils einer eigenen, <em>unabhängigen</em> Auslegung des Europarechts.<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-7-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-7" class="simple-footnote" title="Siehe das Urteil des BVerfG, Rn. 180ff. ">7</a></sup></p>
<p>Der dritte, unmissverständliche Bruch des BVerfG mit dem Grundsatz des Auslegungsmonopols des EuGH betrifft aber einen anderen Punkt, nämlich die Beurteilung der <em>Verhältnismäßigkeit</em> der Maßnahmen der <span class="caps">EZB</span>. Der EuGH hatte argumentiert, dass die <span class="caps">EZB</span> mit dem <span class="caps">PSPP</span>-Progamm keine „offensichtliche“ Kompetenzübertretung begangen habe, da die Verfolgung geldpolitischer Ziele, wie die Erreichung eines gewissen Inflationsniveaus,<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-8-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-8" class="simple-footnote" title="Dieses Programm dient dem Entschluss der EZB zufolge der Erreichung eines Inflationsziels von 2%. Dass es über die Finanzmärkte indirekt Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft (Zinsniveau usw.) hat, steht außer Frage.">8</a></sup> unweigerlich mit gesamtwirtschaftlichen Konsequenzen verbunden sei. Deshalb könne eine Trennung beider Bereiche nicht sinnvoll vorgenommen werden und eine Kompetenzüberschreitung nicht festgestellt werden.<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-9-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-9" class="simple-footnote" title="Vgl. das Urteil vom 11. Dezember 2018, Rn. 56ff.">9</a></sup> Das BVerfG sieht diese Argumentation aufgrund bestimmter inhaltlicher Auslegungsdifferenzen als „objektiv willkürlich“ (<a href="https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200505_2bvr085915.html">Rn. 112</a>) an, weil er seine Argumentation für „methodisch nicht nachvollziehbar“ befindet.<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-10-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-10" class="simple-footnote" title="Ohne ins Detail zu gehen: Weil der EuGH nicht erklärt, warum die Kompetenzabgrenzung zwischen Währungs- und Finanzpolitik nicht aufgrund der faktischen Auswirkungen getroffen werden soll (Rn. 153). Dabei ist zu bemerken, dass eine faktische Abwägung sicherlich keine juristische ist und nicht ganz verständlich ist, wie sie der EuGH überhaupt hätte vornehmen sollen.">10</a></sup> </p>
<p>Das BVerwG geht dann noch weiter und beantwortet und die inhaltliche Frage gleich selbst: Die <span class="caps">EZB</span> habe die Verhältnismäßigkeit nicht belegt und müsse nun nachbessern, ansonsten dürften deutsche Vertreter der Bundesbank bei dem Programm nicht mehr mitstimmen. Dieser konkrete Punkt dürfte vonseiten der <span class="caps">EZB</span> leicht zu beheben sein, weshalb unmittelbare <em>geldpolitische</em> Konsequenzen meines Erachtens kaum zu erwarten sind.</p>
<h2>Die Argumentation des BVerwG</h2>
<p>Es lohnt es sich, die grundsätzliche Argumentation des BVerwG in Einzelteile zu zerlegen, weil dadurch auch verständlich wird, wie andere Mitgliedstaaten reagieren werden.</p>
<ol>
<li>Handlungen von der Organen der <span class="caps">EU</span>, welche die Kompetenzen, die ihnen in Verträgen zugewiesen sind, überschreiten (im Fachjargon „<em><a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Ultra-vires-Akt">ultra-vires-Akte</a></em>“), sind laut BVerwG für Mitgliedstaaten und ihre Institutionen nicht bindend.</li>
<li>Wenn der EuGH „objektiv willkürlich“ urteilt, überschreitet er für den BVerwG seine Kompetenzen und handelt <em>ultra vires</em>.</li>
<li>Das BVerwG vertritt <em>inhaltlich</em> eine gänzlich andere Einschätzung der Rechtfertigung der Verhältnismäßigkeit durch <span class="caps">EZB</span> als der EuGH und kann sie „methodisch“ nicht nachvollziehen. Dies setzt er mit „objektiver Willkür“ gleich. </li>
<li>Daraus folgt, dass das BVerwG ein unmissverständliches Urteil des EuGH – in einem rein europarechtlichen Punkt – nicht als bindend anerkennt.</li>
</ol>
<p>Das erste Postulat<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-11-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-11" class="simple-footnote" title="Dessen Ursprünge schon in den Maastricht- und Lissabon-Urteilen des BVerwfG zu erahnen waren.">11</a></sup> stellt formal bereits eine Verletzung der Einheit des Rechtsrahmens der <span class="caps">EU</span> dar. Das BVerwG nimmt sich das Recht heraus, die Handlungen des EuGH zu prüfen, schon eine eigene, parallele europarechtliche Bewertung ist. Problematisch ist dabei nicht nur, dass dies kaum als „loyale Zusammenarbeit“ mit dem EuGH gemäß Art. 4 <span class="caps">EUV</span> gesehen werden kann, sondern auch, dass jedes Höchstgericht – in Anbetracht der eigenen Verfassung – etwas anderes unter <em>ultra vires</em> verstehen kann und wird. Wenden mehrere Höchstgericht so ein Kriterium an, ist eine Zersplitterung des Europarechts kaum vermeidbar.</p>
<p>Einem Zusammenbruch der europäischen Rechtseinheit könnte entkommen, wenn <em>ultra vires</em> sehr eng gefasst werden würde, also etwa wenn es sich ausschließlich auf offensichtliche <em>verfahrensrechtliche</em> Versäumnisse beschränken würde, die mit universellen Kriterien feststellbar sind und durch ein erneutes Urteil des EuGH leicht aus dem Weg geräumt werden können.</p>
<p>Der dritte Punkt der Argumentation des BVerwG vernichtet diese Hoffnung jedoch gründlich, weil „methodisch nicht nachvollziehbare“ bzw. „objektiv willkürliche“<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-12-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-12" class="simple-footnote" title="Der Begriff der „objektiven Willkür“ ist besonders absurd, weil es klar um einen subjektiven, vom BVerwG vorgebrachten Willkürvorwurf geht, der etwa von unzähligen kritischen Stimmen in der Literatur nicht geteilt wird und deshalb offenkundig nicht „objektiv“ besteht. Sehr schon formuliert es Franz Mayer: „Dann ist da noch der Vorwurf, der EuGH urteile ‘methodisch nicht mehr vertretbar’. Das sagen sieben deutsche Juristen zu den 15 Juristen der Großen Kammer des EuGH. Im Schrifttum ist das besagte EuGH-Urteil niemandem als methodisch nicht mehr vertretbar aufgefallen.“">12</a></sup> Urteilsbegründungen als eine Form von <em>ultra-vires</em>-Handlung gesehen wird. Macht dieser Ansatz Schule, steht es jedem Verfassungsgericht frei, ein Urteil des EuGH zu ignorieren, wenn es nur „methodisch nicht nachvollziehbar!“ schreit. Eine zersplitterte Europarechtssprechung von 27 Höchstgerichten ist die unweigerliche Folge.</p>
<h2>Der bizarre Wunsch nach einem „besseren“ EuGH</h2>
<p>Es ist interessant, dass das BVerwG dieses Problem selbst erkennt und im Urteil richtigerweise festhält: </p>
<blockquote>
<p>„Wenn jeder Mitgliedstaat ohne Weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet.“ (<a href="https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200505_2bvr085915.html">Rn. 111 des Urteils des BVerwG</a>)</p>
</blockquote>
<p>Nur bleibt es uns die Erklärung schuldig, weshalb das eigene Urteil nicht genau dazu führe. In zwei Interviews meldeten sich zuletzt <a href="https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bverfg-huber-verteidigt-ezb-urteil-ultra-vires-eugh/">Verfassungsrichter zu Wort</a>, und versuchten <a href="https://www.tagesschau.de/inland/interview-vosskuhle-101.html">eine Rechtfertigung</a>. Es gehe, anders als in Ungarn oder Polen, nicht darum, den EuGH aus der Kontrolle herauszuhalten: „Wir wollen also mehr EuGH, wir wollen, dass er seinen Job besser macht.“ Zudem werde der EuGH nur „in absoluten Ausnahmefällen“ zurechtgewiesen.<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-13-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-13" class="simple-footnote" title="Vonseiten der Verteidiger des Urteils liest man gar die süffisante Äußerung: „Karlsruhe ist nicht Polen“.">13</a></sup>.</p>
<blockquote>
<p>Das BVerwG vertritt inhaltlich eine gänzlich andere Einschätzung zum Thema <span class="caps">EZB</span> als der EuGH, weshalb es dessen Beurteilung als „objektiv willkürlich“ verwirft und sich selbst das Recht nimmt, Europarecht „besser“ auszulegen. Zugleich sollen andere, vermeintlich weniger aufgeklärte und wohlmeinende Höchstgerichte ebendies nicht dürfen.</p>
</blockquote>
<p>Jedoch ist nicht nachvollziehbar, weshalb etwa Ungarn und Polen nicht ebenfalls „in Ausnahmefällen“ argumentieren dürften, dass der EuGH „seinen Job besser machen solle“ – „besser“ ist eben ein <em>subjektiver</em> Begriff, der nicht viel mehr als „meine Einschätzung teilend“ bedeutet.<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-14-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-14" class="simple-footnote" title="Es gibt bereits klare Signale, dass Polen das Argument verwenden wird, um ein eventuelles Urteil des EuGH gegen die Aushöhlung des Rechtsstaats zurückzuweisen.">14</a></sup> Es scheint fast, als nähme sich das BVerwG nicht nur das Recht heraus, den EuGH zurechtzuweisen, sondern als wolle es dieses Recht auch noch anderen Verfassungsgerichten absprechen. Der Eindruck der Hybris der deutschen Höchstrichter, die sich als wohlwollende Lehrmeister des EuGH gerieren, ist schwer von der Hand zu weisen.</p>
<h2>Zukunftsperspektiven</h2>
<p>Als nächster konkreter Schritt steht die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-15-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-15" class="simple-footnote" title="Der Staat haftet für die fehlerhafte Umsetzung des Europarechts durch seine Gerichte, vgl. Köbler 2003.">15</a></sup> im Raum, da ja das Urteil des EuGH nicht umgesetzt wurde. Ein solches Verfahren anzustoßen liegt im Kompetenzbreich der Kommission, die bereits damit <a href="https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/urteil-zu-anleihekaeufen-dass-sich-bloss-niemand-das-bundesverfassungsgericht-als-vorbild-nimmt/25820274.html">drohte</a>, oder einzelnder Mitgliedstaaten, die sich wohl davor hüten werden.</p>
<p>Politisch wäre es in einer Zeit der nahenden Wirtschaftskrise und einer neuen geldpolitischen Ausnahmesituation äußerst riskant, den BVerwG auf seinen Platz zu verweisen und das Auslegungsmonopol des EuGH zu erneuern, weil das Verfassungsgericht dadurch zum Märtyrer gegenüber den angeblich „undemokratischen“ Institutionen <span class="caps">EZB</span> und EuGH<sup id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-16-back"><a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-16" class="simple-footnote" title="Tatsächich sind diese genauso demokratisch – bzw. undemokratisch! – wie es die Bundesbank oder das BVerfG sind.">16</a></sup> werden würde.</p>
<p>Aus rein rechtlicher Perspektive wäre eine solche Zurechtweisung jedoch <a href="https://verfassungsblog.de/sollte-die-eu-kommission-deutschland-wegen-des-karlsruher-ultra-vires-urteils-verklagen-pro/">unbedingt nötig</a>, bevor andere Höchstgerichte an der Rolle des <span class="caps">EU</span>-Gerichts gefallen finden und mit dem Verweis auf den deutschen Präzedenzfall jegliche Einheit des Europarechts zerstören. Zu erwarten, dass andere Mitgliedstaaten nur Deutschland das Privileg des „eigenen“ Europarechts lassen, ist unglaublich naiv.</p>
<p>Insbesondere bei hochpolitischen Fragen um unerlaubte Staatshilfe, Asylrecht oder Nichtdiskriminierung von <span class="caps">EU</span>-Unternehmen und -Bürgern sind Zersetzungsphänomene schon bald zu erwarten. Damit wäre auch der wohl größte Erfolg der <span class="caps">EU</span>, der Binnenmarkt, akut in Gefahr.</p>
<blockquote>
<p>Da ein Vertragsverletzungserfahren gegen Deutschland derzeit politisch kaum vorstellbar ist, werden wohl andere Verfassungsgerichte nachziehen wollen und anfangen, den EuGH in verschiedenen Bereichen zu ignorieren, wodurch auch der Binnenmarkt in akute Gefahr geräte. Dass das hehre Ziel des BVerwG nach „mehr“ und einem „besseren“ EuGH erreicht wird, wage ich deshalb zu bezweifeln.</p>
</blockquote><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-1"><a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Van_Gend_%26_Loos">Van Gend und Loos 1963</a>. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-2">Costa/<span class="caps">ENEL</span> <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Costa/ENEL-Entscheidung">1964</a>, <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Simmenthal_II-Entscheidung">Simmenthal 2</a> und <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Foto-Frost-Entscheidung">Foto-Frost 1987</a>. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-3">Diese Anerkennung hat zwar gewisse Grenzen, die aber eher theoretischer Natur waren. In Österreich etwa ist die <a href="https://richtervereinigung.at/justiz/rechtssystem/stufenbau-der-rechtsordnung/">Lehrmeinung</a>, dass die Bundesverfassung vom Europarecht „ausgehebelt“ wird – mit der Ausnahme der sogenannten <a href="https://www.parlament.gv.at/PERK/VERF/GRUND/">„Grundprinzipien“</a> – wie dem Demokratieprinzip, dem föderalen Prinzip, dem republikanischen Prinzip und dem Legalitätsprinzip. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-4">Umgekehrt gibt sich auch der EuGH durchaus kooperativ, in dem er die Rechtsordnung der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Solange_II">Mitgliedstaaten berücksichtigt</a> und in einen „Dialog“ mit nationalen Gerichten tritt. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-5">Es gab bislang zwei Fälle, in denen nationale Gerichte sich geweigert haben, die Rechtsprechung des EuGH anzuerkennen. Der erste Fall (Landtovà) ging 2012 vom <a href="https://verfassungsblog.de/playing-matches-czech-constitutional-courts-ultra-vires-revolution/">tschechischen Höchstgericht</a> aus, der sich auf eine Doktrin des BVerfG im <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Lissabon-Urteil">Lissabon-Urteil</a> berief. Der zweite Fall aus 2016 (Ajos) betraf <a href="https://verfassungsblog.de/legal-disintegration-the-ruling-of-the-danish-supreme-court-in-ajos/">Dänemark</a>. Aufgrund der relativen Obskurität und geringen Tragweite der beiden Fälle wurde diesen Urteilen jedoch außerhalb von Fachkreisen – die sie scharf kritisierten – kaum Aufmerksamkeit geschenkt. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-6">Zwei verständliche Zusammenfassungen von <a href="https://verfassungsblog.de/vb-vom-blatt-das-bverfg-und-die-buechse-der-ultra-vires-pandora/">Alexander Thiele</a> und <a href="https://verfassungsblog.de/auf-dem-weg-zum-richterfaustrecht/">Franz Mayer</a> sind für Interessierte empfehlenswert. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-7">Siehe das
<a href="https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200505_2bvr085915.html">Urteil des BVerfG</a>, Rn. 180ff. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-8">Dieses Programm dient dem <a href="https://www.ecb.europa.eu/ecb/legal/pdf/oj_jol_2015_121_r_0007_de_txt.pdf">Entschluss</a> der <span class="caps">EZB</span> zufolge der Erreichung eines Inflationsziels von 2%. Dass es über die Finanzmärkte indirekt Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft (Zinsniveau usw.) hat, steht außer Frage. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-9">Vgl. <a href="http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=208741&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1">das Urteil vom 11. Dezember 2018</a>, Rn. 56ff. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-10">Ohne ins Detail zu gehen: Weil der EuGH nicht erklärt, warum die Kompetenzabgrenzung zwischen Währungs- und Finanzpolitik nicht aufgrund der <em>faktischen</em> Auswirkungen getroffen werden soll (<a href="https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/rs20200505_2bvr085915.html">Rn. 153</a>). Dabei ist zu bemerken, dass eine faktische Abwägung <a href="https://www.d-kart.de/blog/2020/05/11/ultra-vires/">sicherlich keine juristische ist</a> und nicht ganz verständlich ist, wie sie der EuGH überhaupt hätte vornehmen sollen. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-10-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-11">Dessen Ursprünge schon in den <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Maastricht-Urteil">Maastricht</a>- und <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Lissabon-Urteil">Lissabon</a>-Urteilen des BVerwfG zu erahnen waren. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-11-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-12">Der Begriff der „objektiven Willkür“ ist besonders absurd, weil es klar um einen <em>subjektiven</em>, vom BVerwG vorgebrachten Willkürvorwurf geht, der etwa von <a href="https://www.d-kart.de/blog/2020/05/11/ultra-vires/">unzähligen</a> <a href="https://verfassungsblog.de/tag/ultra-vires/">kritischen Stimmen</a> in der Literatur nicht geteilt wird und deshalb offenkundig nicht „objektiv“ besteht. Sehr schon formuliert es <a href="https://verfassungsblog.de/auf-dem-weg-zum-richterfaustrecht/">Franz Mayer</a>: „Dann ist da noch der Vorwurf, der EuGH urteile ‘methodisch nicht mehr vertretbar’. Das sagen sieben deutsche Juristen zu den 15 Juristen der Großen Kammer des EuGH. Im Schrifttum ist das besagte EuGH-Urteil niemandem als methodisch nicht mehr vertretbar aufgefallen.“ <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-12-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-13">Vonseiten der Verteidiger des Urteils liest man gar die süffisante Äußerung: „<a href="https://www.welt.de/politik/ausland/plus207975833/Verfassungsrechtler-Karlsruhe-ist-nicht-Polen.html">Karlsruhe ist nicht Polen</a>“. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-13-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-14">Es gibt bereits <a href="https://www.n-tv.de/politik/Polen-lobt-Karlsruher-Richter-fuer-EZB-Urteil-article21770556.html">klare Signale</a>, dass Polen das Argument verwenden wird, um ein eventuelles Urteil des EuGH gegen die Aushöhlung des Rechtsstaats zurückzuweisen. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-14-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-15">Der <em>Staat</em> haftet für die fehlerhafte Umsetzung des Europarechts durch seine Gerichte, vgl. <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6bler-Entscheidung">Köbler 2003</a>. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-15-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-16">Tatsächich sind diese genauso demokratisch – bzw. undemokratisch! – wie es die Bundesbank oder das BVerfG sind. <a href="#sf-der-bruch-hybris-deutsche-verfassungsrichter-karlsruhe-bverwg-zukunft-europaeischen-rechtsordnung-16-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Vermischte Bemerkungen zur Coronavirus-Pandemie2020-05-03T00:00:00+02:002020-05-03T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2020-05-03:/posts/2020/05/03/coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen/<p>Zwei Monate, nachdem die <span class="caps">COVID</span>-19-Pandemie Europa erreicht hat, ist noch immer überhaupt nicht klar, wie die Welt in den nächsten Monaten und Jahren aussehen wird. Einige Bemerkungen zu unterschiedlichen Aspekten der Krise lassen sich aber bereits formulieren.</p><h2>Mut zur wissenschaftlichen Lücke</h2>
<p>Bei bislang unerforschten und bedrohlichen Herausforderungen reicht die – grundsätzlich sinnvolle – enge Fokussierung auf „Evidenzbasiertes“ nicht aus. Es liegt in der Natur der Sache, dass etwa noch keine Daten zu Ausgangsbeschränkungen oder zur Effektivität von Masken vorliegen – das bedeutet jedoch keinesfalls, dass sie nicht effektiv sind. Bei solch eingeschränktem Wissen gebietet das <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Vorsorgeprinzip">Vorsorgeprinzip</a>, auch Hypothesen in Betracht zu ziehen die nicht durch sorgfältige Studien untermauert sind und Maßnahmen zu treffen, von denen Experten <em>vermuten</em>, dass sie angemessen sind, solange sie keinen Schaden anrichten.</p>
<p>Dieser Paradigmenwechsel, der <em>Mut zur wissenschaftlichen Lücke</em>, war für viele wissenschaftliche Institutionen überraschend schwierig – das Robert-Koch-Institut hat ihn etwa erst <a href="https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wie-virologen-ihre-haltung-zu-mundschutz-aenderten-16711162.html">Anfang April vollzogen</a>.</p>
<p>Bei experimentellen Therapien ist die Situation ähnlich – mit einem wichtigen Unterschied. Auch klinische Studien müssen viel rascher als sonst und bei einer vermuteten Wirksamkeit durchgeführt werden; die möglichen negativen Nebenwirkungen führen jedoch dazu, dass ihre Wirksamkeit und Gefahrlosigkeit erst belegt werden sollte, bevor sie breit verschrieben werden können. </p>
<p>Diese Anpassung der <em>Handlungsstandards</em> darf jedoch keinesfalls zu einer weiteren Senkung der <em>Wissenschaftsstandards</em> werden, die lediglich Scharlatenen aller Art („Wissenschaftsskeptikern“) in die Hände spielen würde. Leider sind die Anreize dafür derzeit besonders stark: Es war niemals so einfach wie jetzt, mit einem Preprint mit reißerischen Titel und geschickter Medienaussendung zu hunderten Zitierungen zu kommen und so seine Karriere abzusichern. Auch angeblich „renommierte Forschungsruppen“ greifen unverfroren zu dieser Trickkiste: Ein skandalöses Beispiel unter vielen ist eine Studie, welche die Feinstaubkonzentration in den <span class="caps">USA</span> mit der Mortalität <em>korreliert</em>, und dabei vorgaukelt, das <a href="https://projects.iq.harvard.edu/files/covid-pm/files/pm_and_covid_mortality.pdf">genaue Ausmaß der angeblich daraus folgenden Kausalität ausrechnen zu können</a> – wobei nicht einmal die Bevölkerungsdichte, die Altersstruktur oder der Zeitpunkt des Ausbruchs herausgerechnet werden!<sup id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-1-back"><a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-1" class="simple-footnote" title="Das Zitat aus dem Artikel selbst – Wissenschaftsjournalisten können hier nicht als Sündeböcke herhalten – ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten: „We found that an increase of only \(1 \mu \text{g/m}^3~\) in PM2.5 is associated with a 15% increase in the COVID-19 death rate, 95% confidence interval (CI) (5%, 25%). Results are statistically significant and robust to secondary and sensitivity analyses.“ Es gibt noch weitere schwerwiegende Probleme mit dieser und ähnlichen Studien, auf die ich hier nicht eingehen möchte.">1</a></sup> Der Erfolg von derartigem wissenschaftlichen Müll, <a href="https://lpql.net/why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-en.html">der in vielen Feldern ohnehin schon weit verbreitet ist</a> wird die ethischen Grundsätze junger Forscher wohl hart auf die Probe stellen.</p>
<h2>Schätzungen zur Infektionssterblichkeit</h2>
<p>Mittlerweile können sinnvolle Schätzungen zur Infektionssterblichkeit, also zur Anzahl der an <span class="caps">COVID</span>-19 verstorbenen gemessen an <em>allen</em> Infizierten (inkl. nicht getesteten) ausgerechnet werden.</p>
<p>Die Analyse der Übersterblichkeit in besonders hart getroffenen Gebieten kann liefern dabei eine belastbare untere Schranke. Die Daten aus der Provinz Bergamo weisen etwa auf eine Infektionssterblichkeit hin, die kaum unter 0,4% liegen kann.<sup id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-2-back"><a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-2" class="simple-footnote" title="Bei einer Übersterblichkeit von ca. 4.000 Personen bei einer Million Einwohnern (0,4%) bis Ende April. Geht man vorsichtig davon aus, dass davon nur die Hälfte davon direkt an COVID-19 verstorben ist, sowie dass die Herdenimmunität trotz der Eindämmungsmaßnahmen fast erreicht ist, also ca. 50% der Bevölkerung infiziert wurden, schätzt man die Infektionssterblichkeit auf 0,4%. Weil die Sterblichkeit aufgrund der vielen schweren Fälle mit der Zeit steigt und der Anteil der COVID-19-Toten an der Übersterblichkeit sehr konservativ geschätzt wird, ist dies eine untere Grenze, für eine demographisch relativ alte, aber doch für Europa recht repräsentative Bevölkerung. Das Gesundheitssystem in der Lombardei wurde zwar äußerst stark beansprucht, ist aber nicht ganz zusammengebrochen. Eine obere Grenze liefert hingegen das Kreuzfahrtschiff Diamond Princess, mit seiner deutlich älteren demographischen Struktur. Fast alle Personen wurden getestet wurden und bis heute sind 14 von 712, d.h. ca. 1,9% der Infizierten an COVID-19 verstorben.">2</a></sup> Auch andere <a href="https://arxiv.org/pdf/2004.14482.pdf">Ansätze</a> führen zu ähnlichen <a href="https://www.washingtonpost.com/health/antibody-tests-support-whats-been-obvious-covid-19-is-much-more-lethal-than-flu/2020/04/28/2fc215d8-87f7-11ea-ac8a-fe9b8088e101_story.html">Werten</a>.</p>
<p>Das bedeutet, dass <span class="caps">COVID</span>-19 eine ca. zehn Mal höhere Infektionssterblichkeit aufweist als <a href="https://wwwnc.cdc.gov/eid/article/12/1/05-0979_article">Grippeepidemien nach 1920</a>. Bei einer vollständigen Ausbreitung ohne Medikament oder Impfung würde dies für Europa ca. 1,5-2 Millionen Menschen <span class="caps">COVID</span>-19-Tote bedeuten, in Österreich etwa 30.000.<sup id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-3-back"><a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-3" class="simple-footnote" title="Es ist zu beachten, dass die Infektion nicht sofort bei Erreichen der Herdenimmunität (schätzungsweise 60-70%) aufhören würde, sich zu verbreiten, sondern sich ab diesem Zeitpunkt nur die aktiven Fälle verringern; schlussendlich infizieren sich ca. 90% der Bevölkerung.">3</a></sup></p>
<h2>Die „unausweichliche“ Herdenimmunität</h2>
<p>Vielfach entsteht in den Medien der Eindruck, dass die einzigen zwei Optionen, um der Pandemie Herr zu werden (neben einer Impfung, die tatsächlich in den nächsten Monaten <a href="https://www.nytimes.com/interactive/2020/04/30/opinion/coronavirus-covid-vaccine.html?action=click&module=Opinion&pgtype=Homepage">nicht verfügbar sein kann</a>) Herdenimmunität oder Eindämmung durch „totalen Lockdown“ ist. Da zweiteres längerfristig wirtschaftlich nicht tragbar sei, bliebe nur erstere Möglichkeit, mit leicht unterschiedlichen Wegen zu diesem Ziel. </p>
<p>Diese Dichotomie ist aus mehreren Gründen eine falsche. Erstens könnten in der Zwischenzeit Medikamente oder Therapieansätze gefunden werden, welche die Sterblichkeit drastisch senken.<sup id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-4-back"><a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-4" class="simple-footnote" title="Derzeit sieht es noch nicht danach aus, aber größere klinische Versuche laufen erst an.">4</a></sup> Zweitens gibt es unzählige Länder, die nachhaltige Maßnahmen alternativ zu bzw. nach drastischen Ausgangssperren umgesetzt haben und dennoch näher an der Ausrottung als an der Herdenimmunität liegen, u.a. Südkorea, Hongkong, Japan, Singapur, Taiwan, Vietnam, Thailand. Diese sind international stark vernetzt und waren relativ früh betroffen, haben also grundsätzlich<sup id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-5-back"><a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-5" class="simple-footnote" title="Bis auf gewisse kulturelle Eigenheiten, die für die Zeit der Pandemie nachgeahmt werden können.">5</a></sup> nicht bessere Voraussetzungen als jene in Europa.<sup id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-6-back"><a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-6" class="simple-footnote" title="Grundsätzlich ist natürlich der Vergleich zwischen Ländern sehr schwierig. Neben sozialen, kulturellen, demographischen und klimatischen Unterschieden ist insbesondere der Zeitpunkt der Einschleppung ein bedeutender Faktor, der nicht ausreichend gewürdigt wird. Regionen in Europa, in die das Virus später eingeführt wurde (wie offenbar in Ost- und Südost- aber auch in Nordeuropa) haben grundsätzlich einen immensen Startvorteil, weil ihre Maßnahmen relativ zur Ausbreitung früher getroffen werden können. Dass drastische Maßnahmen in Italien zu höheren Todeszahlen als limitierte Maßnahmen in Schweden führen, bedeutet etwa nicht, dass drastische Maßnahmen nicht grundsätzlich effektiver sind.">6</a></sup></p>
<p>Länder wie diese, die das Virus eindämmen konnten und können, werden sich vermutlich rascher der Normalität nähern – auch bezüglich des Reiseverkehrs untereinander – als jene, in denen das Virus lange weit verbreitet ist. Sie können durchaus als Vorbilder für eine Art dritten Weg dienen, der neben einer reduzierten Ansteckungsaktivität durch Vorsichtsmaßnahmen auch auf eine rasche Identifikation und Eliminierung von neuen Ansteckungsketten setzt.</p>
<h2>Reduktion der indirekten Übersterblichkeit</h2>
<p>Oftmals wird argumentiert, dass die Übersterblichkeit großteils nicht durch <span class="caps">COVID</span>-19, sondern durch Ausgangssperren und Einschränkungen im Gesundheitsbetrieb verursacht werde, also <em>indirekt</em>, etwa durch Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Es wird lange keine soliden Daten zu dieser Hypothese geben, aber sie ist sehr <a href="https://www.lemonde.fr/planete/article/2020/05/02/cancers-avc-maladies-cardiovasculaires-l-onde-de-choc-du-covid-19_6038430_3244.html">ernst zu nehmen</a>.</p>
<p>Hierbei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Mehrbelastung durch <span class="caps">COVID</span>-19 in jedem Fall zu einer gewissen indirekten Übersterblichkeit führt – die Frage ist nur, welche Herangehensweise diese minimiert. Die Strategie der „kontrollierten Durchseuchung“, die über eine maximale Auslastung der intensivmedizinischen Kapazitäten durch <span class="caps">COVID</span>-19-Patienten führt, um rasch zur Herdenimmunität zu gelangen, minimiert diese Übersterblichkeit nicht, ganz im Gegenteil. Je mehr Spitalskapazitäten durch <span class="caps">COVID</span>-19 belegt werden, umso weniger Platz und Zeit bleibt für andere Untersuchungen und Behandlungen, umso größer ist auch die Angst, ins Spital zu kommen. Dahingegen versucht etwa eine Eindämmungsstrategie, möglichst wenig Kapazitäten durch <span class="caps">COVID</span>-19 zu binden, wodurch die Versorgung für alle anderen Patienten weitgehend aufrecht erhalten werden soll.</p>
<p>Es ist also zu erwarten, dass Ausgangssperren im Rahmen einer Eindämmungsstrategie zu einer geringeren indirekten Übersterblichkeit führen als eine möglichst rasche kontrollierte Durchseuchung.<sup id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-7-back"><a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-7" class="simple-footnote" title="Es gibt natürlich gewisse Todesursachen, wie Suizid, Alkoholvergiftungen oder häusliche Gewalt, die bei einer Strategie der Eindämmung überproportional steigen könnten. Diese müssen natürlich bekämpft werden, sie spielen jedoch statistisch keine große Rolle und werden wohl wenig Einfluss auf die Übersterblichkeit haben.">7</a></sup></p>
<h2>Vergebliche Transparenz</h2>
<p>Auch im politischen Bereich lassen sich einige interessante Beobachtungen anstellen. Die bedeutendste ist meines Erachtens, dass eine <em>offene</em> und <em>konsistente</em> politische Entscheidungsfindung von der Öffentlichkeit kaum gewürdigt wird, ja manchmal sogar kontraproduktiv ist.</p>
<p>In Österreich (wie auch in vielen anderen Ländern) wurde das Risiko durch <span class="caps">COVID</span>-19 bis Mitte März trotz eindeutiger Erfahrungsberichte aus China<sup id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-8-back"><a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-8" class="simple-footnote" title="Bei aller berechtigter Kritik an der anfänglichen Vertuschung und vermutlich falschen Zahlen aus China – die veröffentlichten Daten zur Fallsterblichkeit, zur Verbreitung und zu Symptomen und Risikogruppen waren ab Anfang Februar absolut ausreichend, um die Gefährlichkeit der Infektion und die Notwendigkeit der Vorbereitung von Schutzmaßnahmen zu erkennen. Eine Einschätzung der ECDC vom 31. Jänner fasste diese relevanten Daten auch für Entscheidungsträger zusammen und erkannte richtigerweise als größtes Risiko die verspätete Identifikation von eingeschleppten Fällen.">8</a></sup> und Daten aus Japan und Südkorea massiv unterschätzt,<sup id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-9-back"><a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-9" class="simple-footnote" title="„Von Reisen nach Italien riet Anschober nicht prinzipiell ab, ins unmittelbare Krisenregionen sollte man jetzt aber nicht fahren. Primär gehe es aber um Eingrenzung von Verdachtsfällen aber nicht Begrenzung des Reisens. In Österreich sind bereits vielerorts Atemschutzmasken ausverkauft. Diese seien aber nicht erforderlich. ‘Ich rate nicht, dass wir alle zu Atemschutzmasken greifen’ sagte Anschober.“ Die Presse, 27.2.2020">9</a></sup> die politische Haltung zu Schulschließungen, Ausgangsbeschränkungen und Masken wurden von einem Tag auf den nächsten diametral geändert und über Wochen wurden permanent <a href="https://orf.at/stories/3163619/">Verbote kommuniziert, die rechtlich nicht existierten</a>.</p>
<p>Bis heute gibt es in Österreich trotz bereits erfolgter Lockerungen <em>keine Strategie zur Eindämmung</em>, es bleibt ungewiss, wieviele Neuinfektionen akzeptabel sind, wo und wie nun getestet und isoliert werden soll. Seit Februar gibt es auch keine Protokolle des Beraterstabs der „<a href="https://www.sozialministerium.at/Informationen-zum-Coronavirus/Coronavirus---Taskforce.html">Taskforce</a>“ mehr, die Mitglieder müssen sich zur Verschwiegenheit verpflichten. Doch ungeachtet aller institutionalisierten Intransparenz und Inkonsistenz genießt die Regierung <a href="https://www.derstandard.at/story/2000116755429/nach-100-tagen-ist-die-tuerkis-gruene-regierung-im-umfragehoch">rekordverdächtige Beliebtheitswerte</a> und wird in den Medien hoch gelobt. Eine <em>resolute, einheitliche und flächendeckende Kommunikation</em> ist in Krisenfällen offenbar wichtiger als ihre Inhalte; auch der <a href="https://www.youtube.com/watch?v=yF6707-ChT8">Skandal Ischgl</a> ist mittlerweile kaum mehr ein Thema. Natürlich spielt dabei auch die im Vergleich zu Italien oder der Schweiz geringe Zahl der in Österreich Verstorbenen eine Rolle.</p>
<p>Die grundsätzlich recht ähnlichen Maßnahmen und Widersprüche in Frankreich wurden hingegen aufgrund der allgemeinen Skepsis gegenüber der Regierung und der weit höheren Todeszahlen <a href="https://www.lefigaro.fr/politique/de-leur-inutilite-a-une-possible-obligation-la-volte-face-de-l-executif-sur-les-masques-20200420">als Planlosigkeit gewertet</a>. Das politische Kapital, das von offenen, unabhängigen Empfehlungen des wissenschaftlichen Beirats geschlagen werden sollte, wurde dadurch zunichte gemacht, dass sich die Regierung <a href="https://www.lemonde.fr/les-decodeurs/article/2020/05/03/reouverture-des-ecoles-le-choix-du-gouvernement-est-bien-en-desaccord-avec-le-conseil-scientifique_6038521_4355770.html">nicht an alle Empfehlungen hält</a>. </p>
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</script><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-1">Das Zitat <em>aus dem Artikel selbst</em> – Wissenschaftsjournalisten können hier nicht als Sündeböcke herhalten – ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten: „We found that an increase of only <span class="math">\(1 \mu \text{g/m}^3~\)</span> in <span class="caps">PM2</span>.5 is associated with a 15% increase in the <span class="caps">COVID</span>-19 death rate, 95% confidence interval (<span class="caps">CI</span>) (5%, 25%). Results are statistically significant and robust to secondary and sensitivity analyses.“ Es gibt noch <a href="https://theconversation.com/air-pollution-covid-19-and-death-the-perils-of-bypassing-peer-review-136376">weitere schwerwiegende Probleme</a> mit dieser und ähnlichen Studien, auf die ich hier nicht eingehen möchte. <a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-2">Bei einer Übersterblichkeit von ca. <a href="https://www.cremonaoggi.it/2020/04/28/aumento-decessi-causa-del-covid-cremona-seconda-provincia-italia-secondo-youtrend/">4.000 Personen bei einer Million Einwohnern (0,4%)</a> bis Ende April. Geht man vorsichtig davon aus, dass davon nur die Hälfte davon direkt an <span class="caps">COVID</span>-19 verstorben ist, sowie dass die Herdenimmunität trotz der Eindämmungsmaßnahmen fast erreicht ist, also ca. 50% der Bevölkerung infiziert wurden, schätzt man die Infektionssterblichkeit auf 0,4%. Weil die Sterblichkeit aufgrund der vielen schweren Fälle mit der Zeit steigt und der Anteil der <span class="caps">COVID</span>-19-Toten an der Übersterblichkeit sehr konservativ geschätzt wird, ist dies eine <em>untere Grenze</em>, für eine demographisch relativ alte, aber doch für Europa recht repräsentative Bevölkerung. Das Gesundheitssystem in der Lombardei wurde zwar äußerst stark beansprucht, ist aber <a href="https://doi.org/10.1093/ejcts/ezaa151">nicht ganz zusammengebrochen</a>. Eine <em>obere Grenze</em> liefert hingegen das Kreuzfahrtschiff <em>Diamond Princess</em>, mit seiner deutlich älteren demographischen Struktur. Fast alle Personen wurden getestet wurden und bis heute sind 14 von 712, d.h. ca. 1,9% der Infizierten an <span class="caps">COVID</span>-19 verstorben. <a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-3">Es ist zu beachten, dass die Infektion nicht sofort bei Erreichen der Herdenimmunität (schätzungsweise 60-70%) aufhören würde, sich zu verbreiten, sondern sich ab diesem Zeitpunkt nur die aktiven Fälle verringern; <a href="https://www.nytimes.com/2020/05/01/opinion/sunday/coronavirus-herd-immunity.html">schlussendlich infizieren sich ca. 90% der Bevölkerung</a>. <a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-4">Derzeit sieht es noch nicht danach aus, aber größere klinische Versuche laufen erst an. <a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-5">Bis auf gewisse kulturelle Eigenheiten, die für die Zeit der Pandemie nachgeahmt werden können. <a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-6">Grundsätzlich ist natürlich der Vergleich zwischen Ländern sehr schwierig. Neben sozialen, kulturellen, demographischen und klimatischen Unterschieden ist insbesondere der <em>Zeitpunkt der Einschleppung</em> ein bedeutender Faktor, der nicht ausreichend gewürdigt wird. Regionen in Europa, in die das Virus später eingeführt wurde (wie offenbar in Ost- und Südost- aber auch in Nordeuropa) haben grundsätzlich einen immensen Startvorteil, weil ihre Maßnahmen relativ zur Ausbreitung früher getroffen werden können. Dass drastische Maßnahmen in Italien zu höheren Todeszahlen als limitierte Maßnahmen in Schweden führen, bedeutet etwa nicht, dass drastische Maßnahmen nicht grundsätzlich effektiver sind. <a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-7">Es gibt natürlich gewisse Todesursachen, wie Suizid, Alkoholvergiftungen oder häusliche Gewalt, die bei einer Strategie der Eindämmung überproportional steigen könnten. Diese müssen natürlich bekämpft werden, sie spielen jedoch statistisch keine große Rolle und werden wohl wenig Einfluss auf die Übersterblichkeit haben. <a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-8">Bei aller berechtigter Kritik an der anfänglichen Vertuschung und vermutlich falschen Zahlen aus China – die veröffentlichten Daten zur Fallsterblichkeit, zur Verbreitung und zu Symptomen und Risikogruppen waren ab Anfang Februar absolut ausreichend, um die Gefährlichkeit der Infektion und die Notwendigkeit der Vorbereitung von Schutzmaßnahmen zu erkennen. Eine Einschätzung der <span class="caps">ECDC</span> <a href="https://www.ecdc.europa.eu/sites/default/files/documents/novel-coronavirus-risk-assessment-china-31-january-2020_0.pdf">vom 31. Jänner</a> fasste diese relevanten Daten auch für Entscheidungsträger zusammen und erkannte richtigerweise als größtes Risiko die verspätete Identifikation von eingeschleppten Fällen. <a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-9">„Von Reisen nach Italien riet Anschober nicht prinzipiell ab, ins unmittelbare Krisenregionen sollte man jetzt aber nicht fahren. Primär gehe es aber um Eingrenzung von Verdachtsfällen aber nicht Begrenzung des Reisens. In Österreich sind bereits vielerorts Atemschutzmasken ausverkauft. Diese seien aber nicht erforderlich. ‘Ich rate nicht, dass wir alle zu Atemschutzmasken greifen’ sagte Anschober.“ <a href="https://www.diepresse.com/5775713/coronavirus-von-reisewarnungen-schutzmasken-und-nachfragen-nach-nudeln">Die Presse, 27.2.2020</a> <a href="#sf-coronavirus-pandemie-vermischte-bemerkungen-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Resignation und Angst – zwei Stützen der Islamischen Republik Iran2018-10-21T00:00:00+02:002018-10-21T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2018-10-21:/posts/2018/10/21/intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran/<p>Die politische Stabilität der Islamischen Republik Iran hat neben kulturellen und historischen Faktoren auch grundlegende strukturelle Gründe. Einerseits die allgemeine politische Resignation, die mit der Intransparenz der politischen Entscheidungsfindung und der Internalisierung jeglicher Opposition einhergeht. Andererseits die latente Angst als Reaktion auf die Gewalt, mit der auf ernsthafte Opposition gegen das System geantwortet wird.</p><p>Nachdem ich im <a href="https://noctulog.net/posts/2018/07/16/iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt/">letzten Beitrag</a> auf einen sehr spezifischen Aspekt der Islamischen Republik Iran eingegangen bin, möchte ich in diesem Artikel die <em>Stabilität</em> des politischen Systems der Islamischen Republik etwas allgemeiner und systematischer untersuchen. Nach einem kurzen Überblick stabilisierender Faktoren <em>sozialer und kultureller Natur</em> möchte ich das Augenmerk auf zwei <em>strukturelle</em> Merkmale legen, die zum vierzigjährigen Bestehen der Islamischen Republik beigetragen haben und weiterhin beitragen.</p>
<p>Ich werde dabei auf einer <em>rein deskriptiven</em> Ebene bleiben und keinesfalls darüber urteilen, ob das politische System des Iran in dieser Form weiterbestehen soll oder nicht.</p>
<h2>Soziale und kulturelle Merkmale</h2>
<p>Es gibt mehrere soziokulturelle Faktoren, die meines Erachtens zum Erfolg der Islamischen Republik beigetragen haben. Der Anteil an diesem Erfolg ist schwer einzuschätzen, die folgende Aufzählung impliziert deshalb auch keine Reihung:</p>
<ul>
<li>Die islamische Revolution ist großteils als Reaktion einer traditionellen Gesellschaft auf einen überschießenden Modernisierungsschub – die „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Wei%C3%9Fe_Revolution">Weiße Revolution</a>“ – zu werten. Der sich als „islamisch“ gebende Staat verwertet viele Aspekte einer von Bräuchen und Riten geprägten Gesellschaft, der Ehe und Familie besonders viel Wert beimisst und in der allgemein die individuelle Freiheit gegenüber dem Kollektiv untergeordnet ist.</li>
<li>Der iranische Nationalstolz, der durch den Mythos eines <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/2,500_year_celebration_of_the_Persian_Empire">2500 Jahre durchgehend bestehenden Persischen Reichs</a> fest im kollektiven Bewusstsein verankert war, wurde durch den <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Golfkrieg">Verteidigungskrieg gegen den Irak</a> tragisch überhöht und erfolgreich von der Islamischen Republik vereinnahmt.</li>
<li>Die Angst der Mittel- und Oberschicht, dass der soziale Frieden und der – insbesondere im regionalen Vergleich – <a href="hdr.undp.org/en/countries/profiles/IRN">signifikante Wohlstand</a> durch einen Systemwechsel verloren gehen würden.</li>
<li>Die schwache wirtschaftliche, politische und kulturelle Emanzipation der Jugend von der Generation ihrer Eltern, die zu einer gewissen Lähmung der Jugend in politischen Fragen führt. </li>
</ul>
<p>Ein übergreifender und wahrscheinlich grundlegenderer Faktor ist, dass sich keine legitime Oppositionsbewegung – weder im Iran noch außerhalb –<sup id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-1-back"><a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-1" class="simple-footnote" title="Die einzige nennenswerte Oppositionsbewegung ist die Organisation der „Mojahedin-e khalk“ (MEK oder MKO). Die sektenartige Bewegung setzte, nachdem sie nach der Revolution marginalisiert wurde, auf Terrorismus und die Unterstützung Saddam Husseins im Iran-Irak-Krieg. Außerhalb der Diaspora genießt sie dementsprechend nur marginal Unterstützung.">1</a></sup> herausbilden konnte. Die weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem System kann sich somit – ohne Bewegung, ohne alternative Vision – nicht kristallisieren. In den folgenden zwei Abschnitten möchte ich zwei Faktoren – <em>Resignation</em> und <em>Angst</em> – für diese Alternativlosigkeit ausmachen und ihre institutionellen Grundlagen beleuchten.</p>
<h2>Institutionelle Intransparenz und Resignation</h2>
<p>Um das Fehlen jeglicher glaubwürdiger Oppositionsbewegung zu erklären, ist zunächst ein Grundverständnis des institutionellen Gefüges der Islamischen Republik notwendig. Auf das Äußerste vereinfacht entspricht das System, das durch die <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Constitution_of_Iran">Verfassung von 1979/1989</a> eingerichtet wurde, einer <em>semipräsidialen parlamentarischen Demokratie</em> (nach französischem Muster) auf die ein <em>lückenloses „islamisches“ Kontrollsystem</em> aufgepfropft wurde, das von einem „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/F%C3%BChrer_(Iran)">Revolutionsführer</a>“<sup id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-2-back"><a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-2" class="simple-footnote" title="In der Zwölferschia kommt die Rolle der Gesetzgebung Rolle prinzipiell einem Zweig der Familie Mohammeds (den zwölf Imamen) zu. Da Mahdi – der letzte Imam – verschollen ist, soll in der Islamischen Republik Iran ein ausgewählter „Jurist“ – der Revolutionsführer – dessen Rolle einnehmen.">2</a></sup> geleitet wird (siehe Abbildung). </p>
<p><img alt="Grundzüge des politischen Systems der Islamischen Republik Iran, adaptiert von The Wall Street Journal" src="https://noctulog.net/images/iran-political-system.jpg"></p>
<p>Die große Komplexität darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kontrolle der „islamischen“ Institutionen über die demokratischen absolut lückenlos ist: Der effektiv vom Revolutionsführer abhängige Wächterrat trifft vor jeder Wahl eine Vorauswahl „akzeptabler“ Kandidaten – auch für die Wahl des eigentlich zur „Kontrolle“ des Führers vorgesehenen Expertenrats. Zudem überprüft der Wächterrat Wahlergebnisse und kann jegliches Gesetzesvorhaben zurückweisen. Schließlich kann auch die (dem Revolutionsführer untergeordnete) Judikative besonders unliebsame politische Gegner ausschalten.</p>
<p>Ist einem das Ausmaß der Kontrolle des Revolutionsführers bewusst geworden, verwundert der <em>institutioneller Wildwuchs</em>. Das System wäre verständlicher und vor allem effizienter, wenn der Führer selbst die Aufgaben des Präsidenten, des Wächter- und Schlichtungsrats übernähme; die pseudodemokratischen Elemente in der Form des Parlaments und des Expertenrats könnten weiterhin bestehen, sodass das Konstrukt ohne allzu große Verrenkungen weiterhin den Begriff „Republik“ im Namen führen könnte.</p>
<p>Meines Erachtens sind die bizarre Intransparenz und Redunzanz nicht das unerwünschte Nebenprodukt eines überhasteten Verfassungsgebung sondern stellen ein <em>bewusst gewähltes Mittel zur Systemerhaltung</em> dar. Mit dem Tod Khomeinis und der ohnehin notwendigen Verfassungsreform<sup id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-3-back"><a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-3" class="simple-footnote" title="Khamenei hätte ansonsten – als damals recht unbedeutender Geistlicher – nicht das Amt des Revolutionsführers übernehmen können. Der Tod Khomeinis und die Auswahl des relativ blassen Khameneis markieren auch den Übergang zwischen einem charismatischen und einem institutionalisierten semiautokratischen System.">3</a></sup> wurde Wert etwa darauf gelegt, die Kontrolle des Revolutionsführers auszubauen <em>und</em> eine weitere „unnötige“ und vollständig vom Führer abhängige Institution – den Schlichtungsrat – zu schaffen, die zwischen Parlament und und Wächterrat „vermitteln“ soll (was der Führer natürlich genauso gut selbst machen könnte). </p>
<p>Die Konsequenz des institutionellen Wildwuchses<sup id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-4-back"><a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-4" class="simple-footnote" title="Die sich unter anderem auch durch die Streitkräfte (mit der Zweiteilung Armee-Revolutionsgarden) und untere Ebenen des politischen Systems zieht.">4</a></sup> ist eine <em>systematische Intransparenz</em> bei der Entscheidungsfindung – das Merkmal einer „Semiautokratie“.<sup id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-5-back"><a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-5" class="simple-footnote" title="Daniel Brumberg und Farideh Farh (2016) Politics of Contention and Conciliation in Iran’s Semiautocracy, in: Power and Change in Iran, Bloomington:Indiana University Press.">5</a></sup> Der Revolutionsführer muss meist nicht direkt in die Prozesse einzugreifen, sondern lässt die Institutionen manchmal mit-, manchmal gegeneinander arbeiten und übernimmt gegebenenfalls die Rolle des Schiedsrichters. Die Auseinandersetzungen zwischen Institutionen führen zu einer Verdeckung und Immunisierung der tatsächlichen Entscheidungsträger. Es ist bezeichnend, dass Verschwörungstheorien über die „wahren Machthaber“ derart vielfältig sind – wahlweise sind die Revolutionsgarden, die religiösen Stiftungen, der zweitälteste Sohn Khameneis, die Larijani-Brüder hinter dem Vorhang tätig –, und dass keine dieser Theorien völlig von der Hand zu weisen ist. Verschwörungstheorien sind ein Zeichen, dass sich fast alle Iraner mit der <em>Unverständlichkeit des Systems abgefunden haben</em> auch argumentativ keinen Angriffspunkt mehr darin ausmachen können. </p>
<p>Neben der Intransparenz der tatsächlichen Entscheidungsfindung erlaubt die institutionelle Komplexität auch, gewisse Formen der Opposition zu <em>internalisieren</em> und somit zu neutralisieren.<sup id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-6-back"><a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-6" class="simple-footnote" title="Die Opposition wird durch die Aufnahme in das System nicht nur gezähmt, sondern mittelfristig auch delegitimiert.">6</a></sup> Die Auseinadersetzungen (etwa zwischen Parlament und Wächterrat) die das Land permanent lähmen, sind dabei nicht <em>nur</em> ein Schauspiel für die Bevölkerung, sondern resultieren oftmals aus persönlichen Ambitionen und tatsächlich unterschiedlichen Ideologien der involvierten Akteure. Das größte Potenzial für Antagonismus bietet das Verhältnis zwischen Revolutionsführer und Präsidenten, der formal der Chef der Exekutive ist. Die letzten Präsidenten – Rohani, Ahmadinejad und Khatami – haben alle zu einem gewissen Zeitpunkt ihrer Präsidentschaft eine eindeutige Oppositionsrolle gegenüber dem Führer eingenommen.</p>
<p>Trotz des enormen – und im Fall Khatamis und Ahmadinejads unübersehbaren – Machtgefälles zwischen Revolutionsführer und Präsidenten, wird letzterer zumindest als wichtig genug angesehen, um den Einfluss der Bevölkerung auf seine Wahl auszunutzen. Hier lohnt es, die <em>zeitliche Dimension</em> der Delegation der Macht im politischen System zu beachten. Bis auf wenige Ausnahmen<sup id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-7-back"><a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-7" class="simple-footnote" title="Etwa der Absetzung des Präsidenten Banisadr im Anschluss an die Revolution.">7</a></sup> werden unliebsame Volksvertreter nicht während ihrer Amtszeit abgesetzt, sondern erst von den folgenden Wahlen ausgeschlossen. Dadurch ergibt sich zwischen den Wahlen ein Zeitraum einer sehr eingeschränkten, aber durchaus realen Autonomie für die gewählten Institutionen, die insbesondere mediale Aufmerksamkeit und relative Meinungsfreiheit beinhaltet. Diese <em>zeitlich begrenzte Autonomie</em> reicht aus, um die Mitwirkung des Volkes bei der Auswahl sicherzustellen.</p>
<blockquote>
<p>Die systematische institutionelle Intransparenz verdeckt zwar nicht die undemokratische Natur des politischen Systems der Islamischen Republik, sie schafft aber genug Intransparenz bei der Entscheidungsfindung um die Bevölkerung über die Verantwortlichen im Unklaren zu lassen und bei Unzufriedenheit kein klares Feindbild zu bieten, beziehungsweise diese während der pseudodemokratischen Wahlen zu neutralisieren.</p>
</blockquote>
<p>Das Volk ist mehrheitlich dazu resigniert, an der Auswahl des kurzfristig „geringeren Übels“ teilzunehmen und blendet dabei bewusst aus, dass längerfristig die Kandidaten „alle gleich“ (d.h. vom Führer abgesegnet) sind. Das erklärt auch, weshalb die Wahlbeteiligung bei Präsidentschaftswahlen bei bemerkenswerten 70-80% liegt.<sup id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-8-back"><a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-8" class="simple-footnote" title="Diese Zahlen können zwar nicht unabhängig verifiziert werden, die Größenordnung wurde mir jedoch in Gesprächen bestätigt. Es ist bemerkenswert, dass trotz der mit rein statistischen Methoden auszumachenden Wahlmanipulation 2009 die Wahlbeteiligung nicht eingebrochen ist.">8</a></sup> Das Volk greift jeden – noch so kleinen – Spielraum der Mitgestaltung auf und wird dadurch davon abgehalten, sich vom System abzuwenden.</p>
<h2>Gewalt und Angst</h2>
<p>Die institutionelle Verwirrung und Diffusion der Verantwortlichkeit ist meines Erachtens zwar notwendig, aber nicht hinreichend, um das Fehlen signifikanter Oppositionskräfte und damit den Fortbestand des politischen Systems des Iran zu erklären. In manchen autoritären Systemen sind <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Internetzensur_in_der_Volksrepublik_China">allumfassende Zensur</a> oder <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Politics_of_Turkmenistan">vollständige Abschottung von der Außenwelt</a> dafür verantwortlich; die Islamische Republik toleriert hingegen recht viel gesellschaftliche Offenheit<sup id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-9-back"><a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-9" class="simple-footnote" title="Die Ein- und Ausreise in den Iran ist weiterhin fast problemlos möglich. Es existiert zwar eine gewisse Internetzensur, sie kann aber meist mit sehr einfachen Mitteln umgangen werden, obwohl die technischen Mittel, um dies zu unterbinden durchaus vorhanden wären.">9</a></sup> und greift als zweites institutionelles Standbein bemerkenswerterweise allein auf Gewalt zurück.</p>
<p>Zum einen ist Gewalt – beziehungsweise Gewalt<em>androhung</em> – eine <em>vorbeugende Maßnahme</em>, welche die Grenzen der Toleranz des Systems aufzeigen und durchsetzen soll. Im Iran werden die allermeisten Regelverstöße (auch gegen die islamischen Grundprinzipien) ignoriert, solange sie <em>nicht politisch aufgefasst werden können</em> und die Islamische Republik nicht gefährden. So werden etwa gemischtgeschlechtliche Feste, Alkoholkonsum und Tanz im privaten Rahmen ebenso toleriert, wie wüste Beschimpfungen des Regimes und der Machthaber, auch in der Öffentlichkeit. Hingegen werden Handlungen, die das Regime gefährden könnten, wie an eine organisierte Kritik am System (etwa durch gewerkschaftliche Arbeit oder nicht genehmigte Straßenproteste) oder verbotene Verhalten, die politisch gedeutet werden können (wie etwa das <a href="https://noctulog.net/posts/2018/07/16/iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt/">Abnehmen des Kopftuchs</a>) nicht hingenommen. In solchen Fällen wird mit massiver wirtschaftlicher, psychischer und oftmals physischer Brutalität reagiert, die nicht vor Freunden, Familie und Rechtsanwälten halt macht. Diese (oft auch im Iran illegale) Gewalt wird ülicherweise bestenfalls halbherzig vertuscht, sodass die Grenzen und die Konsequenzen eines Übertritts jedem bekannt sind.<sup id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-10-back"><a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-10" class="simple-footnote" title="Es gibt einige wenige Fälle, in denen Grenzen unerwartet neu gezogen werden – etwa als Anfang 2018 plötzlich Umweltschützer ebenfalls als politische Gefahr betrachtet wurden und aufgrund fadenscheiniger Vorwände inhaftiert wurden. Dadurch wurde der Öffentlichkeit auch mitgeteilt, dass Umweltschutz fortan an ein „heikles“ Thema ist.">10</a></sup> Somit muss sich jeder Iraner zwischen Passivität,<sup id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-11-back"><a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-11" class="simple-footnote" title="Der sich auch als „Pseudowiderstand“ äußern kann, der gegen staatliche Vorgaben verstößt, aber keine politische Komponente entfaltet.">11</a></sup> Emigration<sup id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-12-back"><a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-12" class="simple-footnote" title="Interessanterweise sind auch emigrierte Iraner (auch wenn eine andere Staatsangehörigkeit angenommen wird, kann die iranische de facto nicht abgelegt werden), die großen Wert auf Familie legen und deshalb zurückkommen, auch im Ausland von dieser Entscheidung betroffen. Zusammenarbeit mit ausländischen Medien (BBC Persia, Voice of America, Deutsche Welle usw.) kann etwa zur Festnahme bei einem Familienbesuch oder zu Schikanen für zurückgebliebene Familienangehörige führen. Die Gewaltandrohung wirkt – wenngleich in einem anderen Ausmaß – somit auch auf die iranische Diaspora, was mit ein Grund für deren schwache politische Organisation ist.">12</a></sup> und tatsächlichem Widerstand – mit der Angst vor Gewalt gegen das gesamte Umfeld einhergehend – entscheiden.</p>
<p>Zum anderen treten immer wieder <em>Ausnahmesituationen</em> auf, in denen die interne Spannung den ihr ursprünglich zugewiesenen Rahmen sprengt und das gesamte System plötzlich gefährdet. Der anfänglich große Liberalisierungseifer Khatamis und die Opposition zu wichtigen Institutionen des Systems, wie der Judikative und dem Wächterrat, wurde nach der Schließung einer wichtigen Zeitung in <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Iran_student_protests,_July_1999">Studentenprotesten von 1999</a> unvermutet <em>externalisiert</em> und zu einer Auseinandersetzung zwischen einem Teil des Volks und der tatsächlichen Führung. Bei Demonstrationen wird die Angst durch das kollektive Auftreten verringert. Deshalb hat es auch rasche und massive Gewalt<em>ausübung</em> gebraucht, um den Preis für öffentliche politische Engagement dramatisch in die Höhe zu treiben und die Angst vor dem System wieder zu etablieren. Ein ähnliches Szenario spielte sich bei der Niederschlagung der <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/2009%E2%80%932010_Iranian_election_protests">Grünen Bewegung 2009</a> ab – das Ausmaß der Proteste erforderte eine nochmals brutalere Vorgehensweise, inklusive Massenverhaftungen und Folter von Inhaftierten, wodurch einer ganzen Generation dauerhaft Angst vor der Teilnahme an Demonstrationen eingeflößt wurde. Am Rande sei angemerkt, dass der direkt unter staatlicher Kontrolle stehende Sicherheitsapparat für solche Ausnahmesituationen nicht ausreicht (oder nicht als zuverlässig genug eingestuft wird) und üblicherweise teilautonome „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Basidsch-e_Mostaz%27afin">Freiwilligenmilizen</a>“ eingesetzt werden, was die Prekarität der umfassenden Gewaltausübung verdeutlicht.</p>
<blockquote>
<p>Gewalt (ihre Ausübung und Androhung) ist durch die Angst, die sie hervorruft, die zweite Stütze der Islamischen Republik Iran. Ihre primäre Aufgabe ist die Unterbindung der Entstehung organisierter revolutionärer Kräfte; dafür reicht zumeist die bloße Gewaltandrohung aus. In Ausnahmefällen, wenn systemgefährdende Kräfte sich mehr oder weniger organisieren (wie zuletzt 2009), kann auch eine umfassendere Art der Gewaltausübung notwendig werden.</p>
</blockquote>
<h2>Fragile Zukunftsszenarien</h2>
<p>Unter dem Gesichtspunkt der systemimmanenten Intransparenz und Gewalt lassen sich auch zukünftige Entwicklungen untersuchen und Schwierigkeiten bei einer Systemänderung erkennen.</p>
<p>Der manchmal prophezeite Übergang von dem jetzigen intransparenten, semiautokratischen System zu einer klassischen <em>(Militär)Diktatur</em> würde der Opposition ein klares Feindbild geben und müsste deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer wesentlich umfassenderen Überwachung und Gewaltausübung einhergehen. Ob dafür genug loyale Milizen vorhanden sind, bleibt offen. </p>
<p>Auf der anderen Seite müsste ein von den <em><span class="caps">USA</span> herbeigesehnter Systemwechsel</em> (gegebenenfalls durch eine militärische Intervention) zu einer „klassischen“ säkularen Demokratie zunächst das Gewaltpotenzial der bisherigen staatlichen und halbstaatlichen Sicherheitskräfte kanalisieren und daraufhin die bislang nie erprobte offene Konfrontation zwischen extrem unterschiedlichen Ideologien (von radikalem Islamismus zu umfassendem Säkularismus, von hasserfülltem Antiamerikanismus zu blinder Bewunderung für die <span class="caps">USA</span>, usw.) friedlich zu bewältigen. </p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-1">Die einzige nennenswerte Oppositionsbewegung ist die Organisation der „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Volksmodschahedin">Mojahedin-e khalk</a>“ (<span class="caps">MEK</span> oder <span class="caps">MKO</span>). Die sektenartige Bewegung setzte, nachdem sie nach der Revolution marginalisiert wurde, auf Terrorismus und die Unterstützung Saddam Husseins im Iran-Irak-Krieg. Außerhalb der Diaspora genießt sie dementsprechend nur marginal Unterstützung. <a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-2">In der Zwölferschia kommt die Rolle der Gesetzgebung Rolle prinzipiell einem Zweig der Familie Mohammeds (den zwölf Imamen) zu. Da Mahdi – der letzte Imam – verschollen ist, soll in der Islamischen Republik Iran ein ausgewählter „Jurist“ – der Revolutionsführer – dessen Rolle einnehmen. <a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-3">Khamenei hätte ansonsten – als damals recht unbedeutender Geistlicher – nicht das Amt des Revolutionsführers übernehmen können. Der Tod Khomeinis und die Auswahl des relativ blassen Khameneis markieren auch den Übergang zwischen einem charismatischen und einem institutionalisierten semiautokratischen System. <a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-4">Die sich unter anderem auch durch die Streitkräfte (mit der Zweiteilung Armee-<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Iranische_Revolutionsgarde">Revolutionsgarden</a>) und untere Ebenen des politischen Systems zieht. <a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-5">Daniel Brumberg und Farideh Farh (2016) <em>Politics of Contention and Conciliation in Iran’s Semiautocracy</em>, in: Power and Change in Iran, Bloomington:Indiana University Press. <a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-6">Die Opposition wird durch die Aufnahme in das System nicht nur gezähmt, sondern mittelfristig auch delegitimiert. <a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-7">Etwa der <a href="http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14334231.html">Absetzung des Präsidenten Banisadr</a> im Anschluss an die Revolution. <a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-8">Diese Zahlen können zwar nicht unabhängig verifiziert werden, die Größenordnung wurde mir jedoch in Gesprächen bestätigt. Es ist bemerkenswert, dass trotz der <a href="http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2009/06/20/AR2009062000004.html?hpid=opinionsbox1">mit rein statistischen Methoden</a> auszumachenden <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentschaftswahl_im_Iran_2009">Wahlmanipulation 2009</a> die Wahlbeteiligung nicht eingebrochen ist. <a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-9">Die Ein- und Ausreise in den Iran ist weiterhin fast problemlos möglich. Es existiert zwar eine gewisse Internetzensur, sie kann aber meist mit <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Virtual_Private_Network">sehr einfachen Mitteln</a> umgangen werden, obwohl die <a href="https://fm4.orf.at/stories/2887603/">technischen Mittel, um dies zu unterbinden</a> durchaus vorhanden wären. <a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-10">Es gibt einige wenige Fälle, in denen Grenzen unerwartet neu gezogen werden – etwa als Anfang 2018 plötzlich Umweltschützer ebenfalls als politische Gefahr betrachtet wurden und <a href="https://en.radiofarda.com/a/iran-intelligence-says-no-proff-spying-for-environmentalists/29218831.html">aufgrund fadenscheiniger Vorwände inhaftiert wurden</a>. Dadurch wurde der Öffentlichkeit auch mitgeteilt, dass Umweltschutz fortan an ein „heikles“ Thema ist. <a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-10-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-11">Der sich auch als „Pseudowiderstand“ äußern kann, der gegen staatliche Vorgaben verstößt, aber keine politische Komponente entfaltet. <a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-11-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-12">Interessanterweise sind auch emigrierte Iraner (auch wenn eine andere Staatsangehörigkeit angenommen wird, kann die iranische <em>de facto</em> nicht abgelegt werden), die großen Wert auf Familie legen und deshalb zurückkommen, auch im Ausland von dieser Entscheidung betroffen. Zusammenarbeit mit ausländischen Medien (<span class="caps">BBC</span> Persia, Voice of America, Deutsche Welle usw.) kann etwa zur Festnahme bei einem Familienbesuch oder zu Schikanen für zurückgebliebene Familienangehörige führen. Die Gewaltandrohung wirkt – wenngleich in einem anderen Ausmaß – somit auch auf die iranische Diaspora, was mit ein Grund für deren schwache politische Organisation ist. <a href="#sf-intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran-12-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Die Islamische Republik und das Kopftuch – keine bloße gesellschaftliche Norm2018-07-16T00:00:00+02:002018-07-16T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2018-07-16:/posts/2018/07/16/iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt/<p>Im Iran sind sowohl die weitreichende Gesetzlosigkeit als auch die effektive Kontrolle des Privatlebens der Bürger auffällig. Diese paradoxe Situation hat ihren Ursprung in der fehlenden Legitimität und daraus folgenden <em>Machtlosigkeit</em> der Islamischen Republik, die durch <em>Gewalt</em> kompensiert wird. Die „islamischen“ Kleidervorschriften, insbesondere jene für Frauen, sind keine bloße gesellschaftliche Tradition, sondern das wirkmächtigste Symbol dieses Gewaltpotentials, von dem die Islamische Republik nicht abgehen kann: Das Ende des Kopftuchzwangs würde auch das Ende des derzeitigen Systems bedeuten.</p><h2>Ein machtloser Staat</h2>
<p>Die Islamische Republik Iran ist ein komplexer, in vielerlei Hinsicht auch überraschend schwacher Staat. Gesetze werden in vielen Bereichen – absolut offenkundig – nicht exekutiert. Paradigmatisch dafür ist der Straßenverkehr, dessen offensichtlich sinnvolle Regeln (wie Gurt- oder Helmpflicht) trotz allgegenwärtiger Polizeipräsenz konsequent ignoriert werden, aber diese Schwäche dehnt sich auf weit wichtigere Bereiche aus, wie der Verwaltung des Wasser- und Stromverbrauchs, der Städteplanung oder der Bekämpfung des Schmuggels.</p>
<p>Im Gespräch schätzen fast alle Iraner, ungeachtet ihrer Weltanschauung und prinzipiellen Einstellung zur „islamischen“ Regierungsform, ihre gesamte jetzige Führungsriege als heuchlerisch und unfähig ein (außer eventuell bei der Selbstbereicherung). Der Staatsapparat genießt trotz der omnipräsenten Propaganda und des demokratischen Anstrichs kaum Legitimität. Dabei ist Macht im engen Sinn untrennbar an Legitimität gebunden, wie es Arendt eindrücklich formuliert: </p>
<blockquote>
<p>„Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses ist, welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat.“ <sup id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-1-back"><a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-1" class="simple-footnote" title="Arendt, Hannah (1970) Macht und Gewalt, München:Piper.">1</a></sup></p>
</blockquote>
<p>Die fehlende Unterstützung für die vier obersten staatlichen Institutionen<sup id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-2-back"><a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-2" class="simple-footnote" title="Natürlich gibt es auch Institutionen, die für einen Großteil der Bevölkerung legitim sind, wie Krankenhäuser, Universitäten, Sportteams, usw.">2</a></sup> des iranischen Staats – Legislative, Judikative, Exekutive und „Revolutionsführer“ – führt also im Arendt’schen Sinn zu ihrer eigentlichen <em>Machtlosigkeit</em>, die sich wie eingangs dargesellt in der weitverbreiteten Missachtung der Gesetze manifestiert. </p>
<h2>Das Kopftuch als Gewaltandrohung</h2>
<p>Es drängt sich die Frage auf, wie ein derartiger, überwiegend machtloser Staatsapparat sich seit fast vierzig Jahren am Leben halten konnte und dabei einen Krieg, harte Sanktionen und mehrere Aufstände (zuletzt 2009) überlebte. Ein Teil der Antwort (<a href="">auf den anderen Aspekt gehe ich in einem späteren Artikel ein</a>) ist <em>Gewalt</em> – Gewaltausübung und Gewaltandrohung. Gewalt sollte nicht mit Macht verwechselt werden, weil sie auf der Voraussetzung der Unfreiwilligkeit und damit der Illegitimität beruht:</p>
<blockquote>
<p>„Was niemals aus den Gewehrläufen kommt, ist Macht.“ <sup id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-3-back"><a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-3" class="simple-footnote" title="Arendt, Hannah (1970) Macht und Gewalt, München:Piper.">3</a></sup></p>
</blockquote>
<p>Der iranische Staatsapparat wendet Gewalt nur an, um einen Systemwechsel, signifikante Reformbestrebungen oder Kriminalität zu unterbinden, nicht aber um einfache Gesetze durchzusetzen.<sup id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-4-back"><a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-4" class="simple-footnote" title="Diese Fokussierung der Gewaltausübung könnte ebenfalls zur Stabilität beigetragen haben, weil kein überproportional großer Polizeiapparat benötigt wird und durch – für das System gefahrlose – Regelübertretungen die Illusion von Freiheit entstehen kann.">4</a></sup> Die Gewalt nimmt verschiedene Formen an, die von der <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Chain_murders_of_Iran">Exekution Intellektueller</a> über die <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Iranian_Green_Movement">Inhaftierung und Folter protestierender Studenten</a> oder den <a href="https://www.theguardian.com/world/2017/aug/17/iran-opposition-leader-begins-hunger-strike-to-demand-public-trial">Hausarrest politischer Dissidenten</a> bis zur bloßen Beschlagnahmung in Ungnade gefallener Zeitungen reichen. </p>
<p>Ein alltäglichere aber zumindest ebenso wichtige Form der Gewalt liegt der Durchsetzung der islamischen Kleidungsvorschriften zugrunde, insbesondere<sup id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-5-back"><a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-5" class="simple-footnote" title="Es gelten auch für Männer – weniger weitreichende – Kleidungsvorschriften, die Oberkörper und Beine betreffen und ebenfalls ganz überwiegend eingehalten werden.">5</a></sup> jener für Frauen. Die Regeln sind nicht genau definiert und haben sich mit der Zeit deutlich gelockert; dennoch wird etwa die Vorschrift, dass Frauen in der Öffentlichkeit zumindest einen Teil der Haare bedecken müssen, absolut lückenlos eingehalten – ein beeindruckender Kontrast zur allgemeinen Indisziplin.</p>
<p>Der Vollständigkeit halber möchte ich betonen, dass auch ohne diese Vorschriften wohl eine Mehrheit der iranischen Frauen – aus einer Mischung von Religiosität und Tradition – eine Art Kopfbedeckung tragen würde.<sup id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-6-back"><a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-6" class="simple-footnote" title="Es ist hingegen unwahrscheinlich, dass eine Mehrheit auch den Zwang für alle Frauen gutheißt.">6</a></sup> Die meisten anderen Frauen empfinden das Kopftuch eher als lästige Schikane denn als wirkliche Unterdrückung – die weit substanziellere Benachteiligung der Frauen im Iran findet in der Arbeitswelt und im Familienrecht statt.</p>
<p>Aber auch wenn das Kopftuch keinesfalls die problematischste Form der Diskriminierung von Frauen im Iran darstellt, würde man irren, wenn man den Zwang dazu als harmlose, etwas bizarre Tradition abtäte. Dieses Narrativ ist genau jenes, dass die Islamische Republik nach außen trägt, nach dem Motto: jedem Land seine Traditionen und Kleidungsvorschriften – Kopftuchpflicht und Nacktheitsverbot als Artverwandte.<sup id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-7-back"><a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-7" class="simple-footnote" title="Außenminister Zarif: „Every society has a dress code“, auch Massoumeh Ebtekar, die Vizepräsidentin für Frauenangelegenheiten, greift zur selben Analogie.">7</a></sup> </p>
<p>Eine solche Bagatellisierung verschleiert den zentralen Unterschied zwischen Macht und Gewalt, zwischen Legitimität und Illegitimität. Das Verbot der öffentlichen Nacktheit im Westen ist tatsächlich eine soziale Norm, die von fast jedem als solche akzeptiert wird. Ein Verstoß dagegen, der ohnehin kaum stattfindet, würde als Exzentrizität oder Unappetitlichkeit betrachtet und primär sozial geahndet werden. Zur Aufrechterhaltung einer solchen Norm bedarf es keiner massiven Polizeipräsenz, es muss an etwaigen Rebellen auch kein Exempel statuiert werden, es braucht keine Androhung schwerer Gefängnisstrafen oder gar körperlicher Züchtigung. Der Kopftuchzwang im Iran ist hingegen nicht durch universelle gesellschaftliche Akzeptanz, sondern nur durch derartige Gewaltandrohung und -ausübung durchsetzbar. Die <a href="https://www.rferl.org/a/iranian-woman-hijab-protest-two-year-sentence/29354892.html">extrem</a> <a href="https://www.iranhumanrights.org/2018/06/third-woman-sentenced-to-prison-in-iran-for-removing-hijab-slapped-with-more-charges/">harten</a> <a href="https://www.theguardian.com/world/2018/mar/07/iranian-woman-who-removed-headscarf-sentenced-to-two-years">Strafen</a> für Protestierende bezeugen dies eindrücklich.</p>
<p>Die Beachtung der „islamischen“ Kleidervorschriften ist demnach eine direkte Konsequenz angedrohter Gewalt. Dadurch wird sie auch zum wichtigsten, weil absolut omnipräsenten Symbol des Gewaltpotenzials der Islamischen Republik. Weit mehr als die ebenfalls allgegenwärtigen, aber lachhaften Straßenpolizisten oder die ständigen, jedoch leicht zu ignorierenden Gebetsaufrufe der Moscheen erinnert jede einzelne Frau in der Öffentlichkeit daran, die Antwort auf die Infragestellung der Grundfeste des Systems rohe Gewalt ist. </p>
<blockquote>
<p>Es ist unvorstellbar, dass im jetzigen System der Kopftuchzwang fällt. Der iranischen Führung ist bewusst, dass ein machtloser und der Gewalt unfähiger Staat sich auf Dauer nicht halten kann. </p>
</blockquote>
<p>Die Islamische Republik erhält sich maßgeblich durch Gewalt und das Kopftuch ist das omnipräsente Symbol dafür. Aus diesem Grund ist es auch unvorstellbar, selbst wenn andere Frauenrechte signifikant ausgebaut würden, dass der Kopftuchzwang im derzeitigen System fällt. Es wäre das Zeichen dafür, dass neben Machtlosigkeit auch Gewaltlosigkeit Einzug gehalten hat. Die iranische Elite ist sich dessen bewusst, dass der Staat damit seine wichtigste Stütze verlöre und ein Systemwechsel unabwendbar würde.<sup id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-8-back"><a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-8" class="simple-footnote" title="Es würden wohl sofort radikale Milizen in die Bresche springen, um das Kopftuchverbot durch unbeschränkte private Brutalität weiterhin aufrecht zu erhalten, was zu einem vollständigen Zusammenbruch des ohnehin schwachen staatlichen Gewaltmonopols führen würde.">8</a></sup> </p>
<p><strong>Nachtrag (21. Oktober 2018)</strong>: Im <a href="https://noctulog.net/posts/2018/10/21/intransparenz-resignation-gewalt-angst-zwei-stuetzen-der-islamischen-republik-iran/">folgenden Artikel</a> gehe ich etwas ausführlicher auf die Stabilität der Islamischen Republik ein und versuche darzustellen, dass das politische System zwar nicht legitim ist, sich das Volk zugleich mit der Illegitimität größtenteils abgefunden hat.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-1">Arendt, Hannah (1970) Macht und Gewalt, München:Piper. <a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-2">Natürlich gibt es auch Institutionen, die für einen Großteil der Bevölkerung legitim sind, wie Krankenhäuser, Universitäten, Sportteams, usw. <a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-3">Arendt, Hannah (1970) Macht und Gewalt, München:Piper. <a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-4">Diese Fokussierung der Gewaltausübung könnte ebenfalls zur Stabilität beigetragen haben, weil kein überproportional großer Polizeiapparat benötigt wird und durch – für das System gefahrlose – Regelübertretungen die Illusion von Freiheit entstehen kann. <a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-5">Es gelten auch für Männer – weniger weitreichende – Kleidungsvorschriften, die Oberkörper und Beine betreffen und ebenfalls ganz überwiegend eingehalten werden. <a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-6">Es ist hingegen unwahrscheinlich, dass eine Mehrheit auch den <em>Zwang</em> für alle Frauen gutheißt. <a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-7">Außenminister Zarif: „<a href="https://www.youtube.com/watch?v=2BL_dMACk_U">Every society has a dress code</a>“, auch Massoumeh Ebtekar, die Vizepräsidentin für Frauenangelegenheiten, greift zur <a href="https://globalnews.ca/news/4055332/iran-hijab-law-defended-massoumeh-ebtekar/">selben Analogie</a>. <a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-8">Es würden wohl sofort radikale Milizen in die Bresche springen, um das Kopftuchverbot durch unbeschränkte private Brutalität weiterhin aufrecht zu erhalten, was zu einem vollständigen Zusammenbruch des ohnehin schwachen staatlichen Gewaltmonopols führen würde. <a href="#sf-iran-kopftuch-keine-gesellschaftliche-norm-macht-gewalt-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Gedanken zu Israel (und den besetzten Gebieten)2018-05-15T00:00:00+02:002018-05-15T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2018-05-15:/posts/2018/05/15/gedanken-zu-israel-und-den-besetzten-gebieten/<p>Einige Überlegungen zur derzeitigen und zukünftigen Situation Israels und der besetzten Gebiete. Die Kernthese ist, dass Israel völlige Freiheit bei der Gestaltung der Zukunft Palästinas hat und für diese auch wird Verantwortung übernehmen müssen.</p><h1>Grundannahmen</h1>
<ol>
<li>Israel versteht sich als jüdischer Staat.</li>
<li>Die militärische Überlegenheit Israels kann durch keinen Staat der Region auch nur ansatzweise infrage gestellt werden.</li>
<li>Israel hat <em>de facto</em> die Souveränität über das gesamte palästinensische Gebiet. Die „Selbstverwaltungen“ können jederzeit außer Kraft gesetzt werden (bei gezielten Tötungen, Zerstörungen von Häusern, periodischen Militärinterventionen, usw.).</li>
<li>Israel ist einem enormen demografischen Druck ausgesetzt.</li>
</ol>
<h1>Schlussfolgerungen</h1>
<ol>
<li>Israel hat Interesse daran, zu expandieren. Eine feste Grenzsetzung ist nicht in seinem Sinne.</li>
<li>Weder die palästinensische Führung im Westjordanland noch jene in Gaza sind wirkliche „Widersacher“ Israels (sie könnten jederzeit militärisch eliminiert werden), sondern die pragmatischste Art, sich der direkten Besatzung und damit der Verantwortung für die palästinensische Bevölkerung zu entziehen.</li>
<li>Weder Israel noch die palästinensischen Führungen haben ein Interesse an einer klaren Grenzziehung, die den Konflikt beenden würde. Israel muss expandieren und die palästinensische Elite kann weiterhin von den Almosen Israels und der internationalen Gemeinschaft leben, und dem Volk vorspielen, dass sie sich – friedlich oder mit Gewalt – für die illusorischen Grenzen von vor 1967 einsetze. </li>
<li>Die tatsächliche Gefahr für Israel (im derzeitigen Selbstverständnis als jüdischer Staat) wäre eine absolut gewaltfreie Protestbewegung, die einen einzigen multiethnischen Staat und gleiche Bürgerrechte fordert und über kurz oder lang internationale Legitimität erlangen würde. Eine Art palästinensischer Mandela würde zeigen, dass das Problem nicht das oft beschwörte „Fehlen von Gesprächspartnern“ auf der palästinensischen Seite ist, sondern ein eigentlich innerisraelisches.<sup id="sf-gedanken-zu-israel-und-den-besetzten-gebieten-1-back"><a href="#sf-gedanken-zu-israel-und-den-besetzten-gebieten-1" class="simple-footnote" title="Diese Perspektive der Gewaltlosigkeit ist (wenn auch nur im Ansatz) bei den derzeitigen Protesten an der „Grenze“ zu Gaza zu erkennen, weshalb Israel soviel daran liegt, sie zu einer „traditionellen“ gewaltsamen Konfrontation mit der Hamas werden zu lassen.">1</a></sup></li>
<li>Der Iran ist für Israel nicht einmal Ansatzweise eine militärische Bedrohung, auch wenn es Israel gerne so darstellt. Das Problem ist vielmehr die <em>ideologische</em> Strahlkraft des Iran (und dessen Appelle zur Zerstörung des Zionismus) in den Palästinensergebieten. Der Iran kann und will Israel keinesfalls militärisch ausradieren, sondern durch den Konflikt mit den Palästinensern implodieren lassen.</li>
</ol>
<h1>Zukunftsperspektiven</h1>
<ol>
<li>Israel wird die Entscheidungen über die Zukunft der Palästinenser treffen, die palästinensischen Faktionen sind nur Scheinakteure. Auch externe Kräfte (die <span class="caps">USA</span>,<sup id="sf-gedanken-zu-israel-und-den-besetzten-gebieten-2-back"><a href="#sf-gedanken-zu-israel-und-den-besetzten-gebieten-2" class="simple-footnote" title="Die berüchtigte Botschaftsverlegung Trumps nach Jerusalem ist ein rein symbolischer Kniefall vor Israel, tatsächlich ändert er nichts an den lokalen Machtverhältnissen. Schon zuvor war etwa eine Zweistaatenlösung außer Reichweite, weil Israel kein Interesse daran hatte und die Abhängigkeit von den USA weitaus geringer ist, als üblicherweise angenommen.">2</a></sup> Europa, Russland, regionale Akteure) werden dabei keine signifikante Rolle spielen.</li>
<li>Kurzfristig erscheint die wahrscheinlichste Perspektive die Weiterführung des <em>status quo</em>, bei der Palästinenser schrittweise – und möglichst ohne zu offensichtliche Gewalt – zurückgedrängt werden, um mehr Lebensraum für Israelis zu schaffen. </li>
<li>Mittelfristig wird Israel jedoch ein an ein Legitimitätsproblem stoßen. Das Selbstverständnis des demokratischen Musterstaat mit der „moralischsten Armee der Welt“ wird an der immer größer werdenden Perspektivenlosigkeit der Palästinenser und den immer offensichtlicheren Parallelen zum Apartheid-Regime zerschellen.</li>
<li>Die daraus folgende Sinnkrise kann fast nur tragisch gelöst werden. Das eine Extrem wäre die (wohl kaum gewaltlos zu bewältigende) Aufgabe der jüdischen Identität durch eine Eingliederung der Palästinenser als israelische Bürger, das andere die endgültige (und alle Normen des Völkerrechts brechende) Zwangsumsiedlung der Palästinenser außerhalb des Gebiets des <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Mandatory_Palestine">britischen Mandats im Jahr 1946</a>. Wann eine derartige Entscheidung anstehen wird – in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren – ist kaum absehbar.</li>
</ol><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-gedanken-zu-israel-und-den-besetzten-gebieten-1">Diese Perspektive der Gewaltlosigkeit ist (wenn auch nur im Ansatz) bei den <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/2018_Gaza_border_protests">derzeitigen Protesten</a> an der „Grenze“ zu Gaza zu erkennen, weshalb Israel soviel daran liegt, sie zu einer „traditionellen“ gewaltsamen Konfrontation mit der Hamas werden zu lassen. <a href="#sf-gedanken-zu-israel-und-den-besetzten-gebieten-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-gedanken-zu-israel-und-den-besetzten-gebieten-2">Die berüchtigte <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/United_States_recognition_of_Jerusalem_as_capital_of_Israel">Botschaftsverlegung Trumps nach Jerusalem</a> ist ein rein symbolischer Kniefall vor Israel, tatsächlich ändert er nichts an den lokalen Machtverhältnissen. Schon zuvor war etwa eine Zweistaatenlösung außer Reichweite, weil Israel kein Interesse daran hatte und die Abhängigkeit von den <span class="caps">USA</span> weitaus geringer ist, als üblicherweise angenommen. <a href="#sf-gedanken-zu-israel-und-den-besetzten-gebieten-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Über die Souveränität von Staaten2018-02-10T00:00:00+01:002018-02-10T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2018-02-10:/posts/2018/02/10/gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk/<p>Hinter dem Schlagwort „Souveränität“ stecken sehr unterschiedliche Aspekte, deren Wechselspiel in diesem Artikel beleuchtet werden soll. Auf der formalen Ebene muss jedes internationale System zwischen „innerer“ und „äußerer“ staatlicher Souveränität einen Ausgleich erzielen. Dieser Ausgleich wird durch das Prinzip der Selbstverpflichtung erreicht – in die innere Souveränität eines Staats darf nur mit seiner Zustimmung eingegriffen werden. Auf der faktischen Ebene kann dann jeder Staat versuchen, seinen Spielraum durch an seine materielle Lage angepasste Selbstverpflichtungen zu erweitern. Materielle Beschränkungen einfach zu ignorieren, wie es derzeit im Vereinigten Königreich oftmals geschieht, ist keine sinnvolle Reaktion.</p><h2>Aspekte der Souveränität in internationalen Beziehungen</h2>
<p>„Souveränität“ ist ein äußerst vielschichtiger Terminus. In der <em>deskriptiven</em> Variante des Begriffs ist ein Organ genau dann souverän, wenn es in letzter Instanz frei handeln <em>könnte</em>. In der normativen Lesart ist ein Organ souverän, wenn es in letzter Instanz frei handeln <em>können sollte</em>. Darüber hinaus ist Souveränität ein Idealtypus: In der Realität wird es oftmals kein Organ geben, das <em>faktisch</em> vollständig eigenständig und damit souverän agieren kann (beziehungsweise können soll), auch wenn dies oft <em>formal</em> oft der Fall sein wird. </p>
<p>Im Bereich der internationalen Beziehungen kann schließlich zwischen zwei Ebenen der Souveränität unterscheiden werden. In der <em>Außenwirkung</em> kennzeichnet Souveränität die Möglichkeit, frei mit anderen internationalen Akteuren zu handeln und dabei Rechte und Pflichten zu begründen, etwa dadurch, dass Verträge eingegangen werden (äußere, „positive“ Souveränität). In der <em>Innenwirkung</em> beschreibt Souveränität die Unabhänigkeit der Innenpolitik von äußerer Einflussnahme (innere, „negative“ Souveränität). Beide Formen von Souveränität werden traditionell<sup id="sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-1-back"><a href="#sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-1" class="simple-footnote" title="Das internationale Staatensystem in seiner gegenwärtigen Form wird üblicherweise auf das Ende des Dreißigjährigen Krieges und den Westfälischen Frieden zurückgeführt, der Staaten als klar territorial abgegrenzte, kohärente und unabhängige Akteure insitutionalisiert hat.">1</a></sup> dem <em>Staat</em> zugeschrieben, der sowohl negative Souveränität auf seinem Staatsgebiet als auch äußere Souveränität im Umgang mit anderen Staaten genießt.</p>
<p>Ich möchte zunächst zeigen, dass äußere und innere Staatssouveränität zwar normativ auf derselben Grundlage beruhen, in ihrer Umsetzung jedoch gegeneinander abgewogen werden müssen. Daraufhin werde ich auf die Konsequenz der materiellen Ungleichheiten zwischen Staaten eingehen und die Möglichkeit beziehungsweise Notwendigkeit aufzeigen, formale Souveränität aufzugeben, um reale Unabhängigkeit zu gewinnen. Schlussendlich soll am Beispiel des Vereinigten Königreichs gezeigt werden, weshalb das Festhalten an einer absoluten formalen Souveränität für einen international agierenden Staat zu Widersprüchen führen muss.</p>
<h2>Innere und äußere Souveränität</h2>
<p>Dass dem Staat – und nicht Kirchen, Vereinen, Unternehmen, usw. – das Recht auf innere und äußere Selbstbestimmung zugesprochen wird, ist durchaus sinnvoll. Der primäre Grund ist seine <em>territoriale Abgrenzung</em> und institutionell gefestigte<sup id="sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-2-back"><a href="#sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-2" class="simple-footnote" title="Hier kann insbesondere auf Staaten als Träger des Gewaltmonopols hingewiesen werden.">2</a></sup> <em>innere Kohärenz</em>, der bei einem demokratischen Rechtsstaat durch die demokratische Legitimierung durch ein Staatsvolk ergänzt wird.<sup id="sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-3-back"><a href="#sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-3" class="simple-footnote" title="Der Staat ist natürlich nicht der einzige Träger der demokratischen Legitimierung – man denke nur an Gemeinden, Bundesländer, usw. Er weist aber üblicherweise die stärkste Legitimität auf und wird dementsprechend mit den wichtigsten Gewalten ausgestattet, darunter auch die Wahrnehmung der Außenbeziehungen.">3</a></sup></p>
<p>Dass der Staat sowohl in seiner Innen- als auch in seiner Außenwirkung Souveränität genießen sollte, bedeutet jedoch nicht, dass dies auch prinzipiell möglich ist. Tatsächlich konkurrieren positive und negative Souveränität schon auf der formalen Ebene miteinander: Jede Wechselwirkung zwischen zwei oder mehr Staaten hat zwangsläufig Auswirkungen auf der innenpolitischen Ebene und beschneidet die negative Souveränität zumindest eines der Staaten. Dies gilt sowohl für feindliche Eingriffe (Propaganda, Krieg, usw.) als auch für einvernehmliche Interaktionen (internationale Abkommen, multilaterale Institutionen, usw.).</p>
<p>Interessanter als diese einigermaßen offensichtliche Feststellung ist, wie das gegenwärtige internationale System, das im Wesentlichen auf der <a href="https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000276">Satzung der Vereinten Nationen</a> beruht, mit dem Phänomen umgeht. Es versucht einen Ausgleich zwischen positiver und negativer Souveränität zu finden, der auf zwei Prinzipien basiert, die für <em>alle Staaten gleichermaßen gelten</em>:<sup id="sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-4-back"><a href="#sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-4" class="simple-footnote" title="In diesem Kontext wird im Völkerrecht der Begriff „souveräne Gleichheit“ verwendet.">4</a></sup></p>
<ol>
<li>Verbot äußerer Einmischung und <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeines_Gewaltverbot">absolutes Verbot von Gewaltanwendung</a></li>
<li>Schutz der einvernehmlich eingegangenen Rechte und Pflichten durch ein <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Internationaler_Gerichtshof">embryonäres Rechtssystem</a></li>
</ol>
<p>Die Grundidee dabei ist, dass die Beschneidung der inneren Souveränität nur dann legitim ist, wenn diese (<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkergewohnheitsrecht">implizit</a> oder <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkerrechtlicher_Vertrag">explizit</a>) <em>durch den betroffenen Staat selbst</em> gebilligt wird. Diese Bestimmung ist als Schutzmechanismus für kleinere und schwächere Staaten zu werten, da diese stärker durch ungewollte äußere Eingriffe gefährdet sind. Nur in absoluten Ausnahmefällen<sup id="sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-5-back"><a href="#sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-5" class="simple-footnote" title="Insbesondere wenn gemäß Kapitel VII der Satzung „Maßnahmen bei Bedrohung des Friedens, bei Friedensbrüchen und Angriffshandlungen“ durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossen werden oder neu entstehende Staaten durch bestehende Verträge und Gewohnheitsrecht in ihrer Souveränität eingeschränkt werden.">5</a></sup> darf in die innere Souveränität eines Staats ohne seine Zustimmung eingegriffen werden.</p>
<blockquote>
<p>Im gegenwärtigen internationalen System soll jede Einschränkung der internen und externen Souveränität auf einem souveränen Akt des jeweiligen Staats beruhen, also auf einer <em>Selbstverpflichtung</em>.</p>
</blockquote>
<h2>Formale und faktische Souveränität</h2>
<p>Die bisherige Analyse war eine rein formale und hat über die tatsächlich bestehenden <em>materiellen Ungleichheiten</em> etwa geographischer, wirtschaftlicher, sozialer und militärischer Natur hinweggesehen. Dabei sind ebendiese Differenzen für ein vollständiges Verständnis der Souveränität in internationalen Beziehungen unabdingbar.</p>
<p>Die enormen Differenzen, die zwischen einer Supermacht wie den <span class="caps">USA</span> und einem wenig entwickelten Kleinstaat wie Sierra Leone bestehen, begründen ebenso große Unterschiede an <em>faktischer</em> äußerer und innerer Souveränität. Sierra Leone hat weder die Expertise noch die finanziellen Mittel, um eine eigene Handelspolitik zu betreiben. In diesem Bereich ist sowohl dessen äußere Souveränität (die Fähigkeit, Handelsabkommen zu verhandeln und abzuschließen) als auch dessen innere Souveränität (die Fähigkeit, ungewünschte äußere Einflüsse großer Unternehmen abzuwenden) faktisch drastisch eingeschränkt.</p>
<p>Prinzipiell besteht für jeden Staat – für einige weniger, für andere mehr – ein seinen materiellen Umständen geschuldetes <em>Souveränitätsdefizit</em>, eine Diskrepanz zwischen dem formalen Souveränitätsbegriff und der Realität. Der wesentliche Punkt ist nun, dass in gewissen Fällen tatsächliche Souveränität gewonnen werden kann, wenn der Verlust formaler Souveränität in Kauf genommen wird. Zwei Formen sind hierbei besonders relevant.</p>
<blockquote>
<p>Zwischen dem formalen und dem faktischen Handlungsspielraum eines Staates besteht ein Souveränitätsdefizit, das von geographischen, wirtschaftlichen, militärischen und sozialen Faktoren abhängt.</p>
</blockquote>
<p>Die erste Form ist die <em>Auslagerung der formalen Souveränität an Gleichgesinnte</em>, bei der das Souveränitäsdefizit durch <em>Bündelung der Kräfte</em>, gepaart mit einer gewissen <em>Mitsprache</em> im Bündnis, reduziert wird. Dass etwa baltische Kleinstaaten ihre formale verteidigungspolitische Souveränität an die <span class="caps">NATO</span> ausgelagert haben, liegt daran, dass sie dadurch vermeinen, ihren tatsächlichen inneren und äußeren Handlungsspielraum (den sie insbesondere durch Russland gefährdet sehen) zu vergrößern. </p>
<p>Die zweite Variante ist der <em>multilaterale Ausgleich mit Widersachern</em>. Dabei wird ein Teil der Souveränität an eine institutionalisierte Struktur abgegeben – unter der Voraussetzung, dass Konkurrenten dies ebenfalls tun. Große Staaten profitieren dabei von der größeren Berechenbarkeit der Handlungen anderer Staaten und von der Möglichkeit, das multilaterale System entscheidend mitzuprägen, beziehungsweise auf absehbare Zeit zu verfestigen (wie etwa die fünf Vetomächte die Vereinten Nationen geprägt haben). Weil das multilaterale System aber auch die faktische externe Souveränität der mächtigeren Staaten überproportional einschränkt, werden schwache Staaten in ihrer inneren, negativen Souveränität überdurchschnittlich gestärkt. Für eine Nuklearmacht stellt das Gewaltverbot eine signifikante Einschränkung dar, für eine der Agression unfähiges militärisches Leichtgewicht wie Österreich hingegen eine reine Erweiterung des Handlungsspielraums, weil das Risiko von äußeren Eingriffen deutlich reduziert wird.</p>
<p>Selbstverständlich geht der Verlust formaler Souveränität nicht automatisch mit einem Gewinn an faktischer Souveränität einher. Typischerweise wird an einem gewissen Punkt – der natürlich von der Beschaffenheit des Staates abhängt – ein <em>Optimum an faktischer Souveränität</em> erreicht. Jeder Staat wird demnach auf der internationalen Ebene danach trachten, dieses Optimum zu erreichen.</p>
<h2>Unzulänglichkeiten von „take back control“</h2>
<p>Abschließend möchte ich auf die vielfach vorherrschende Skepsis gegenüber der Aufgabe von formaler Souveränität eingehen. Es gilt an dieser Stelle zwei unterschiedliche Formen der Kritik zu unterscheiden. Auf der einen Seite ist die Skepsis der FPÖ, die auch als Regierungspartei „<a href="http://www.fpoe.eu/eu-budget-mehr-subsidiaritaet-statt-mehr-geld/">Mehr Subsidiarität statt mehr Geld</a>“ fordert und jene von Donald Trump, der sich über <a href="https://www.whitehouse.gov/briefings-statements/president-donald-j-trump-promoting-free-fair-reciprocal-trade/">„unfaire“ Handelsabkommen mit der ganzen Welt</a> beklagt, eine, die durchaus anerkennt, dass die Aufgabe formaler Souveränität Vorteile bringen <em>könnte</em> – wenn nur Abkommen beziehungsweise internationale Organisationen entsprechend adaptiert würden. Sie bleibt also prinzipiell im Rahmen der Maximierung der faktischer Souveränität.</p>
<p>Auf der anderen Seite ist die Skepsis, die derzeit bei den britischen Tories um sich greift, eine weitaus radikalere. Wenn Theresa May sich das <a href="https://www.express.co.uk/news/politics/681706/Boris-Johnson-vote-Brexit-take-back-control">„take back control“ Mantra</a> der Brexit-Kampagne aneignet, und vorgibt, dass sowohl die Gesetzgebung als auch die Rechtssprechung nunmehr in <em><a href="http://www.dailymail.co.uk/video/news/video-1523619/Theresa-control-laws.html">absoluter Unabhängigkeit vom Rest der Welt</a></em> vorgenommen werden sollen, richtet sie sich nicht nur gegen die <span class="caps">EU</span>, sondern eigentlich gegen jede Aufgabe formaler Souveränität, gegen jede internationale Selbstverpflichtung.</p>
<p>Der Gedanke dahinter ist, dass die formale Souveränität ein <em>Zweck an sich</em> ist, dessen Aufgabe nicht mit höherem Wohlstand, <a href="https://www.politico.eu/article/brexit-taking-back-control-united-kingdom-giving-up-control/">mehr Teilhabe am Weltgeschehen</a> oder anderen Vorteilen aufgewogen werden kann. Diese isolationistische Sicht des Staates ist, auch wenn sie etwas befremdlich erscheinen mag, für sich genommen konsistent. Sie wird jedoch unhaltbar, wenn sie – wie es die britische Regierung tut – mit dem Anspruch kombiniert wird, ein globaler (politischer, militärischer und kultureller) Akteur und Freihandelsverfechter zu sein. Wenn von „<a href="https://www.gov.uk/government/speeches/beyond-brexit-a-global-britain">global Britain</a>“ die Rede ist und unterwürfig um neue Handelsabkommen mit den <a href="http://www.bbc.co.uk/news/business-41888823"><span class="caps">USA</span></a> und <a href="https://www.economist.com/news/britain/21736111-attempts-woo-chinese-investment-are-reined-need-keep-america-and-europe">China</a> geworben wird – also doch wieder die faktische Souveränität statt der formalen in den Vordergrund gestellt wird –, wird „take back control“ zur leeren Worthülse, die wohl das Volk bei Laune halten soll.</p>
<blockquote>
<p>Das „take back control“-Dogma setzt formale Souveränität als Zweck an sich, der nicht mit höherem Wohlstand oder mehr Gewicht auf der internationalen Szene aufgewogen werden kann. In einem Staat wie dem Vereinigten Königreich, das immer noch globale Ambitionen hegt und deshalb auf faktische Souveränität bedacht ist, führt es unweigerlich zu Widersprüchen.</p>
</blockquote>
<p>Es bleibt ein Rätsel, wie diese offenkundigen Widersprüche von einem Großteil der <a href="http://www.telegraph.co.uk/opinion/2017/12/08/lettersnegotiations-must-fail-pragmatic-britain-vindictive-eu/">vorgeblich pragmatischen</a> Briten derzeit hartnäckig ausgeblendet werden. Über sechzig Jahre nachdem die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Sueskrise">Suezkrise</a> Frankreich und dem Vereinigten Königreich schonungslos die Schranken ihrer faktischen Souveränität aufgezeigt hatte, scheint die Abneigung gegenüber der <span class="caps">EU</span> dem „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Blut,_Schwei%C3%9F_und_Tr%C3%A4nen">Blut, Schweiß und Tränen</a>“-Mythos, der unbeugsamen, schließlich unbezwingbaren Insel, zu einer neuen Blütezeit verholfen zu haben. Die Zukunft des Vereinigten Königreichs – und zum Teil auch Europas – wird nicht zuletzt davon abhängen, wann und wie der britische Souveränitätstraum durch die Realität unterbrochen wird.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-1">Das internationale Staatensystem in seiner gegenwärtigen Form wird üblicherweise auf das Ende des Dreißigjährigen Krieges und den <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Westf%C3%A4lischer_Friede">Westfälischen Frieden</a> zurückgeführt, der Staaten als klar territorial abgegrenzte, kohärente und unabhängige Akteure insitutionalisiert hat. <a href="#sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-2">Hier kann insbesondere auf Staaten als Träger des <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Gewaltmonopol_des_Staates">Gewaltmonopols</a> hingewiesen werden. <a href="#sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-3">Der Staat ist natürlich nicht der <em>einzige</em> Träger der demokratischen Legitimierung – man denke nur an Gemeinden, Bundesländer, usw. Er weist aber üblicherweise die stärkste Legitimität auf und wird dementsprechend mit den wichtigsten Gewalten ausgestattet, darunter auch die Wahrnehmung der Außenbeziehungen. <a href="#sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-4">In diesem Kontext wird im Völkerrecht der Begriff „<a href="http://digitalcommons.law.yale.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=4326&context=ylj">souveräne Gleichheit</a>“ verwendet. <a href="#sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-5">Insbesondere wenn gemäß Kapitel <span class="caps">VII</span> der Satzung „<a href="https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000276">Maßnahmen bei Bedrohung des Friedens, bei Friedensbrüchen und Angriffshandlungen</a>“ durch den <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Sicherheitsrat_der_Vereinten_Nationen">Sicherheitsrat der Vereinten Nationen</a> beschlossen werden oder neu entstehende Staaten durch bestehende Verträge und Gewohnheitsrecht in ihrer Souveränität eingeschränkt werden. <a href="#sf-gedanken-formale-faktische-souveraenitaet-international-grossbritanien-uk-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Direkte Demokratie: Einwände abseits der Populismuskritik2017-12-12T00:00:00+01:002017-12-12T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2017-12-12:/posts/2017/12/12/direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik/<p>Die Stärkung der direkten – vermeintlich unverfälschten – Demokratie wird derzeit als Lösung für die Legitimitätskrise des Parlamentarismus gehandelt. Das in Österreich diskutierte und an die Schweiz angelehnte Modell soll dem Volk die Gesetzgebung ohne Zustimmung des Parlaments ermöglichen. Ich versuche zu zeigen, dass es problematisch ist; nicht etwa, weil es besonders anfällig für Populismus ist, sondern weil gewisse Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit direkte Demokratie ihre Legitimität entfalten kann. Sie eignet sich eher als Bremse denn als Beschleuniger für Reformvorhaben.</p><h2>Am Parlament vorbei</h2>
<p>Die Legitimitätskrise der repräsentativen Demokratie, deren Gründe ich anderswo zu erläutern versucht habe,<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-1-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-1" class="simple-footnote" title="Vgl. die Beiträge zum inhärent aristokratischen Element der representativen Demokratie und zu den Schwächen jedes repräsentativen Systems, bei dem Parteien eine wichtige Rolle einnehmen.">1</a></sup> führt zur einem verstärkten Interesse für Alternativen. Direkte Demokratie, die oft als unkorrumpierbarer Gegenpol zum Parteienstaat empfunden wird, stellt den derzeit wohl beliebtesten Ausweg dar. So ist es nicht verwunderlich, dass die Stärkung der direkten Demokratie auf der Tagesordnung der österreichischen Koalitionsverhandlungen steht.</p>
<p>Das <a href="http://www.kleinezeitung.at/politik/innenpolitik/5330902/Die-FPOe-im-Dilemma_Mehr-Demokratie-aber-wie">Modell der FPÖ</a>“ sieht vor, dass (unverblindliche) Volksbegehren, sollten sie von einem gewissen, geringen Anteil der Wahlberechtigten (4%), unterschrieben worden sein, durch das Parlament umgesetzt werden müssen. Im gegenteiligen Fall müsste eine (rechtlich bindende) Volksabstimmung abgehalten werden. Dieses Modell, das von der Schweiz inspiriert ist, fußt auf einem fundamentalen Misstrauen gegenüber dem Parlament: Das Volk muss gegen das Parlament kämpfen, es überstimmen, ja gewissermaßen <em>überwältigen</em> können.</p>
<p>Die ÖVP fordert zwar <a href="http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/933078_Der-Stress-mit-dem-Volk.html">eine höhere Eingangshürde</a> (10% der Wahlbeteiligten) und pocht auf eine <a href="http://derstandard.at/2000068951991/Direkte-Demokratie-OeVP-und-FPOe-uneins-ueber-Volksabstimmungen-zu-EU">Einschränkung der möglichen Themen</a>, stimmt dem Prinzip der Gesetzgebung gegen das Parlament aber großteils zu. </p>
<blockquote>
<p>Die schwarz-blauen Entwürfe der direkten Demokratie sind von der grundlegenden Ablehnung des Parlamentarismus geprägt: Das Volk muss gegen das Parlament ankämpfen dürfen und soll dabei das letzte Wort behalten.</p>
</blockquote>
<h2>Der Populismuseinwand und seine Schwächen</h2>
<p>Sowohl <a href="http://derstandard.at/2000068692251-1602/Direkte-Demokratie-SPOe-und-Neos-stellen-sich-gegen-FPOe-Plaene">SPÖ als auch <span class="caps">NEOS</span></a> haben Bedenken gegen diese Pläne – deren Umsetzung ohnehin einer Verfassungsänderung bedürfte.<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-2-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-2" class="simple-footnote" title="In Österreich sind Volksabstimmungen im Bundes-Verfassungsgesetz geregelt. Derzeit bedürfen sie jedenfalls der vorherhigen Genehmigung des Parlaments. In gewissen Fällen (z. B. Art. 44 Abs. 3 B-VG) ist eine Volksabstimmung zwar verpflichtend, aber erst nachdem sich eine 2/3-Mehrheit im Nationalrat dafür ausgesprochen hat.">2</a></sup> Es werden dabei drei wesentliche Argumente ins Treffen geführt:</p>
<ol>
<li>Es würde permanente Konfrontation, inszeniert von Oppositionsparteien stattfinden.</li>
<li>Die notwendige neutrale Meinungsbildung würde – insbesondere in Österreich – durch die Stärke der Boulevardpresse verunmöglicht.</li>
<li>Das Volk sei aufgrund der fehlenden Tradition der direkten Demokratie in Österreich nicht „reif“ für ein derartiges Instrument.</li>
</ol>
<p>Die Einwände, die sich als <em>Angst vor dem „<a href="https://www.profil.at/oesterreich/direkte-demokratie-oevp-fpoe-8401259">populistischen Unfug</a>“</em> zusammenfassen lassen, sind nicht besonders stichhaltig. Anhaltende politische Konflikte sind in jeder Gesellschaft mit freier Meinungsäußerung möglich: Gerade die FPÖ hat bewiesen, wie man die Unzufriedenheit mit der repräsentativen Demokratie – ganz ohne Volksabstimmungen – zur ständigen Polarisierung nutzen kann. Dass Zugang zu neutraler Information eine Vorbedingung für direkte Demokratie sei, stimmt zwar, diese Bedingung trifft aber auf <em>jede</em> Form von Demokratie zu.<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-3-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-3" class="simple-footnote" title="Besonders essentiell ist neutrale Information bei Präsidialsystemen: Der Plesbizitcharakter, der auch in direkten Volksentscheiden vorhanden ist, wird dort durch eine extreme Personifizierung noch verstärkt.">3</a></sup> Schließlich wird die fehlende Übung in direkter Demokratie nur während einer gewissen Eingewöhnungsphase ein Problem sein – schließlich ist auch das schweizerische System nicht vom Himmel gefallen. </p>
<p>Abseits des Populismuseinwands gibt es auch andere, meines Erachtens stichhaltigere Kritikpunkte an Formen der direkten Demokratie, in denen das Volk dem Parlament Entscheidungen aufzwingen kann. Ich möchte zwei davon<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-4-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-4" class="simple-footnote" title="Ich führe dabei im Wesentlichen Gedanken aus, die ich nach dem „Brexit“-Referendum skizziert habe.">4</a></sup> in den nächsten Abschnitten ausführen.</p>
<h2>Auf die Umsetzung vergessen</h2>
<p>Ein Text, der im Parlament zur Abstimmung steht, ist ein vollständig ausgearbeiteter Baustein, der unmittelbar in den Rechtskorpus des Staates eingefügt werden kann. Er resultiert aus der legistischen <em>Übersetzung</em> politischer Vorhaben und ihrer <em>Anpassung</em> an das bestehende rechtliche Rahmenwerk. Es wird dabei etwa Wert darauf gelegt, dass das Gesetz in Einklang mit Verfassungsgesetzen, beziehungsweise <span class="caps">EU</span>-Recht steht, damit es nicht später aufgehoben wird beziehungsweise überhaupt angewendet werden kann. Dieser Prozess hat zwei Funktionen. Erstens ist er technisch notwendig, um die Integrität und Kohärenz des Rechtsstaats bei der Anwendung neuer Gesetze zu wahren. Zweitens erlaubt er, die ursprüngliche politische Intention angesichts der rechtlichen Realität zu präzisieren. Vor diesem Schritt ist der Inhalt des Gesetzes eigentlich noch <em>undefiniert</em>.</p>
<p>Ebendieser Mechanismus fehlt, wenn direkte Demokratie am Parlament vorbei Initiativen umzusetzen vermag. Dem Volk wird dann eine Frage gestellt, die auf der Ebene der Intentionen verbleibt; der eigentliche Inhalt ist zum Zeitpunkt des Referendums noch unklar. Wird eine derartige politische Initiative angenommen, kann diese Unbestimmtheit zu schwerwiegenden Problemen führen.</p>
<p>Um aus einer politischen Intention ein Gesetz zu machen, bedarf es der der Umsetzung – dieser Schritt soll im Parlament geschehen,<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-5-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-5" class="simple-footnote" title="Insbesondere, weil im Parlament die legistische Expertise vorhanden ist und es befähigt ist, Gesetze zu beschließen.">5</a></sup> obwohl die Volksinitiative durchaus <em>gegen</em> den Willen des Parlaments gerichtet sein kann. Diese Situation führt unweigerlich zu Konflikten. In der Schweiz hat beispielweise das Parlament die Volksinitiative <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Eidgenössische_Volksinitiative_«Gegen_Masseneinwanderung»">„Gegen Masseneinwanderung“</a> mittlerweile so „umgesetzt“, dass die in der Initiative unmissverständlich vorgesehenen „jährliche[n] Höchstzahlen und Kontingente“<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-6-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-6" class="simple-footnote" title="Siehe Art. 121a der schweizerischen Bundesverfassung, der durch die Initiative eingefügt wurde und noch durch ein Gesetz umzusetzen war.">6</a></sup> aufgrund der schwerwiegenden – und wohl vom Volk unbeabsichtigten – Konsequenzen für die Beziehungen mit der <span class="caps">EU</span> <a href="https://www.nzz.ch/schweiz/zuwanderung-nochmals-harte-worte-zur-mei-umsetzung-ld.135121">schlichtweg ignoriert wurden</a>. Die unklare Kompetenzverteilung zwischen Volk (Entscheidung) und Parlament (Umsetzung) kann zu einem dauerhaften Machtkampf führen, der vor allem die Legitimität des Parlament untergräbt.<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-7-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-7" class="simple-footnote" title="In der Schweiz hat die SVP, auf deren Bestreben das Referendum „Gegen Masseneinwanderung“ organisiert wurde, die Vorgangsweise im Parlament wörtlich als „Landesverrat“ bezeichnet.">7</a></sup></p>
<p>Ist der Freiraum bei der Umsetzung einer Volksabstimmung groß genug, besteht zudem die Gefahr, dass die gewählte Umsetzung – auch wenn sie formal korrekt ist – nicht die Unterstützung des Volks genießt. Ein (potentielles) Beispiel dafür liefert die „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/EU-Austritt_des_Vereinigten_K%C3%B6nigreichs">Brexit</a>“-Entscheidung von Juni 2016. In diesem etwas bizarren (eigentlich nicht rechtsverbindlichen!<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-8-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-8" class="simple-footnote" title="Dieser Aspekt ist in den Hintergrund geraten und zeigt, wie stark die Legitimität von Volksabstimmungen in der allgemeinen Wahrnehmung ist – stark genug, um die über Jahrhunderte gewachsenen, rein parlamentarischen Entscheidungsprozesse des Vereinigten Königreichs de facto außer Kraft zu setzen.">8</a></sup>) Referendum wurde beschlossen, dass das Vereinigte Köngreich die <span class="caps">EU</span> verlassen solle. Der Beschluss war jedoch nur ein scheinbarer: Wie die Trennung verhandelt und vollzogen werden solle, was denn überhaupt das Resultat sein solle, wurde nicht erhoben. Jeder Brexit-Befürworter hat für <em>seine eigene Form</em> des Brexit gestimmt. Sowohl Vertreter einer weiteren Teilnahme am Binnenmarkt als auch jene eines „harten Brexit“ (also keines Abkommens mit der <span class="caps">EU</span>) können sich nun als „wahre Volksversteher“ ausgeben, weil es eigentlich <em>keinen Volkswillen</em> gibt: Das Volk wurde zur entscheidenden, substantiellen Frage nicht konsultiert. Obwohl ein „harter Brexit“ wohl <a href="https://www.markpack.org.uk/152855/survation-poll-brexit-referendum/">keine breite Unterstützung im Volk genießt</a>, könnte er sich angesichts des politischen Vakuums durchaus durchsetzen.<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-9-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-9" class="simple-footnote" title="Die eben abgeschlossenen Verhandlungen der „ersten Phase“ deuten derzeit nicht darauf hin, die Absichtserklärungen bleiben jedoch bestenfalls schwammig und schlimmstenfalls inkonsistent.">9</a></sup> </p>
<blockquote>
<p>Die Volksabstimmung als absolut legitime und eindeutige Willenserklärung des Volks ist eine Illusion – die Schwierigkeiten in der Umsetzung offenbaren oftmals die eigentliche Inhaltslosigkeit der getroffenen Entscheidung.</p>
</blockquote>
<p>Der Prozess, der durch das Volk <em>angestoßen</em> wurde, kann also durchaus zu einem Resultat führen, das von ihm nicht gewünscht wird. Das kommt selbstverständlich auch in rein parlamentarischen Systemen vor, die jedoch den <em>Korrekturmechanismus</em> der periodischen Abwahl vorsehen, der bei Volksabstimmungen – weil der Schein der Legitimität des ursprünglichen Referendums auch der womöglich illegitimen Umsetzung erhalten bleibt – nicht existiert. Diese Schwäche kann nur umgangen werden, wenn dem Volk nur bereits vollständig ausgearbeitete Gesetzesentwürfe<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-10-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-10" class="simple-footnote" title="Dabei würde unter anderem auch geprüft, ob das Gesetz mit der Verfassung, dem EU-Recht und dem Völkerrecht in Einklang steht, was auch den Schutz von Minderheitenrechten gewährleisten würde.">10</a></sup> vorgelegt werden. Die Ausarbeitung könnte unter anderem durch eine ausreichend starke Minderheit im Parlament erfolgen, wodurch für das Volk die Möglichkeit bestünde, die Expertise des Parlaments bereits vor der Abstimmung einzuholen,<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-11-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-11" class="simple-footnote" title="In der Schweiz ist das Parlament (Nationalrat und Ständerat) zwar für die Umsetzung zuständig und der Vorschlag zur Volksinitiative muss durch langwierige Begutachtungen, aber das Parlament kann den zur Wahl stehenden Vorschlag nicht vor der Abstimmung ausarbeiten.">11</a></sup> ohne sich der parlamentarischen Mehrheit vollkommen unterzuordnen.</p>
<h2>Versteinerung des Zufalls</h2>
<p>Die im letzten Abschnitt dargestellten Probleme bei der Umsetzung waren <em>statischer</em> Natur: sie treten bereits dann auf, wenn sich die Meinung des Volks niemals ändert. Durch das <em>dynamische</em> Element, also kurz- und langfristige Variationen in der öffentlichen Meinung, kommen zusätzliche Schwierigkeiten auf direktdemokratische Entscheidungen zu. </p>
<p>Der – durchaus einleuchtende – Vorteil der direkten Demokratie besteht darin, dass das Volk seine eigenen Vorstellungen unmittelbar vertreten kann, nicht durch eine politische Klasse, deren <a href="https://lpql.net/democracy-without-elections-sortition-en.html">Interessen möglicherweise andere sind</a>. Wenn den Volksvertretern nicht mehr getraut wird, wird dieser Vorzug der größeren Legitimität besonders attraktiv. Doch <em>das</em> Volk ist zugleich auch zeitlich unbeständig: Es ändert sich durch Geburten und Todesfälle, durch Ein- und Auswanderung, am schnellsten aber durch individuelle und kollektive <em>Meinungsänderungen</em>.</p>
<p>Nun stellt sich die Frage nach der eigentlichen Legitimität eines Volksentscheids, bei dem gewissermaßen ein (jetziges) Volk für ein anderes (zukünftiges) entscheiden soll. Das ist nur legitim, wenn davon ausgegangen werden kann, dass das zukünftige Volk sich in der Sache während des <em>relevanten Zeitrahmens</em> nicht signifikant entwickeln wird. Für sehr wichtige Entscheidungen, deren Auswirkungen über mehrere Jahrzehnte spürbar sind,<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-12-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-12" class="simple-footnote" title="Das gilt insbesondere für Entscheidungen, die kaum mehr zurückgenommen werden können, wie es etwa der Beitritt zu oder Austritt aus der EU.">12</a></sup> ist dies kaum möglich, weil die Entwicklung der Gesellschaft noch gänzlich unbestimmt ist. Natürlich besteht dieses Problem auch, wenn Entscheidungen im Parlament getroffen werden, jedoch kann diesem Umstand zumindest teilweise dadurch genüge getan werden, dass besonders weitreichende Änderungen des <em>status quo</em><sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-13-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-13" class="simple-footnote" title="Hier offenbart sich ein – meines Erachtens vor allem in gewachsenen Demokratien sinnvolles – strukturkonservatives Element: Wenn das System funktioniert, sollen Änderungen an seinen Grundprinzipien nur mit überwältigender Zustimmung möglich sein, im Sinne des Sprichworts (der Anglizismus sei mir verziehen) „If it ain’t broke, don’t fix it.“">13</a></sup> verstärkter Mehrheiten bedürfen,<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-14-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-14" class="simple-footnote" title="In Österreich besteht etwa für „kleinere“ Verfassungsänderungen ein Zustimmungsquorum von 2/3 der anwesenden Abgeordneten und ein Anwesenheitsquorum von der Hälfte der Abgeordneten (Art. 44 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz).">14</a></sup> wodurch die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Akzeptanz erhöht wird. Weil bei Referenden von erhöhten Teilnahme- oder Zustimmungsquoren für Änderungen abgesehen wird,<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-15-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-15" class="simple-footnote" title="Wohl aus dem Grund, dass sie als „undemokratisch“ empfunden würden, weil das gegenwärtige Verständnis der demokratischen Legitimierung auf die „Zustimmung von 50% + 1 Stimme“ beschränkt ist.">15</a></sup> ist direkte Demokratie in dieser Hinsicht deutlich anfälliger.</p>
<p>Bei Entscheidungen, die besonders knapp ausgehen, besteht ein zusätzliches Problem. Auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass sich die Volksmeinung wenig ändert, bleibt der Umstand, dass Wahlergebnisse durch verschiedene, mehr oder weniger zufällige Ereignisse beeinflusst werden können.<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-16-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-16" class="simple-footnote" title="Das Wetter ist ein trivialer, aber durchaus signifikanter Faktor, der möglicherweise bei dem Referendum über das Friedensabkommen in Kolumbien den Ausschlag gegeben hat.">16</a></sup> Dieser Umstand führt zu einer inhärenten <em>Schwankungsbreite</em>, die zwar gering ist, aber dennoch nicht immer vernachlässigt werden darf. Es kann durchaus sein, dass eine Volksabstimmung nichts anderes als eine Versteinerung des Zufalls ist. Um derartige Absurditäten zu vermeiden, könnte ein zweites Referendum vorgeschrieben werden, wenn das Resultat sehr knapp ausfällt (etwa bei weniger als einem Prozentpunkt Abstand).</p>
<blockquote>
<p>Dynamische Effekte schränken die Legitimität der direkten Demokratie ein, insbesondere dann, wenn weitreichende Gesetzesänderungen mit einer besonders knappen Mehrheit getroffen werden.</p>
</blockquote>
<h2>Vom sinnvollen Einsatz der direkten Demokratie</h2>
<p>Ich habe in diesem Artikel versucht zu zeigen, dass die gängige Kritik am verstärkten Einsatz direktdemokratischer Entscheidungsprozesse nicht überzeugend ist, zugleich aber auf andere schwerwiegende Mängel hingewiesen, welche die scheinbar absolute Legitimität von Volksentscheiden infrage stellen. Direkte Demokratie ist jedenfalls kein Allerheilmittel für die Wiederbelebung kriselnder parlamentarischer Systeme.</p>
<p>Die aufgezeigten Probleme sind indes nicht unlösbar; sie schränken den Bereich, in dem direkte Demokratie ein sinnvolles Mittel zur Entscheidungstreffung ist, bloß ein. Ein Referendum bleibt demnach sinnvoll, wenn zwei Kriterien erfüllt sind:</p>
<ol>
<li>Es besteht kein signifikanter Interpretations- und Umsetzungsspielraum bei den vorgeschlagenen Optionen.</li>
<li>Besonders weitreichende Änderungen des <em>status quo</em> (z. B. der Verfassung oder von internationalen Verträgen) bedürfen erhöhter Zustimmungsquoren und/oder der zusätzlichen Zustimmung des Parlaments.</li>
</ol>
<p>Diese beiden Vorgaben zeigen, dass direkte Demokratie sich primär als <em><a href="http://www.zeit.de/2017/44/alain-berset-bundesrat-rentenreform-niederlage-schweiz">strukturkonservatives Element</a></em> im demokratischen Gefüge eignet. Sie ist als zusätzliche Hürde ideal, um dem Volk zu ermöglichen, das Parlament zu <em>bremsen</em>.<sup id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-17-back"><a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-17" class="simple-footnote" title="Ein Idealbeispiel dafür sind Volksabstimmungen zum EU-Beitritt und bei EU-Vertragsänderungen, wie sie etwa im vergangenen Jahrzehnt in Frankreich, der Niederlande und Irland stattgefunden haben. Die Frage, wie stark diese Bremse sein und wie oft sie eingesetzt werden soll, ist eine andere.">17</a></sup> Als Mittel, um Reformen am Parlament vorbei <em>zu erzwingen</em> ist es hingegen nur in den seltensten Fällen sinnvoll. </p>
<blockquote>
<p>Direkte Demokratie ist kein Allerheilmittel für die Wiederbelebung parlamentarischer Systeme. Sie eignet sich primär als Bremse, als Gegenpol zu einem zu aktionistischen Parlament. Als Mittel, um bedeutende Änderungen gegen das Parlament zu erzwingen, ist sie hingegen untauglich.</p>
</blockquote><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-1">Vgl. die Beiträge zum inhärent <a href="https://lpql.net/posts/2016/08/28/die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie/">aristokratischen Element der representativen Demokratie</a> und zu den Schwächen jedes repräsentativen Systems, bei <a href="https://lpql.net/democracy-without-elections-sortition-en.html">dem Parteien eine wichtige Rolle einnehmen</a>. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-2">In Österreich sind <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Volksabstimmung_(%C3%96sterreich)">Volksabstimmungen</a> im <a href="https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000138">Bundes-Verfassungsgesetz</a> geregelt. Derzeit bedürfen sie jedenfalls der vorherhigen Genehmigung des Parlaments. In gewissen Fällen (z. B. Art. 44 Abs. 3 B-<span class="caps">VG</span>) ist eine Volksabstimmung zwar verpflichtend, aber erst nachdem sich eine 2/3-Mehrheit im Nationalrat dafür ausgesprochen hat. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-3">Besonders essentiell ist neutrale Information bei Präsidialsystemen: Der Plesbizitcharakter, der auch in direkten Volksentscheiden vorhanden ist, wird dort durch eine extreme Personifizierung noch verstärkt. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-4">Ich führe dabei im Wesentlichen Gedanken aus, die ich <a href="https://lpql.net/lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-en.html">nach dem „Brexit“-Referendum</a> skizziert habe. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-5">Insbesondere, weil im Parlament die legistische Expertise vorhanden ist und es befähigt ist, Gesetze zu beschließen. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-6">Siehe Art. 121a der schweizerischen <a href="https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/201702120000/101.pdf">Bundesverfassung</a>, der durch die Initiative eingefügt wurde und noch durch ein Gesetz umzusetzen war. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-7">In der Schweiz hat die <span class="caps">SVP</span>, auf deren Bestreben das Referendum „Gegen Masseneinwanderung“ organisiert wurde, die Vorgangsweise im Parlament wörtlich als „<a href="https://www.nzz.ch/schweiz/zuwanderung-nochmals-harte-worte-zur-mei-umsetzung-ld.135121">Landesverrat</a>“ bezeichnet. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-8">Dieser Aspekt ist in den Hintergrund geraten und zeigt, wie stark die Legitimität von Volksabstimmungen in der allgemeinen Wahrnehmung ist – stark genug, um die über Jahrhunderte gewachsenen, rein parlamentarischen Entscheidungsprozesse des Vereinigten Königreichs <em>de facto</em> außer Kraft zu setzen. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-9">Die eben <a href="https://www.theguardian.com/uk-news/2017/dec/08/main-points-of-agreement-uk-eu-brexit-deal">abgeschlossenen Verhandlungen der „ersten Phase“</a> deuten derzeit nicht darauf hin, die Absichtserklärungen bleiben jedoch bestenfalls schwammig und schlimmstenfalls <a href="https://www.theguardian.com/commentisfree/2017/dec/08/theresa-may-eu-deal-brexit-hard-border-ireland">inkonsistent</a>. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-10">Dabei würde unter anderem auch geprüft, ob das Gesetz mit der Verfassung, dem <span class="caps">EU</span>-Recht und dem Völkerrecht in Einklang steht, was auch den Schutz von Minderheitenrechten gewährleisten würde. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-10-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-11">In der Schweiz ist das Parlament (Nationalrat und Ständerat) zwar für die Umsetzung zuständig und der Vorschlag zur Volksinitiative muss durch <a href="https://kurier.at/politik/inland/volksinitiative-in-der-schweiz-traege-aber-beliebt/300.498.367">langwierige Begutachtungen</a>, aber das Parlament kann den zur Wahl stehenden Vorschlag nicht vor der Abstimmung ausarbeiten. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-11-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-12">Das gilt insbesondere für Entscheidungen, die kaum mehr zurückgenommen werden können, wie es etwa der Beitritt zu oder Austritt aus der <span class="caps">EU</span>. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-12-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-13">Hier offenbart sich ein – meines Erachtens vor allem in gewachsenen Demokratien sinnvolles – strukturkonservatives Element: Wenn das System funktioniert, sollen Änderungen an seinen Grundprinzipien nur mit überwältigender Zustimmung möglich sein, im Sinne des Sprichworts (der Anglizismus sei mir verziehen) „<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/If_it_ain%27t_broke,_don%27t_fix_it">If it ain’t broke, don’t fix it.</a>“ <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-13-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-14">In Österreich besteht etwa für „kleinere“ Verfassungsänderungen ein Zustimmungsquorum von 2/3 der anwesenden Abgeordneten und ein Anwesenheitsquorum von der Hälfte der Abgeordneten (<a href="https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000138">Art. 44 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz</a>). <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-14-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-15">Wohl aus dem Grund, dass sie als „undemokratisch“ empfunden würden, weil das gegenwärtige Verständnis der demokratischen Legitimierung auf die „Zustimmung von 50% + 1 Stimme“ beschränkt ist. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-15-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-16">Das Wetter ist ein trivialer, aber durchaus signifikanter Faktor, der möglicherweise bei dem <a href="https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2016/10/03/colombia-just-voted-no-on-its-referendum-for-peace-heres-why-and-what-it-means/">Referendum über das Friedensabkommen in Kolumbien</a> den Ausschlag gegeben hat. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-16-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-17">Ein Idealbeispiel dafür sind Volksabstimmungen zum <span class="caps">EU</span>-Beitritt und bei <span class="caps">EU</span>-Vertragsänderungen, wie sie etwa im vergangenen Jahrzehnt in <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Referendums_related_to_the_European_Union">Frankreich, der Niederlande und Irland</a> stattgefunden haben. Die Frage, wie stark diese Bremse sein und wie oft sie eingesetzt werden soll, ist eine andere. <a href="#sf-direkte-demokratie-einwaende-abseits-der-populismuskritik-17-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Kompromisse im säkularen Staat2017-11-12T00:00:00+01:002017-11-12T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2017-11-12:/posts/2017/11/12/kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz/<p>Auch wenn ein säkularer Staat ein erstrebenswertes Ideal darstellt, kann er nicht gänzlich konsistent und konfliktfrei sein. Um den Eindruck von Säkularität zu wahren und der objektiven und subjektiven Gefährdung durch fundamentalistische Gruppen zu begegnen sind pragmatische Abwägungen notwendig.</p><p>Ich möchte in diesem Beitrag das gerne verwendete Schlagwort „Säkularität“ etwas genauer untersuchen. Dabei werde ich anhand aktueller Beispiele zwei Dilemmata beschreiben, die in einem säkularen Staat auftreten können.</p>
<p>Zunächst gilt es zu kären, was ein „säkularer Staat“ überhaupt ist. Es ist ein Staat, der <em>unabhängig von Religion</em> im Speziellen und Weltanschauung im Allgemeinen funktioniert.<sup id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-1-back"><a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-1" class="simple-footnote" title="Diese Definition ist sehr allgemein und umfasst verschiedene Ausprägungen von Säkularität; eine weitere Präzisierung scheint mir jedoch nicht notwendig.">1</a></sup> Weshalb ist diese Funktionsweise sinnvoll? Die meines Erachtens einfachste Erklärung ist, dass er mit religiöser Vielfalt und Veränderung besser zurechtkommt als ein Staat, der eine bestimmte Religion bevorzugt. Säkularität verbessert die <em>Flexibilität</em> und Widerstandsfähigkeit gegenüber weltanschaulichen Umwälzungen.<sup id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-2-back"><a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-2" class="simple-footnote" title="Diese Erklärung bedürfte weiterer Ausführungen, die jedoch wenig mit dem Thema dieses Artikels zu tun haben.">2</a></sup></p>
<h2>Unabhängigkeit von Religion</h2>
<p>Es sind zumindest vier Ebenen relevant, um einen säkularen Staat zu beschreiben. Ein Staat ist nach (nicht immer geschriebenen) <em>Regeln</em> organisiert. Diese Regeln sollen durch <em>Staatsbedienstete</em> umgesetzt werden. In manchen Fällen kommen diese mit anderen <em>Außenstehenden</em> in Kontakt. Schließlich gilt es, die Säkularität als besonders schützenswertes <em>Grundprinzip</em> des Staates zu behandeln.</p>
<p>Auf der Ebene der <em>Regeln</em> ist Säkularität einfach zu konzipieren. Ihr Inhalt soll ohne Bezug auf religiöse Texte, Praktiken und Gruppierungen verständlich und umsetzbar sein. Die <a href="https://www.bundeskanzleramt.gv.at/kirchen-und-religionsgemeinschaften">österreichischen Religionsgesetze</a>, die gewissen religiösen Gruppierungen besondere Rechte und Pflichten einräumen, entsprechen offensichtlich <em>nicht</em> dieser Anforderung. Österreich ist deshalb schon auf dieser ersten Ebene kein vollkommen säkularer Staat.</p>
<p>Die säkulare <em>Umsetzung</em> der Regeln ist auch recht leicht zu fassen. Idealerweise setzt jeder einzelne Bediensteter des Staates – unabhängig seines eigenen religiösen Glaubens oder seiner eigenen Weltanschauung – die Regeln auf dieselbe Art um. Das heißt nicht, dass alle Lehrer, Polizistinnen oder Staatsanwälte ein und dieselbe Weltanschauung teilen müssen. Sie darf bloß bei der Ausführung ihrer Funktion keine Rolle spielen: Staatsangestellte müssen in einem säkularen Staat bereit sein, ihre <em>Religion oder Weltanschauung dem säkularen Regelwerk unterzuordnen</em>.</p>
<p>Ein Staat wirkt auch nach außen: Staatsbedienstete kommen mit der breiten Bevölkerung – schriftlich, telefonisch, persönlich – in Kontakt. Auch diese Interaktion ist für die Säkularität eines Staats essentiell, genaue Kriterien dafür sind jedoch schwierig auszumachen. Eine Bedingung ist jedenfalls, dass die Bürger die bereits erwähnte Säkularität der Regeln und der Staatsdiener als solche anerkennen. Wird hingegen auch nur der <em>Eindruck</em> erweckt, dass gewisse Religionsgruppen bevorzugt oder benachteiligt werden, wird die Säkularität des Staats untergraben. Säkularität erfüllt den eingangs skizzierten Zweck – einen friktionsfreien Umgang der Gesellschaft mit Religion zu garantieren – nur wenn auch die <em>Inszenierung</em> der Säkularität funktioniert.</p>
<p>Wenn schließlich Säkularität ein fundamentaler Wert des Staates sein soll, der eine gewisse <em>Stabilität</em> genießt und nur schwer abzuschaffen ist, sollte er durch gewisse Mechanismen geschützt werden. Die offensichtlichste ist die Aufnahme der Grundregel der Säkularität in den Verfassungsrang, wodurch sie nur mit überragender Mehrheit abgeschaft werden kann.<sup id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-3-back"><a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-3" class="simple-footnote" title="Es wäre eine Illusion zu glauben, dass bestimmte Werte in einer Demokratie vollständig abgesichert werden können, auch wenn etwa das deutsche Grundgesetz mit seiner „Ewigkeitsklausel“ diesem Ideal recht nahe kommt.">3</a></sup> Doch auch, was die Umsetzung der Regeln betrifft, muss sichergestellt werden, dass es zu keiner einfachen Unterwanderung der Säkularität, auch durch Einflüsse aus der Gesellschaft, kommen kann. Es braucht also gewisse <em>Metaregeln</em> als Schutzmechanismen für Säkularität. </p>
<p>Diese vier Aspekte erlauben es, zwei grundlegende Spannungen im säkularen Staat darzustellen, die den gegenwärtigen politischen Diskurs prägen und denen nur durch Abwägungen beigekommen werden kann.</p>
<h2>Religiöse Symbole im öffentlichen Dienst</h2>
<p>Die erste Schwierigkeit hängt mit der Beziehung von Säkularität und Wahrnehmung der Gesellschaft zusammen. Ein gutes Beispiel dafür ist das <a href="http://diepresse.com/home/innenpolitik/5150127/Kurz-fuer-Kopftuchverbot-im-oeffentlichen-Dienst">vorgeschlagene Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst</a>, das insbesondere den Lehrberuf treffen würde. Offensichtlich nehmen große Teile der Bevölkerung dieses Symbol als Ausdruck einer religiösen Einstellung wahr, die nicht mit der im staatlichen Dienst erforderlichen Unterordnung unter die säkularen Regeln kompatibel ist. Diese Wahrnehmung unterminiert also den säkularen Staat, selbst wenn die meisten (im Extremfall sogar alle!) Kopftuchtragenden in der Ausübung einer staatlichen Funktion eigentlich vollkommen neutral agieren.</p>
<p>Es gibt zwei Arten, diesem Problem zu begegnen. Man könnte das Kopftuch<sup id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-4-back"><a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-4" class="simple-footnote" title="Und, um dem Prinzip der Säkularität genüge zu tun, natürlich auch alle anderen offensichtliche religiösen und weltanschaulichen Symbole.">4</a></sup> im öffentlichen Dienst verbieten, damit der Eindruck (auch wenn er teilweise ungerechtfertigt ist) bei den Bürgern erst gar nicht entstehen kann. Andererseits könnte man auch probieren, das Empfinden der Bevölkerung zu ändern, etwa durch Kampagnen, welche die Vereinbarkeit des Kopftuchtragens und der neutralen Befolgung säkularer Regeln betonen.</p>
<p>Keine der beiden Lösungen ist ideal. Das Kopftuchverbot ist ein Eingriff in die <em>individuelle</em> Freiheit der Bediensteten aus <em>kollektiven Gründen</em>. Sie kann überdies dazu führen, dass der Eindruck der Diskriminierung einer Religionsgruppe, also wieder der Nicht-Säkularität, entsteht. Aber auch der Versuch, die Bevölkerung in ihrer bestehenden Wahrnehmung des Kopftuchs zu <em>belehren</em>, führt an die Grenze zur Propaganda oder kann zumindest als solche aufgefasst werden.<sup id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-5-back"><a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-5" class="simple-footnote" title="Es ist nicht zu übersehen, dass die FPÖ in Österreich ganz maßgeblich daran arbeitet und davon profitiert, dass ein großer Teil der Bevölkerung den Eindruck hat, dass der Staat bislang Probleme mit dem Islam „totschweigt“.">5</a></sup> Beide Strategien können also zu einer weiteren Unterminierung des Vertrauens in den Staat und dessen Säkularität führen.<sup id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-6-back"><a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-6" class="simple-footnote" title="Die langfristig einzige Lösung wäre entweder das Verschwinden des Kopftuchs in der Gesellschaft (weil sich Formen des Islam durchsetzen, die es nicht fordern) oder eine derartige Banalisierung und Desideologisierung des Kopftuchs, dass es keine religiöse Botschaft mehr vermittelt.">6</a></sup></p>
<blockquote>
<p>Es hat demnach immer eine <em>Abwägung</em> stattzufinden, die sowohl den legitimen Freiheiten der Angestellten als auch den legitimen Erwartungen der Bürger Rechnung trägt.</p>
</blockquote>
<h2>Fundamentalistische religiöse Praktiken</h2>
<p>Die zweite Schwierigkeit hängt mit den bereits erwähnten Verteidigungsmechanismen zum Schutz von Säkularität vor Untergrabung und Abschaffung von außen zusammen. Die entsprechenden Metaregeln können mit dem Erfordernis der Säkularität in Konflikt kommen, das sie eigentlich schützen sollen. Dass diese Möglichkeit nicht rein hypothetischer Natur ist, zeigt die Problematik um das „Burkaverbot“,<sup id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-7-back"><a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-7" class="simple-footnote" title="Eigentlich: „Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz“.">7</a></sup> das seit 1. Oktober 2017 zur Anwendung kommt und an das französische Gesetz von 2010 <a href="http://www.bmi.gv.at/bmi_documents/2091.pdf">angelehnt ist</a>.</p>
<p>Das Gesetz verbietet jede Art der Gesichtsverhüllung, ist damit auch <em>formal</em> ein säkulares Gesetz; dennoch zielt es offensichtlich auf fundamentalistische Glaubensausübung in der Form von Vollverschleierung ab:</p>
<blockquote>
<p>„Ziele […] sind die Förderung von Integration durch die Stärkung der Teilhabe an der Gesellschaft und die Sicherung des friedlichen Zusammenlebens in Österreich […]“ (<a href="https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20009892">§ 1 Anti-Verhüllungsgesetz</a>)</p>
</blockquote>
<p>Mit dem „friedlichen Zusammenleben“ ist natürlich das Zusammenlegen <em>Personen unterschiedlichen Glaubens</em> impliziert, das durch Vollverschleierung in der Öffentlichkeit untergraben werde. Tatsächlich ist Vollverschleierung als Ausdruck von Religiosität – im Gegensatz zu den allermeisten religiösen Symbolen (Kippa, Sikh-Turbane, usw.) – mit grundlegenden zwischenmenschlichen Gepflogenheiten in Österreich kaum in Einklang zu bringen. </p>
<p>Durch das Tragen von Niqab, Burka und ähnliche Kleidungsstücken entsteht zunächst eine <em>objektive</em>, direkte Selbstausgrenzung zwischen vollverschleierter Person und dem Rest der Gesellschaft. In gewissen Fällen soll dadurch auch das Primat des eigenen Glaubens über andere gesellschaftliche Regeln (also fundamentalistischer <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Islamismus">Islamismus</a>) verkündet werden – eine schwer zu übersehende Provokation für den säkularen Staat. Die zweite, <em>subjektive</em> und indirekte Ausgrenzung ist noch schwerwiegender: Vollverschleierte Personen lassen den Eindruck entstehen, dass eine bestimmte Glaubensrichtung eine Parallelgesellschaft mit radikal anderen Umgangsformen aufbaut. Diese Wahrnehmung schwappt unweigerlich (und oft ungerechtfertigt) über den eigentlichen Kreis<sup id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-8-back"><a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-8" class="simple-footnote" title="Es ist hierbei kaum relevant, wie viele Vollverschleierte tatsächlich in der Öffentlichkeit auftreten.">8</a></sup> der Fundamentalisten auf die breitere Gruppe der Muslime über. Die resultierenden religiösen Spannungen greifen früher oder später auch auf die Gesetzgebung und -umsetzung über und stellen mittelfristig eine Gefahr für die Säkularität des Staates dar.</p>
<p>Das „Burkaverbot“ kann<sup id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-9-back"><a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-9" class="simple-footnote" title="Was selbstverständlich nicht bedeutet, dass diese Überlegung bei der Entstehung des Gesetzes tatsächlich die vorrangige war.">9</a></sup> also als Anlassgesetzgebung zum mittelbaren Schutz der Säkularität gegen fundamentalistische Religionsausübung in der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden. Zugleich ist das gewählte Mittel jedoch zumindest eine <em>mittelbare</em> Diskriminierung einer radikalen Glaubensrichtung, die meint, sich nur durch Verschleierung ausleben zu können: Niqabträgerinnen werden anders behandelt, als Menschen, die ihren (eventuell genauso radikalen) Glauben unterschiedlich ausdrücken.</p>
<blockquote>
<p>Die Säkularität soll langfristig beschützt werden, wird aber dadurch unmittelbar untergraben.</p>
</blockquote>
<p>Auch in diesem Fall gibt es keine einfache Lösung im Sinn des säkularen Ideals – Argumente für und wider „Burkaverbot“ sind gleichermaßen logisch stringent. Eine minimale Einschränkung der Religionsfreiheit, die nur besonders extreme religiöse Strömungen betrifft, scheint mir angemessen, wenn sie auch wirklich das konfliktfreie Zusammenleben der überwältigenden Mehrheit der Gläubigen fördert. Auf diesem schmalen Grat wird sich das Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz in der Praxis bewähren müssen.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-1">Diese Definition ist sehr allgemein und umfasst verschiedene Ausprägungen von Säkularität; eine weitere Präzisierung scheint mir jedoch nicht notwendig. <a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-2">Diese Erklärung bedürfte weiterer Ausführungen, die jedoch wenig mit dem Thema dieses Artikels zu tun haben. <a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-3">Es wäre eine Illusion zu glauben, dass bestimmte Werte in einer Demokratie vollständig abgesichert werden können, auch wenn etwa das <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Grundgesetz_für_die_Bundesrepublik_Deutschland">deutsche Grundgesetz</a> mit seiner „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Ewigkeitsklausel">Ewigkeitsklausel</a>“ diesem Ideal recht nahe kommt. <a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-4">Und, um dem Prinzip der Säkularität genüge zu tun, natürlich auch alle anderen offensichtliche religiösen und weltanschaulichen Symbole. <a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-5">Es ist nicht zu übersehen, dass die FPÖ in Österreich ganz maßgeblich daran arbeitet und davon profitiert, dass ein großer Teil der Bevölkerung den Eindruck hat, dass der Staat bislang Probleme mit dem Islam „totschweigt“. <a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-6">Die langfristig einzige Lösung wäre entweder das Verschwinden des Kopftuchs in der Gesellschaft (weil sich Formen des Islam durchsetzen, die es nicht fordern) oder eine derartige Banalisierung und Desideologisierung des Kopftuchs, dass es keine religiöse Botschaft mehr vermittelt. <a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-7">Eigentlich: „<a href="https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20009892">Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz</a>“. <a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-8">Es ist hierbei kaum relevant, wie viele Vollverschleierte tatsächlich in der Öffentlichkeit auftreten. <a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-9">Was selbstverständlich nicht bedeutet, dass diese Überlegung bei der Entstehung des Gesetzes tatsächlich die vorrangige war. <a href="#sf-kompromisse-saekularen-staat-schleier-burkaverbot-antigesichtsverhuellungsgesetz-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Maßgeschneiderte Wahlwerbung und die Fragmentierung der Agora2017-05-25T00:00:00+02:002017-05-25T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2017-05-25:/posts/2017/05/25/massgeschneiderte-wahlwerbung-und-die-fragmentierung-der-agora/<p>Maßgeschneiderte Wahlwerbung ist kein neues Phänomen, wird aber durch die Verwendung sozialer Medien deutlich günstiger und effektiver. Ihr Siegeszug könnte der modernen deliberativen Demokratie die Grundlage entziehen.</p><p>Die vorgezogene britische Parlamentswahl, die am 8. Juni stattfindet, wird kaum zu Überraschungen führen. Die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Conservative_Party">Tories</a> unter Theresa May werden wohl einen deutlichen Sieg einfahren, obgleich die <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Opinion_polling_for_the_United_Kingdom_general_election,_2017">letzten Umfragen</a> darauf hinweisen, dass die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Labour_Party">Labour-Partei</a> einer vernichtenden Niederlage knapp entgehen wird.</p>
<h2>Maßgeschneiderte politische Kommunikation</h2>
<p>Dennoch lohnt es sich, den britischen Wahlkampf zu verfolgen, nicht zuletzt weil an ihm tiefgehende Transformationen der politischen Kommunikation veranschaulicht werden können. <a href="http://www.newstatesman.com/politics/elections/2017/05/believe-it-or-not-tories-are-running-energetic-election-campaign-you-just">Im <em>New Statesman</em></a> zeigt Stephen Bush auf, weshalb die Tories in traditionellen Massenmedien weitgehend abwesend sind. Stattdessen setzen sie auf maßgeschneiderte Wahlwerbung für Wechselwähler in besonders <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Marginal_seat">umkämpften Wahlkreisen</a>, die über Kanäle wie Facebook oder Twitter verbreitet wird. </p>
<p>Das ist im Prinzip nicht Neues. Seit Jahrzehnten gehen politische Parteien bevorzugt auf Wählergruppen zu, die am einfachsten zu überzeugen sind – durch personalisierte Broschüren, Telefonate, oder Tür-zu-Tür-Wahlkampf – und passen dabei selbstverständlich ihre Botschaft an die Zielgruppe an. Mit der Verwendung von sozialen Medien gehen jedoch zwei wesentliche Neuerungen einher.</p>
<p>Die erste betrifft die <em>Größenordnung</em> des Phänomens. Durch soziale Medien sinken die Kosten der zielgruppengerechten Kommunikation derart, dass sie zur <em>dominanten Komponente des Wahlkampfs</em> werden kann, bei dem traditionelle Kommunikationskanäle nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Die zweite ist die Verwendung von detaillierten Datenprofilen jedes Wählers, die es erlauben, <em>Inhalte mit ungeahnter Präzision auf einzelne Individuen zuzuschneiden</em> (das sogenannte <em>microtargetting</em>).<sup id="sf-massgeschneiderte-wahlwerbung-und-die-fragmentierung-der-agora-1-back"><a href="#sf-massgeschneiderte-wahlwerbung-und-die-fragmentierung-der-agora-1" class="simple-footnote" title="Der Einfluss dieser Strategie auf die „Brexit“- und Trump-Kampagnen wurde ausführlich thematisiert; auch wenn er manchmal überschätzt wird, zeugt er dennoch von einer neuen Form der politischen Kommunikation, in der individualisierte Botschaften eine wesentliche Stellung einnehmen.">1</a></sup></p>
<p>Dadurch wird auf lange Sicht die Möglichkeit eröffnet, einen erfolgreichen Wahlkampf ganz ohne landesweite Kampagne zu führen. Es zahlt sich aus, gänzlich unterschiedliche – im Extremfall sogar <em>widersprüchliche</em> – Inhalte an verschiedene Empfänger zu verbreiten; die Gefahr, dass die Inkohärenzen aufgedeckt werden, bleibt jedoch überschaubar: </p>
<blockquote>
<p>“The aim? To send the right messages to the right people. A happy side effect is that the wrong people – voters in rock-solid safe seats, the national media and opposition activists – might not see your message at all. Call it a subterranean campaign.” (<a href="http://www.newstatesman.com/politics/elections/2017/05/believe-it-or-not-tories-are-running-energetic-election-campaign-you-just">Stephen Bush</a>)</p>
</blockquote>
<h2>Eine Infragestellung der Deliberation</h2>
<p>Im antiken demokratischen Ideal ist die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Agora">Agora</a> ein physischer Ort zur demokratischen <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Deliberation">Deliberation</a> unter <em>Gleichen</em>. Die „Agora der Moderne“ hat sich an die Größe von Nationalstaaten angepasst: Der öffentliche Raum wird nun über Massenmedien vermittelt, die eine Deliberation zumindest unter <em>gleich Informierten</em> (nicht mehr unter Gleichen) ermöglichen sollen. </p>
<p>Die wachsende Relevanz unsichtbarer Kampagnen stellt auch diese abgeschwächte, moderne Form des deliberativen Ideals infrage. Politische Kommunikation, die direkt mit einzelnen Individuen – also gänzlich <em>unmediatisiert</em> – geführt wird, zielt darauf ab, eine <em>Fragmentierung der Agora</em> herbeizuführen,<sup id="sf-massgeschneiderte-wahlwerbung-und-die-fragmentierung-der-agora-2-back"><a href="#sf-massgeschneiderte-wahlwerbung-und-die-fragmentierung-der-agora-2" class="simple-footnote" title="Eine interessante Analogie ist die Fragmentierung des Markts durch individuelle und dynamische Preissetzung, die trotz der Intransparenz tendenziell zu mehr Effizienz führt. Im politischen Prozess ist die Intransparenz ein wesentlich größeres Problem.">2</a></sup> in der es keine gemeinsame Informationsbasis mehr geben soll. </p>
<p>Die Gefahr ist realistischerweise nicht, dass jeder Bürger, jede Bürgerin gänzlich vom Rest der Gesellschaft entfremdet wird. Gewisse Foren des Austauschs und der Homogenisierung werden unweigerlich weiterbestehen – Freunde, Familie, Kollegen – doch diese Foren tendieren dazu, <em>nicht zwischen sozialen und kulturellen Grenzen zu vermitteln</em>, wie es traditionelle Massenmedien (wie etwa der <span class="caps">ORF</span> in Österreich) konnten. </p>
<blockquote>
<p>Die moderne Agora wird durch individualsierte Wahlwerbung und die Schwäche traditioneller Massenmedien zusehends fragmentiert. Der öffentliche politische Raum, der die Grundlage einer sinnvollen Deliberation bildet, wird dadurch erheblich geschwächt. </p>
</blockquote><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-massgeschneiderte-wahlwerbung-und-die-fragmentierung-der-agora-1">Der Einfluss dieser Strategie auf die „Brexit“- und Trump-Kampagnen wurde ausführlich <a href="https://www.theguardian.com/technology/2017/may/07/the-great-british-brexit-robbery-hijacked-democracy">thematisiert</a>; auch wenn er <a href="http://www.zeit.de/digital/internet/2017-03/us-wahl-cambridge-analytica-donald-trump-widerspruch">manchmal überschätzt wird</a>, zeugt er dennoch von einer neuen Form der politischen Kommunikation, in der individualisierte Botschaften eine wesentliche Stellung einnehmen. <a href="#sf-massgeschneiderte-wahlwerbung-und-die-fragmentierung-der-agora-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-massgeschneiderte-wahlwerbung-und-die-fragmentierung-der-agora-2">Eine interessante Analogie ist die <em>Fragmentierung des Markts</em> durch <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2017-05-19/uber-s-future-may-rely-on-predicting-how-much-you-re-willing-to-pay">individuelle</a> und <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Dynamic_Pricing">dynamische</a> Preissetzung, die trotz der Intransparenz tendenziell zu mehr Effizienz führt. Im politischen Prozess ist die Intransparenz ein wesentlich größeres Problem. <a href="#sf-massgeschneiderte-wahlwerbung-und-die-fragmentierung-der-agora-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Über Sinn und Unsinn des Korporatismus2017-05-21T00:00:00+02:002017-05-21T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2017-05-21:/posts/2017/05/21/sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie/<p>Nach dem demokratischen Grundprinzip genießen alle Bürger und Bürgerinnen dieselben politischen Rechte. Die besonderen Rechte von Interessensvertretungen im politischen Prozess verletzen dieses Prinzip, können aber in bestimmten Fällen gerechtfertigt werden, insbesondere wenn sie besondere Expertise einbringen oder Probleme effizienter lösen können. Im Bildungsbereich werden diese Bedingungen meines Erachtens nicht erfüllt.</p><h2>Das demokratische Grundprinzip</h2>
<p>„Demokratie“ ist ein unendlich vielschichtiger und vieldeutiger Begriff, sowohl in seiner deskriptiven („Was ist Demokratie?“) als auch in seiner normativen Ausprägung („Was soll Demokratie sein?“). Auf einige problematische Aspekte bin ich bereits in <a href="https://noctulog.net/posts/2016/08/28/die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie/">früheren</a> <a href="https://noctulog.net/democracy-without-elections-sortition-en.html">Beiträgen</a> eingegangen.</p>
<p>Für diesen Artikel, der die grundlegende Spannung zwischen dem Bestehen von Interessensvertretungen und einem demokratischen System aufzeigen soll, wird jedoch ein sehr allgemeiner und abstrakter Demokratiebegriff ausreichen. Der Grundgedanke ist, dass für alle Mitglieder des Volks <em>gleiche politische Rechte</em> innehaben:</p>
<blockquote>
<p>Demokratie ist das System, in dem jedem Bürger, jeder Bürgerin dieselben Rechte zur politischen Gestaltung der politischen Gemeinschaft zuteil werden.</p>
</blockquote>
<p>Das allgemeine, aktive und passive Wahlrecht, die freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit sind konkrete Ausformungen dieses Prinzips. Ausnahmen davon bedürfen einer soliden Begründung und sind besonders restriktiv auszulegen.</p>
<h2>Interessensvertretungen und Korporatismus</h2>
<p>Interessensvertretungen vertreten Gruppen mit <em>spezifischen Interessen</em> innerhalb der Gesellschaft. Ich möchte nur auf Interessensvertretungen im engen Sinn eingehen, auf diejenigen, die <em>gesetzlich verankert</em> sind, denen über die bloße Meinungsbildung hinaus eine spezifische Einflussnahme im politische Prozess ermöglicht wird.<sup id="sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-1-back"><a href="#sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-1" class="simple-footnote" title="Politische Parteien, die auch unter diese Definition fallen würden, möchte ich hier ausklammern, weil sie eine sehr spezifische Rolle der Unterstützung des allgemeinen demokratischen Prozesses spielen sollen. Es sei trotzdem erwähnt, dass auch das Bestehen von politischen Parteien nicht so offensichtlich mit dem demokratischen Prinzip zu vereinen ist, wie es gemeinhin impliziert wird.">1</a></sup></p>
<p>In dieser Definition wird auch schon die Spannung zwischen dem Bestehen von Interessensvertretungen und dem demokratischen Grundprinzip deutlich: Mitgliedern der betroffenen Gruppe genießen eine <em>privilegierte politische Gestaltungsrolle</em>. Sie können auf den politischen Prozess nicht nur über ihre allgemeinen politischen Rechte, sondern auch über ihre Interessensvertretung Einfluss nehmen. Diese „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Korporatismus">korporatistische</a>“ Komponente zergliedert die Gesellschaft in Gruppen mit unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten.</p>
<blockquote>
<p>Bürger, die in einer oder mehreren gesetzlich anerkannten Interessensvertretung repräsentiert sind, haben andere politische Rechte als diejenigen, die es nicht sind. </p>
</blockquote>
<p>Trotz dieser Spannung gibt es in vielen Demokratien gesetzlich verankerte Rollen für unterschiedliche Interessensverbände. Österreich ist ein Extrembeispiel: Arbeiter-, Landwirtschafts-, Wirtschaftskammer, <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichischer_Gewerkschaftsbund">ÖGB</a>, Ärzte-, Notariats- und Rechtanwaltskammer, <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96sterreichische_Hochsch%C3%BClerinnen-_und_Hochsch%C3%BClerschaft">ÖH</a>, Eltern- und Schülervertretungen, und viele mehr genießen eine gesetzlich privilegierte, gesetzlich gesicherte Rolle im politischen Prozess.</p>
<p>Wie ist dieser Bruch mit dem demokratischen Prinzip zu rechtfertigen? Die Voraussetzung ist zunächst, dass die Gruppe <em>einheitliche Interessen</em> hat, die darüber hinaus <em>besonders berücksichtigt</em> werden sollten.</p>
<p>Darüber hinaus scheint es mir drei Faktoren zu geben, die eine korporatistische Einflussnahme legitimieren können:</p>
<ol>
<li>Expertise der Interessensvertretungen. Dieser Faktor ist insbesondere bei den Vertretungen von Ärzten, Rechtsanwälten und Notaren offensichtlich, aber er spielt auch in der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialpartnerschaft">Sozialpartnerschaft</a> eine wichtige Rolle.</li>
<li>Effizienz in der Problemlösung und Konfliktvermeidung, die mit traditionellen demokratischen Methoden nicht zu erreichen wäre. Das ist die wohl sinnvollste Begründung für das Bestehen der Sozialpartnerschaft.<sup id="sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-2-back"><a href="#sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-2" class="simple-footnote" title="Emerich Tálos, 2006, Sozialpartnerschaft: Austrokorporatismus am Ende?">2</a></sup></li>
<li>Eingeschränkte Auswirkungen auf Nicht-Mitglieder. Idealerweise haben die Entscheidungen, die korporatistisch beeinflusst werden, keine nennenswerten Auswirkungen auf den Rest der Gesellschaft. Bei Lohnverhandlungen für eine bestimmte Branche ist diese Bedingung zumindest näherungsweise erfüllt.</li>
</ol>
<p>Die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern erfüllt meines Erachtens noch am ehesten diese Kriterien. Dennoch mangelt auch sie an der Kohärenz der Interessen: Scheinselbstständige, Kleinstunternehmen und Großkonzerne haben selten dieselben Aspirationen. Eine darauf abzielende Reform der Sozialpartnerschaft wäre also angebracht, um die Legitimität und damit auch die Effizienz des Vorgangs zu stärken.</p>
<h2>Bildungspolitik als Beispiel</h2>
<p>Ich komme nun zum Bildungsbereich, der meines Erachtens ein gutes Beispiel für fehlgeleiten Korporatismus darstellt. Zwei Interessensverbände sind im Bereich der Schulpolitik auf Bundesebene gesetzlich verankert: die Lehrervertretung und die Schülervertretung.<sup id="sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-3-back"><a href="#sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-3" class="simple-footnote" title="Siehe das Schulunterrichtsgesetz und das Schülervertretungsgesetz.">3</a></sup> Beide äußern sich, wie auch die Elternvertretung (die einen etwas anderen rechtlichen Status hat, faktisch aber dasselbe Mitspracherecht beansprucht) <a href="http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/888658_Lehrer-und-Eltern-vereint-gegen-Schulreform.html">derzeit lautstark</a> zur vorgeschlagenen Reform der Schulautonomie.</p>
<p>Das erste und grundlegende Problem ist, dass alle drei Gruppen äußerst inhomogen sind. Ihre gemeinsamen Anliegen beschränken sich einerseits auf <em>praktische Fragen</em> auf Schulebene (Anbindung an den öffentlichen Verkehr, der Stundenplan, die Neugestaltung der Schulfassade, usw.) und andererseits auf budgetäre Fragen (Anzahl und Gehalt der Lehrkräfte, Budget für Instandhaltung, usw.), wo Lehrer, Schüler und Eltern tendenziell gemeinsam gegenüber der Regierung für mehr Ressourcen plädieren.<sup id="sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-4-back"><a href="#sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-4" class="simple-footnote" title="In diesen Themenbereichen genießen meines Erachtens die Lehrer- und Elternvertretungen mehr Legitimität als die Schülervertretung, die ob ihres Mangels an Erfahrung – und tendenziell auch an Reife – kaum relevante Expertise vorweisen können wird.">4</a></sup></p>
<p>Jedoch gibt es bezüglich der Organisation und inhaltlichen Ausrichtung der Bildungspolitik innerhalb jeder Gruppe starke ideologische Spaltungen, die mehr oder weniger die „traditionelle“ Parteienlandschaft abbilden. In diesen Fragen verlieren die Interessensvertretungen ihre Kohärenz und ihre Legitimität nach außen. Der derzeitge Bundesschulsprecher ist etwa ein Mitglied der offensichtlich ÖVP-nahen <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Sch%C3%BClerunion">Schülerunion</a>, und spricht sich auch dementsprechend <a href="http://derstandard.at/2000044937818/Schulsprecher-Es-mag-Lehrer-geben-denen-das-keinen-Spass-macht">gegen die Einführung der Gesamtschule aus</a>. Es fällt beim besten Willen schwer, darin ein konkretes gemeinsames Interesse der derzeitigen Schüler zu erkennen.</p>
<p>Diese Inhomogenität führt natürlich auch dazu, dass die drei Interessensvertretungen dem politischen Prozess, zumindest bei grundlegenden Bildungsreformen, nicht zu mehr Effizienz verhelfen, sondern im Gegenteil als <em>zusätzliche Trägheitsfaktoren</em> wirken. Das ideologische Parteienspiel im Nationalrat wird im Wesentlichen um drei – amateurhaftere – Kopien erweitert. </p>
<p>Dazu kommt erschwerend hinzu, dass Fragen der Bildungspolitik die gesamte Gesellschaft betreffen, wie wohl kaum ein anderes Thema. Auch Nicht-Schüler, Nicht-Lehrer, Nicht-Väter und Nicht-Mütter sind von der Schulpolitik im höchsten Ausmaß betroffen, weil sie die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Zukunft ganz wesentlich mitbestimmt. Die privilegierte Stellung von bestimmten Gruppen, die Abkehr vom demokratischen Prinzip, ist in solchen grundlegenden Fragen nicht zu rechtfertigen.</p>
<p>Es ist deshalb widersinning, wenn das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur in einer 2009 herausgegebenen Broschüre <em><a href="https://www.bmb.gv.at/schulen/unterricht/sp/wissenswertes_sv_09_17624.pdf?5te92d">Wissenswertes für SchülervertreterInnen</a></em> pathetisch behauptet: </p>
<blockquote>
<p>„Wir brauchen an den Schulen SchülervertreterInnen, die die Interessen der SchülerInnen nach außen tragen. Nur so ist eine aktive Mitgestaltung im Sinne der Demokratie möglich.“ (<a href="https://www.bmb.gv.at/schulen/unterricht/sp/wissenswertes_sv_09_17624.pdf?5te92d">Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur, 2009</a>)</p>
</blockquote>
<p>Es gibt eben keine einheitlichen Interessen, die nach außen getragen werden könnten; „im Sinne der Demokratie“ sind die Präferenzen anderer Bürger genauso zu berücksichtigen wie jene der Schüler. Zusammenfassend ist Korporatismus in der Bildungspolitik ist weder legitim noch effizient. Die Abkehr vom allgemeinen demokratischen Prinzip ist in diesem Bereich demnach nicht sinnvoll.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-1">Politische Parteien, die auch unter diese Definition fallen würden, möchte ich hier ausklammern, weil sie eine sehr spezifische Rolle der Unterstützung des allgemeinen demokratischen Prozesses spielen sollen. Es sei trotzdem erwähnt, dass auch das Bestehen von politischen Parteien nicht so offensichtlich mit dem demokratischen Prinzip zu vereinen ist, wie es gemeinhin impliziert wird. <a href="#sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-2">Emerich Tálos, 2006, <a href="http://www.demokratiezentrum.org/fileadmin/media/pdf/talos_sozialpartnerschaft.pdf">Sozialpartnerschaft: Austrokorporatismus am Ende?</a> <a href="#sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-3">Siehe das <a href="https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009600">Schulunterrichtsgesetz</a> und das <a href="https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009722">Schülervertretungsgesetz</a>. <a href="#sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-4">In diesen Themenbereichen genießen meines Erachtens die Lehrer- und Elternvertretungen mehr Legitimität als die Schülervertretung, die ob ihres Mangels an Erfahrung – und tendenziell auch an Reife – kaum relevante Expertise vorweisen können wird. <a href="#sf-sinn-und-unsinn-des-korporatismus-interessensvertretungen-demokratie-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Comprendre et apprivoiser l’identité collective2017-04-16T00:00:00+02:002017-04-16T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2017-04-16:/identite-collective-comprendre-apprivoiser-fr.html<p>Le concept d’« identité » appliqué à un groupe est ambigu. Il désigne, d’un côté, des attributs que partagent – de manière accidentelle – les membres d’un groupe. D’un autre côte, il réfère à des attributs qui sont constitués – de manière substantielle – par un groupe. Cette derniere forme, que je qualifierais d’« identité collective », se caractérise par une soumission volontaire de l’individu au collectif, ainsi que par une grande malléabilité et instabilité. Elle joue un rôle essentiel dans des phénomènes politiques et sociaux surprenants, comme l’élection de Donald Trump.</p><p>Il est difficile de trouver une notion plus en vogue dans le débat politique et culturel contemporain que celle d’« identité » <sup id="sf-identite-collective-comprendre-apprivoiser-1-back"><a href="#sf-identite-collective-comprendre-apprivoiser-1" class="simple-footnote" title="Cet article a également été publié dans Polemics, le magazine de l’Académie Diplomatique de Vienne.">1</a></sup>. On l’emploie, ainsi que ses avatars – l’« identité politique », l’« identité religieuse », ou encore l’« identité nationale » – sans précaution particulière, comme s’il s’agissait d’un concept parfaitement clair, ne demandant aucune analyse supplémentaire. Derrière cette simplicité apparente, il y a pourtant beaucoup à gagner d’une réflexion plus approfondie sur les différentes facettes de l’identité, et plus particulièrement sur ce qu’est l’identité d’un groupe.</p>
<h2>Identité individuelle et collective</h2>
<p>L’identité d’une personne peut être comprise comme un ensemble de traits caractéristiques, mais aussi comme l’appartenance à autant de groupes de personnes partageant ces traits. Mettons que je fasse du vélo tous les jours et que je sois membre d’un parti politique. Comme je partage ces deux particularités avec d’autres personnes, je fais objectivement partie des deux groupes définis par ces traits. Cependant, je n’ai pas le même rapport <em>subjectif</em> aux deux groupes. Je ne fais partie du groupe de cyclistes que de <em>manière accidentelle</em> : être cycliste fait partie de mon <em>identité individuelle</em>, indépendante de l’existence ou de la pratique d’autres cyclistes.</p>
<p>À l’inverse, pour ce qui est de mon appartenance à un parti, le groupe est constitutif de l’identité. D’une certaine manière, je ne peux être membre d’un parti que <em>parmi d’autres adhérents</em>, en faisant partie d’une véritable communauté. Le groupe n’est pas ici une collection d’individus partageant des attributs, mais un collectif qui constitue ces attributs. Ce « soi » n’est défini qu’à travers le « nous » : un phénomène qui peut être qualifiée d’<em>identité collective</em> <sup id="sf-identite-collective-comprendre-apprivoiser-2-back"><a href="#sf-identite-collective-comprendre-apprivoiser-2" class="simple-footnote" title="Cf. Fabio Lorenzi-Cioldi (2015) « Soi personnel et soi collectif : les sources d’un malentendu ».">2</a></sup>.</p>
<p>L’identité collective consiste fondamentalement en une <em>soumission consentie</em> d’un l’individu à un collectif. En y prenant part, il pourra par exemple éprouver de la fierté ou de la honte – des sentiments qui se rapportent au fond à lui-même – pour ce que font d’autres membres de ce collectif, sans même être identifié comme membre du groupe par une tierce partie. L’identité collective échappe au contrôle de la raison individuelle et constitue un véritable <em>acte de foi</em>.</p>
<h2>Une identité dynamique et instable</h2>
<p>De ce fait, l’identité collective est aussi <em>dynamique</em>, et elle peut réserver des surprises à qui s’y abandonne. Pour reprendre l’exemple de l’identité politique, il est possible d’être profondément déçu par le positionnement de son parti, ou, en fin de compte : être déçu par soi-même. La réponse à une telle désillusion – qui est, à bien des égards, semblable à une déception amoureuse – peut être le <em>pardon</em> et le renouvellement du lien identitaire ou au contraire la <em>rupture</em>, souvent douloureuse et qui s’accompagne d’un vide identitaire : « Qui suis-je désormais ? ». Quand elle est soumise à des pressions extérieures, l’identité collective peut donc être <em>malléable</em> et <em>instable</em>. Ces deux spécificités sont plus à même d’expliquer certains phénomènes politiques et sociaux surprenants, comme l’élection de Donald Trump, que les concepts éculés de « montée du populisme » ou de « droitisation ».</p>
<p>Dans cette optique, le succès de Trump resulte, d’un côté, de la malléabilité étonnante de l’identité collective des Républicains traditionnels, qui a pardonné à Trump d’avoir mis en cause jusqu’à ses principes les plus précieux (religion, famille, fidélité, armée). De l’autre côté, il est l’expression de la rupture de nombreux cols bleus avec l’identité collective Démocrate ; la seule alternative à même de remplir le vide qu’elle laisse étant le mouvement Trump. En ce sens, la <em>fluidité</em> de l’identité collective a eu raison de la stabilité des anciennes valeurs de part et d’autre de l’échiquier politique.</p>
<p>Si l’identité collective est un concept essentiel de l’analyse politique, il faut toutefois se prémunir contre son extension et essentialisation abusives. Un grand nombre d’identités <em>peuvent</em> être collectives, se fondant par exemple sur la nationalité, la pratique religieuse, l’ethnicité ou la filiation, ce qui ne signifie aucunement qu’elles le <em>seront</em> pour tous les membres de ces groupes. D’aucuns considèreront par exemple leur ethnicité ou leur religion comme relevant d’une identité collective, d’autres comme une simple caractéristique individuelle partagée.</p>
<h2>Apprivoiser l’identité collective</h2>
<p>Le concept d’identité collective que j’ai esquissé pourrait être résumé par la triade <em>soumission volontaire</em>, <em>malléabilité</em>, et <em>instabilité</em>. Ces attributs apparaissent suffisamment indésirables pour qu’on soit tenté de purement et simplement supprimer l’identité collective. Mais l’entreprise d’individualisation totale de l’identité n’a fait que fragmenter les identités collectives, sans pour autant les éliminer <sup id="sf-identite-collective-comprendre-apprivoiser-3-back"><a href="#sf-identite-collective-comprendre-apprivoiser-3" class="simple-footnote" title="Cf. Jean-Louis Amselle (2011) « L’ethnicisation de la France », Éditions Lignes, Paris.">3</a></sup>. Si, par exemple, on n’invoque plus la « Nation » comme source d’identité, on le fera pour des pratiques religieuses, des styles vestimentaires et alimentaires, des couleurs de peau, et ainsi de suite.</p>
<p>Un tel caléidoscope d’identités collectives est plus mouvant encore, plus à la merci de l’irrationalité et de conflits. <span class="caps">II</span> me semble donc moins dangereux de tarir la soif de collectif en renforçant des identités collectives larges et relativement stables. Si ce projet dépasse, par essence, le cadre restreint des nations, il paraît néanmoins plus aisé de le construire à partir d’identités nationales qu’en s’appuyant sur des identités collectives encore plus morcelées.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-identite-collective-comprendre-apprivoiser-1">Cet article a également <a href="http://www.polemics-magazine.com/language/comprendre-et-apprivoiser-lidentite-collective">été publié</a> dans <em>Polemics</em>, le magazine de l’Académie Diplomatique de Vienne. <a href="#sf-identite-collective-comprendre-apprivoiser-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-identite-collective-comprendre-apprivoiser-2">Cf. Fabio Lorenzi-Cioldi (2015) « <a href="http://teth.revues.org/523">Soi personnel et soi collectif : les sources d’un malentendu</a> ». <a href="#sf-identite-collective-comprendre-apprivoiser-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-identite-collective-comprendre-apprivoiser-3">Cf. Jean-Louis Amselle (2011) « L’ethnicisation de la France », Éditions Lignes, Paris. <a href="#sf-identite-collective-comprendre-apprivoiser-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Democracy without elections?2017-04-07T00:00:00+02:002017-04-07T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2017-04-07:/democracy-without-elections-sortition-en.html<p>Amid growing consensus that democracy faces a crisis, the standard response is to plead for “more” democracy, usually in the shape of <em>direct</em> democracy. Yet this approach does not address the root cause of discontent, which is the perceived lack of legitimacy of political parties and their elected representatives. I argue that <em>sortition</em> – randomly chosing citizens as members of the legislative body – could provide the required legitimacy without sacrificing institutional efficiency.</p><p>There is growing consensus that democracy faces a crisis,<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-1-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-1" class="simple-footnote" title="Cf. Armingeon, Klaus and Kai Guthmann (2014) Democracy in Crisis? The Declining Support for National Democracy in European Countries, 2007–2011 and Gould-Wartofsky, Michael (2015) The Crisis of Liberal Democracy.">1</a></sup> a finding corroborated by studies showing that trust in politicians is steadily declining.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-2-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-2" class="simple-footnote" title="Cf. OECD (2015) Trust in Government, Pew Research Center (2015) Beyond Distrust: How Americans View Their Government and NatCen Social Research (2015) British Social Attitudes.">2</a></sup> Democracy as an abstract ideal, however, remains virtually unquestioned in the “western” world. It is the only norm the entire political spectrum, including the most extreme fringes, seems to agree upon. Such a universal consensus is suspicious, especially in light of the current crisis. Rather than blindly calling for <em>more</em> democracy, I would plead for investigating <em>alternative forms</em> of democracy as a way forward. </p>
<p>I will first frame the current crisis in terms of democratic legitimacy, before arguing that its origin lies in the practice of elections. Finally, I will propose solving it by purely and simply replacing elections with random selection.</p>
<h2>The importance of intentions</h2>
<p>The canonical philosophical argument for democratic participation originates in <em>social contract theory</em>. According to this theory, individuals have to implicitly or explicitly agree to form and confer rights to a state, by entering into a <em>social contract</em>.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-3-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-3" class="simple-footnote" title="Cf. Locke, John (1763) Two Treatises of Government.">3</a></sup> Therefore, the very existence of a state depends on the will of the people agreeing to it, the supreme power within the state – its <em>sovereignty</em> – does not only come from its people, but must also always remain with it.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-4-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-4" class="simple-footnote" title="Cf. Rousseau (1762) Du Contract Social.">4</a></sup> In this line of thought, it is then natural to give the people a significant role in organising and running the state, by participating in the legislative, executive and adjudicative powers. The legitimacy of a state allowing for such a democratic participation is usually called <em>input legitimacy</em>,<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-5-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-5" class="simple-footnote" title="Cf. Scharpf, Fritz (1999) Regieren in Europa: efektiv und demokratisch?, Frankfurt: Campus Verlag.">5</a></sup> because it involves the citizens shaping and controlling the state. </p>
<p>This is not the only type of legitimacy that can be derived from social contract theory. Obviously, individuals only enter into such a contract because they expect some sort of (material or immaterial) benefit from creating a state.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-6-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-6" class="simple-footnote" title="Cf. Hobbes, Thomas (1651) Leviathan.">6</a></sup> From this perspective, the social contract serves a <em>specific purpose</em> for the contracting parties and the state is only legitimate if it achieves this purpose. This type of legitimacy is often termed <em>output legitimacy</em>.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-7-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-7" class="simple-footnote" title="Cf. Scharpf, Fritz (1999) Regieren in Europa: efektiv und demokratisch?, Frankfurt: Campus Verlag.">7</a></sup> It is not a democratic criterion, since it can also apply to political systems without input legitimacy.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-8-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-8" class="simple-footnote" title="In fact, Hobbes would claim that output legitimacy is incompatible with democratic participation, cf. Hobbes, Thomas: Leviathan.">8</a></sup></p>
<p>Modern western democracies seem legitimate <em>both</em> from the input and the output perspective. They offer significant democratic participation in the legislative, executive and judiciary branches and have arguably created unprecedented wealth and comfort for a large majority of their citizens.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-9-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-9" class="simple-footnote" title="Cf. The World Bank (2016) World Development Indicators.">9</a></sup> Yet popular discontent with politicians is growing.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-10-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-10" class="simple-footnote" title="Cf. OECD (2015) Trust in Government and Pew Research Center (2015) Beyond Distrust: How Americans View Their Government.">10</a></sup> There appears to be another type of legitimacy playing a role in this discontent.</p>
<p>The key factor, which is usually overlooked, is <em>intentional legitimacy</em>.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-11-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-11" class="simple-footnote" title="Which is not equivalent to throughput legitimacy, which assesses the quality of the process leading from input to output, cf. Schmidt, Vivien A. (2013) Democracy and Legitimacy in the European Union Revisited: Input, Output and ‘Throughput’.">11</a></sup> It deals with the – subjectively perceived – <em>intentions</em> of political decision makers: are they pursuing the common good or rather their own? are they independent or corrupt? Strictly speaking, intentional legitimacy is not a characteristic of the political system but of the <em>concrete actors</em> involved in it. It is therefore possible for a political system to produce intentional legitimacy at one point in time but not at another, while at the same time maintaining a constant output legitimacy. For instance, many western democracies are failing at creating intentional legitimacy, which was not the case a few decades ago.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-12-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-12" class="simple-footnote" title="Cf. OECD (2015) Trust in Government and Armingeon, Klaus and Kai Guthmann (2014) Democracy in Crisis? The Declining Support for National Democracy in European Countries, 2007–2011.">12</a></sup></p>
<p>Since the degree of intentional legitimacy does not exclusively depend on the underlying institutions, it could be enhanced by acting only on the image of the political actors without altering the political system itself. But such a solution would only be superficial and temporary, at the mercy of a subsequent change of political actors. I will therefore examine the institutional weaknesses having led to waning intentional legitimacy in the next section. </p>
<h2>The fragility of partisan systems</h2>
<p>Modern democratic systems, developed in the tradition of the United States Constitution of 1787, are based on two important pillars: <em>elections of legislative representatives</em> and <em>political parties</em>. Both of them are now so ubiquitous and intertwined that it is difficult to grasp their peculiarties and to conceive of democracy without them.</p>
<p>Elections have existed in various forms since Antiquity, but until the late 18th century, they were not considered democratic but rather <em>aristocratic</em><sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-13-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-13" class="simple-footnote" title="Montesquieu and Rousseau were among the last to share this view (cf. Manin, Bernard (2012) Principes du gouvernement représentatif, Paris: Flammarion)">13</a></sup> and therefore not considered for legislative assemblies. The reason is very simple: in an election, some people have higher chances of winning than others. It invariably introduces a <em>distinction</em> between those who are favoured by the electorate and those who are not. The electorate does not want <em>anyone</em> as a representative, which is the aristocratic element. Of course, there is also an equally obvious democratic element: every citizen has the same weight in deciding who will be part of the ruling aristocracy. </p>
<p>In modern representative democracies, the law-making body is elected by the people.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-14-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-14" class="simple-footnote" title="This can be taken as a definition of “modern democracy”.">14</a></sup> The modalities of this election differ considerably (proportional representation, single-winner or mixed), so that the criteria for electing the “aristocracy” vary substantially. However, there is a distinctive feature common to every representative system: a form of <em>market</em>, mediating between “political demand” and “political supply”. From this perspective, electoral campaigns are just <em>advertising campaigns</em> to influence the electorate in their assessment of the suitability of the candidates. </p>
<p>In such a market, information about the “political product” is intrinsically incomplete. There is no possibility for the electorate to know what its representatives will actually do when elected – not only because there is usually no imperative mandate<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-15-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-15" class="simple-footnote" title="Cf. Manin, Bernard (2012) Principes du gouvernement représentatif, Paris: Flammarion.">15</a></sup> but also because circumstances can change drastically during a legislature. In such a market,<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-16-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-16" class="simple-footnote" title="Cf. Stigler, George J. (1961) The Economics of Information.">16</a></sup> it is natural for <em>brands</em> to develop, which are necessary to build trust within the electorate. Developing and protecting a political brand requires significant concentration of capital (economic, human and political<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-17-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-17" class="simple-footnote" title="Cf. French, Richard D. (2011) Political Capital.">17</a></sup>) on the supply side, leading to high barriers to entry. The elective aristocracy really is an <em>elective oligopoly</em>.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-18-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-18" class="simple-footnote" title="For a similar conclusion, albeit coming from other lines of thought, cf. Michels, Robert (1915) Political Parties; a Sociological Study of the Oligarchical Tendencies of Modern Democracy, New York: Hearst’s International Library Co and Weber, Max (1919) Politik Als Beruf, München: Duncker & Humblot.">18</a></sup></p>
<p>Therefore, the entities managing the political supply – <em>political parties</em> – virtually always form a restricted elite. This is a <em>direct consequence</em> of the election process. It also explains the ubiquity of political parties, which exist in every type of representative democracy. This is not to say that election modalities cannot influence party structures.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-19-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-19" class="simple-footnote" title="Cf. Weber, Max (1919) Politik Als Beruf, München: Duncker & Humblot.">19</a></sup> For instance, a first-past-the-post system will encourage parties to develop “local brands” for each constituency and invest most in contested constituencies. The very existence of political parties, however, cannot be avoided in a representative system. </p>
<p>Parties, being at the core of political decision-making, are the main actors to which intentional legitimacy can be ascribed. For a party system to be legitimate, it has to provide a sufficiently varied offer, so that the majority of the electorate can identify with at least one party. Therefore, political parties must somehow reflect the political divisions, the society’s fault lines. While this requirement might conflict with the oligopolistic concentration of the political spectrum, it does not have to. As long as the number groups with significantly differing interests is limited, political parties might represent them adequately.</p>
<p>However, conferring political power to political parties may have other deleterious consequences. First, parties might exclusively focus on their own electorate (or, worse, on their own re-election), losing perspective of the people as a whole. This clientilism exacerbates the political divisions, as both the parties and the electorate split into antagonistic factions.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-20-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-20" class="simple-footnote" title="Cf. Rousseau, Jean-Jacques (1762) Du Contract Social. Amsterdam: Marc Michel Rey and Madison, James (1863) Federalist No. 10.">20</a></sup> At a certain point, the dialogue between the factions breaks down, which might lead to civil war. In terms of intentional legitimacy, each faction only considers its <em>own</em> representatives as being legitimate, while opposing groups are seen as pursuing a partisan agenda. The Austrian (1934) and Spanish (1936-39) civil wars are only two examples of such party-driven explosions.</p>
<p>Second, the party spectrum might fail to capture the society’s divisions. This can happen for a number of reasons. Established parties with large inertia might be incapable to adapt to changes in their electorate; parties might be reluctant to embrace conflict because they fear to be exceedingly divisive; new parties might not develop because of the entry barriers of the electoral market. This leads to the estrangement of an increasingly large proportion of the electorate and a perceived loss of intentional legitimacy. The political elite – in this case <em>all</em> relevant parties – appears to simply be <em>ignoring</em> the people in favour of its own agenda.</p>
<p>As mentioned in the introduction, this scenario is currently unfolding in many western democracies. Alarmingly, the process can reinforce itself, as those who actually <em>are</em> represented by the established parties start empathizing with those who are not. As a result, “the establishment” as a whole, including the political elite at its core, is rejected. It is then sufficient to <em>appear</em> as being “outside the establishment” to grab political power. Donald Trump’s election is not the only example of this phenomenon.</p>
<p>To summarize, the election of legislative assemblies, a feature common to all modern democracies, inevitably leads to a partisan oligopoly with a differentiated political elite. This system is extremely fragile, since political parties may not adapt sufficiently rapidly to changes in society and thus lose their intentional legitimacy. In the next section, I will propose a radical, yet reasonable way to address this weakness of the representative system and to design a political system with <em>inherent intentional legitimacy</em>.</p>
<h2>Randomness to the rescue</h2>
<p>One way to address the issue of intentional legitimacy is to resort to <em>direct democracy</em>. If the elected representatives and the parties they belong to are not trusted to pursue the interest of the people, it is natural to let the citizens decide on sensitive issues <em>themselves</em>. Proposals to strengthen direct democracy are currently quite popular<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-21-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-21" class="simple-footnote" title="Cf. Bershidsky, Leonid (2016) Bring on the other E U referendums and Caspari, Lisa (2017) Bundestagswahl 2017: Wahlkampf Mit Dem Volksentscheid.">21</a></sup> and indeed, matters decided by referendum are undeniably endowed with input and intentional legitimacy. There are, however, a number of drawbacks of direct democracy, the most important of which is that it is only a procedure to <em>adopt or reject</em>, not to <em>draft</em> legal texts. Referenda that aim to introduce yet unspecified legislation (for instance the “Brexit” referendum) are <a href="https://lpql.net/lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-en.html">ill-conceived</a>, as the task of deciding what the electorate <em>really</em> wanted is, in the end, left to the representative system. The second crucial defect is that direct democracy is extremely time-consuming and expensive, and only makes sense for a very limited number of decisions.</p>
<p>Another democratic element originating in the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Solonian_Constitution">Solonian Constitution</a> of Athens is usually given little attention:<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-22-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-22" class="simple-footnote" title="Although recently, it has increasingly received coverage, cf. Manin, Bernard (2012) Principes du gouvernement représentatif, Paris: Flammarion, Sintomer, Yves (2012) Could Random Selection and Deliberative Democracy Revitalize Politics in the 21st Century? and Pluchino, Alessandro et al. (2011) Accidental Politicians: How Randomly Selected Legislators Can Improve Parliament Efficiency.">22</a></sup> <em>sortition</em>, i.e. <em>random selection</em> of citizens. In modern democracies, it is only used in the judiciary branch, where popular juries are meant to be a safeguard against politically motivated trials. Using sortition to also designate legislative assemblies, as it happened in Athens<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-23-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-23" class="simple-footnote" title="Cf. Manin, Bernard (2012) Principes du gouvernement représentatif, Paris: Flammarion.">23</a></sup> would be a simple and elegant way to combine the advantages of direct and representative democracy.</p>
<p>First, sortition guarantees a <em>near-perfect representation of the population</em>, since any citizen has the same probability to be chosen as a member of the assembly. Second, it ensures that there is <em>no incentive for the formation of stable political elites</em>, completely eliminating the issues arising in its interaction with the rest of the people.
Third, it is <em>practical</em>, since it can fully rely on existing institutional procedures, merely replacing legislative elections with sortition.</p>
<p>The main advantage of sortition – its impartial randomness – is also its major weakness. Who would want laws to be drafted and decided upon by people without any legal or political experience, without relevant qualifications?<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-24-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-24" class="simple-footnote" title="This was one of the reasons why sortition was abandoned after the 18th century, along with the (nowadays obsolete) impracticality of using it for large nation states, cf. Manin, Bernard (2012) Principes du gouvernement représentatif, Paris: Flammarion.">24</a></sup> However, this flaw is also much overestimated, since most of the drafting and legal advising is <em>already</em> carried out by civil servants and technocrats, not by politicians. Professional politicians indeed are experts, but not in law-making, rather in <em>getting elected</em>.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-25-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-25" class="simple-footnote" title="Cf. Weber, Max (1919) Politik Als Beruf, München: Duncker & Humblot.">25</a></sup> Without elections, there is simply <em>no need for professional politicians</em>. It is in fact reasonable to contend that legislative assemblies of random citizens are more productive and efficient than assemblies whose members are indirectly campaigning during nearly half the legislature.</p>
<p>There remain a number of technical issues to be addressed regarding sortition.<sup id="sf-democracy-without-elections-sortition-26-back"><a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-26" class="simple-footnote" title="Cf. Mueller, Dennis C., Robert D. Tollison, and Thomas D. Willett (1972) Representative Democracy via Random Selection.">26</a></sup> Who should be excluded from sortition? What compensation should the selected citizens receive to avoid corruption? Should the executive branch be responsible to the legislative assembly? Yet these issues are far from insoluble, since they require the same type of institutional fine-tuning that has been necessary to make representative democracy work.</p>
<p><em>Democracy without elections?</em> Silly as it may sound, it is certainly no contradiction and could well be the foundation upon which to build a more stable, more legitimate, more efficient political system, a system without a differentiated political elite and its side effects. Implementing sortition requires surprisingly few institutional changes; it could even easily be rolled back should the experience be inconclusive. After 250 years of representative democracy, sortition might well be the long overdue update.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-1">Cf. Armingeon, Klaus and Kai Guthmann (2014) <a href="dx.doi.org/10.1111/1475-6765.12046">Democracy in Crisis? The Declining Support for National Democracy in European Countries, 2007–2011</a> and Gould-Wartofsky, Michael (2015) <a href="http://www.huffingtonpost.com/michael-gouldwartofsky/the-crisis-of-liberal-dem_b_6782558.html">The Crisis of Liberal Democracy</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-2">Cf. <span class="caps">OECD</span> (2015) <a href="www.oecd-ilibrary.org/sites/gov_glance-2015-en/11/01/index.html?contentType=&itemId=%2Fcontent%2Fchapter%2Fgov_glance-2015-50-en&mimeType=text%2Fhtml&containerItemId=%2Fcontent%2Fserial%2F22214399&accessItemIds=">Trust in Government</a>, Pew Research Center (2015) <a href="www.people-press.org/2015/11/23/1-trust-in-government-1958-2015/">Beyond Distrust: How Americans View Their Government</a> and NatCen Social Research (2015) <a href="http://www.bsa.natcen.ac.uk/latest-report/british-social-attitudes-32/politics.aspx">British Social Attitudes</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-3">Cf. Locke, John (1763) <a href="http://www.johnlocke.net/two-treatises-of-government-book-ii/">Two Treatises of Government</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-4">Cf. Rousseau (1762) <a href="https://fr.wikisource.org/wiki/Du_contrat_social/%C3%89dition_1762">Du Contract Social</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-5">Cf. Scharpf, Fritz (1999) Regieren in Europa: efektiv und demokratisch?, Frankfurt: Campus Verlag. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-6">Cf. Hobbes, Thomas (1651) <a href="https://ebooks.adelaide.edu.au/h/hobbes/thomas/h68l/">Leviathan</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-7">Cf. Scharpf, Fritz (1999) Regieren in Europa: efektiv und demokratisch?, Frankfurt: Campus Verlag. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-8">In fact, Hobbes would claim that output legitimacy is incompatible with democratic participation, cf. Hobbes, Thomas: <a href="https://ebooks.adelaide.edu.au/h/hobbes/thomas/h68l/">Leviathan</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-9">Cf. The World Bank (2016) <a href="http://data.worldbank.org/products/wdi">World Development Indicators</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-10">Cf. <span class="caps">OECD</span> (2015) <a href="www.oecd-ilibrary.org/sites/gov_glance-2015-en/11/01/index.html?contentType=&itemId=%2Fcontent%2Fchapter%2Fgov_glance-2015-50-en&mimeType=text%2Fhtml&containerItemId=%2Fcontent%2Fserial%2F22214399&accessItemIds=">Trust in Government</a> and Pew Research Center (2015) <a href="www.people-press.org/2015/11/23/1-trust-in-government-1958-2015/">Beyond Distrust: How Americans View Their Government</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-10-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-11">Which is not equivalent to <em>throughput legitimacy</em>, which assesses the quality of the process leading from input to output, cf. Schmidt, Vivien A. (2013) <a href="dx.doi.org/10.1111/j.1467-9248.2012.00962.x">Democracy and Legitimacy in the European Union Revisited: Input, Output
and ‘Throughput’</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-11-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-12">Cf. <span class="caps">OECD</span> (2015) <a href="www.oecd-ilibrary.org/sites/gov_glance-2015-en/11/01/index.html?contentType=&itemId=%2Fcontent%2Fchapter%2Fgov_glance-2015-50-en&mimeType=text%2Fhtml&containerItemId=%2Fcontent%2Fserial%2F22214399&accessItemIds=">Trust in Government</a> and Armingeon, Klaus and Kai Guthmann (2014) <a href="dx.doi.org/10.1111/1475-6765.12046">Democracy in Crisis? The Declining Support for National Democracy in European Countries, 2007–2011</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-12-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-13">Montesquieu and Rousseau were among the last to share this view (cf. Manin, Bernard (2012) Principes du gouvernement représentatif, Paris: Flammarion) <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-13-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-14">This can be taken as a <em>definition</em> of “modern democracy”. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-14-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-15">Cf. Manin, Bernard (2012) Principes du gouvernement représentatif, Paris: Flammarion. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-15-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-16">Cf. Stigler, George J. (1961) <a href="www.jstor.org/stable/1829263">The Economics of Information</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-16-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-17">Cf. French, Richard D. (2011) <a href="dx.doi.org/10.1080/00344893.2011.581086">Political Capital</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-17-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-18">For a similar conclusion, albeit coming from other lines of thought, cf. Michels, Robert (1915) <a href="http://archive.org/details/politicalparties00mich">Political Parties; a Sociological Study of the Oligarchical Tendencies of Modern Democracy</a>, New York: Hearst’s International Library Co and Weber, Max (1919) <a href="https://de.wikisource.org/wiki/Politik_als_Beruf">Politik Als Beruf</a>, München: Duncker <span class="amp">&</span> Humblot. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-18-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-19">Cf. Weber, Max (1919) <a href="https://de.wikisource.org/wiki/Politik_als_Beruf">Politik Als Beruf</a>, München: Duncker <span class="amp">&</span> Humblot. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-19-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-20">Cf. Rousseau, Jean-Jacques (1762) <a href="https://fr.wikisource.org/wiki/Du_contrat_social/%C3%89dition_1762/Texte_entier">Du Contract Social</a>. Amsterdam: Marc Michel Rey and Madison, James (1863) <a href="https://en.wikisource.org/wiki/The_Federalist_(Dawson)/10">Federalist No. 10</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-20-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-21">Cf. Bershidsky, Leonid (2016) <a href="https://www.bloomberg.com/view/articles/2016-06-29/bring-on-the-other-eu-referendums">Bring on the other E U referendums</a> and Caspari, Lisa (2017) <a href="http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-01/bundestagswahl-2017-afd-volksentscheid-wahlkampf-parteien-demokratie">Bundestagswahl 2017: Wahlkampf Mit Dem Volksentscheid</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-21-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-22">Although recently, it has increasingly received coverage, cf. Manin, Bernard (2012) Principes du gouvernement représentatif, Paris: Flammarion, Sintomer, Yves (2012) <a href="http://www.booksandideas.net/Could-Random-Selection-and.html">Could Random Selection and Deliberative Democracy Revitalize Politics in the 21st Century?</a> and Pluchino, Alessandro et al. (2011) <a href="dx.doi.org/10.1016/j.physa.2011.06.028">Accidental Politicians: How Randomly Selected Legislators Can Improve Parliament Efficiency</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-22-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-23">Cf. Manin, Bernard (2012) Principes du gouvernement représentatif, Paris: Flammarion. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-23-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-24">This was one of the reasons why sortition was abandoned after the 18th century, along with the (nowadays obsolete) impracticality of using it for large nation states, cf. Manin, Bernard (2012) Principes du gouvernement représentatif, Paris: Flammarion. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-24-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-25">Cf. Weber, Max (1919) <a href="https://de.wikisource.org/wiki/Politik_als_Beruf">Politik Als Beruf</a>, München: Duncker <span class="amp">&</span> Humblot. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-25-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-democracy-without-elections-sortition-26">Cf. Mueller, Dennis C., Robert D. Tollison, and Thomas D. Willett (1972) <a href="http://www.jstor.org/stable/30022669">Representative Democracy via Random Selection</a>. <a href="#sf-democracy-without-elections-sortition-26-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Gute Argumente für Hofer?2016-09-15T00:00:00+02:002016-09-15T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2016-09-15:/posts/2016/09/15/gute-argumente-fuer-hofer/<p>Es ist nicht einfach, Argumente von Hofer-Wählern zu entkräften. Nicht, weil sie entsetzlich oder absurd, sondern im Gegenteil, weil sie bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbar sind. Wer Hofer für einen ungeeigneten Kandidaten hält, kommt um eine ausführliche sachliche Auseinandersetzung mit ihnen nicht umher.</p><p>Ich werde bei der Bundespräsidentschaftswahl <a href="http://derstandard.at/2000044256277/Neuer-Wahltermin-kurz-vor-Nikolo">am 4. Dezember</a> wieder <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Alexander_Van_der_Bellen">Van der Bellen</a> wählen. Nicht, weil ich <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Norbert_Hofer">Hofer</a>-Wähler für minderbemittelte Nazis halte. Nicht, weil ich mich ihnen gegenüber moralisch überlegen fühle. Einzig, weil Hofer für mich eindeutig der schlechtere Kandidat ist.</p>
<p>Die abschätzige Haltung, das <em>Entsetzen</em>, das viele politische Widersacher der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Freiheitliche_Partei_%C3%96sterreichs">FPÖ</a> nun schon seit Jahrzehnten kennzeichnet,<sup id="sf-gute-argumente-fuer-hofer-1-back"><a href="#sf-gute-argumente-fuer-hofer-1" class="simple-footnote" title="Und die meint, mit Schlagworten wie „menschenverachtend“, „Hetze“, „Rassismus“ sei die Auseinandersetzung mit einem entscheidenden Sieg beendet.">1</a></sup> ist nicht nur vielfach unbegründet, sondern auch durchwegs kontraproduktiv. In diesem Artikel möchte ich eine andere Form der Auseinandersetzung wählen und sachlich auf Argumente vernünftiger, durchaus intelligenter Hofer-Wähler und Nichtwähler eingehen.</p>
<p>Diese Argumente sind, gerade im unmittelbaren Gespräch und ohne Zugang zu Belegen, nicht einfach von der Hand zu weisen. Ich werde versuchen, sie hier in ausreichender Ausführlichkeit zu beantworten.</p>
<h2>Es braucht Kontrolle</h2>
<p>Das Argument gibt es in zwei Varianten:</p>
<ul>
<li>„Der rot-schwarze Filz muss endlich eingedämmt werden.“</li>
<li>„Diese Flüchtlingspolitik hätte Hofer nicht zugelassen.“</li>
</ul>
<p>Die Anliegen sind nachvollziehbar. Auch ich halte die österreichische Flüchtlingspolitik des Jahres 2015 für fehlgeleitet. Und ich muss ehrlicherweise eingesetehen, dass <em>zu diesem Zeitpunkt</em> Hofer als Bundespräsident vielleicht eine frühere Kehrtwende bedeutet hätte. Hofer als Gegengewicht von „Rot-Schwarz-Grün“, was könnte daran schlecht sein?</p>
<p>Doch der Präsident wird <em>für die zukünftigen sechs Jahre</em> gewählt, nicht für die Vergangenheit. Und in Zukunft streben Hofer und vor allem Strache natürlich nicht nur nach Kontrolle sondern nach <em>Macht</em>, die im Kanzleramt und in den Ministerien liegt.</p>
<p>Strache möchte unbedingt den Scheinsieg Haiders von <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalratswahl_in_%C3%96sterreich_1999">1999</a> und den folgenden Zerfall unter <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Schwarz-blaue_Koalition">Schwarz-Blau</a> vermeiden. Dafür muss er Kanzler werden und treue Minister einsetzen können. Dafür <em>braucht er unbedingt einen blauen Bundespräsidenten</em>. Denn selbst <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Klestil">Klestil</a> (wohl wahrlich kein „antidemokratischer Linker“) hatte einige blaue Minister – vielleicht auch Haider – abgelehnt und der FPÖ Grenzen aufgezeigt.</p>
<p>Hofer würde sicherlich eine rot-schwarze Regierung penibel beaufsichtigen. Es ist weitaus unwahrscheinlicher, dass er es bei Blau-Schwarz/Blau-Rot auch noch täte, wenn man seine bedingungslose Parteiloyalität berücksichtigt. Van der Bellen sehe ich <em>in Zukunft</em> als die verlässlichere Kontrollinstanz.</p>
<h2>Hofer ist nicht Strache</h2>
<p>Der negativen Beurteilung <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Heinz-Christian_Strache">Straches</a> wird oft eine positive Einschätzung Hofers gegenübergestellt:</p>
<ul>
<li>„Der Hofer ist ja eigentlich ein Moderater.“</li>
<li>„Den Strache würde ich nicht wählen, aber der Hofer ist doch ganz gemäßigt.“</li>
<li>„Besser Hofer jetzt als Strache später.“</li>
</ul>
<p>Sicherlich ist Hofer um einiges sympathischer als Strache,<sup id="sf-gute-argumente-fuer-hofer-2-back"><a href="#sf-gute-argumente-fuer-hofer-2" class="simple-footnote" title="Siehe auch eine eine mehr oder wenig aussagekräftige Umfrage.">2</a></sup> dessen Strategie der permanenten verbalen Agression und Provokation<sup id="sf-gute-argumente-fuer-hofer-3-back"><a href="#sf-gute-argumente-fuer-hofer-3" class="simple-footnote" title="Sie äußert sich unter anderem in der industriell betriebenen Verbreitung von Halbwahrheiten und eindeutigen Lügen.">3</a></sup> die Grenze des Erträglichen auslotet. Hofer bedient ein gemäßigtes Publikum, lehnt <a href="http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/5046595/Norbert-Hofer-sagt-den-Oxit-ab">neuerdings den Austritt aus der <span class="caps">EU</span> und dem Euro ab</a> und kultiviert das Image des toleranten, gutmütigen Familienvaters.</p>
<p>Diese Inszenierung soll darüber hinwegtäuschen, dass Hofer absolut loyal und parteitreu ist. Sein Vater <a href="http://www.profil.at/oesterreich/titelgeschichte-norbert-hofer-volksempfaenger-6359953">war FPÖ-Funktionär</a>, er selbst ist schon seit 1994 bei der FPÖ Berufspolitiker; 2005 blieb er der Strache-FPÖ gegen Haiders <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCndnis_Zukunft_%C3%96sterreich">BZÖ</a> treu. Seit 2006 ist er FPÖ-Nationalratsabgeordneter.</p>
<p>Noch bedeutender ist, dass er seit 1997 für das <a href="https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/www.fpoe.at/dokumente/2015/Handbuch_freiheitlicher_Politik_WEB.pdf">Handbuch freiheitlicher Parteipolitik</a> verantwortlich <em>und</em> Verfasser des <a href="https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/www.fpoe.at/dokumente/2015/2011_graz_parteiprogramm_web.pdf">geltenden Parteiprogramms</a> ist. Kaum jemand verkörpert die ideologische FPÖ-Orthodoxie so sehr wie Hofer.</p>
<p>Als Beispiel möchte ich nur zwei kurze Zitate aus dem neuesten Handbuch freiheitlicher Parteipolitik (2015) anführen, die etwas an Hofers moderatem Image kratzen:</p>
<blockquote>
<p>„Österreichs Zukunft liegt im Schilling […] Kopftuchverbot im öffentlichen Raum.“ (<a href="https://www.fpoe.at/fileadmin/user_upload/www.fpoe.at/dokumente/2015/Handbuch_freiheitlicher_Politik_WEB.pdf">Handbuch freiheitlicher Parteipolitik</a>)</p>
</blockquote>
<p>Wer Hofer wählt, unterstützt notwendig auch die FPÖ Straches und <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Kickl">Kickls</a>.<sup id="sf-gute-argumente-fuer-hofer-4-back"><a href="#sf-gute-argumente-fuer-hofer-4" class="simple-footnote" title="FPÖ-Generalsekretär Kickl, bekannt für sein lyrisches Feingefühl („Wiener Blut - zu viel Fremdes tut niemand gut.“) und üppige Nebeneinkünfte, ist der Wahlkampfmanager Hofers.">4</a></sup> Das steht natürlich jedem frei, aber es sollte einem auch bewusst sein.</p>
<h2>Die Burschenschaft war eine Jugendsünde</h2>
<p>Die Mitgliedschaft Hofers bei der völkischen Burschenschaft „<a href="http://www.doew.at/neues/keine-beruehrungsaengste-mit-dem-begriff-deutsch">Marko-Germania</a>“ wird oft als harmlos abgetan:</p>
<ul>
<li>„Darf der Hofer denn nicht in seiner Jugend bei einer Burschenschaft gewesen sein?“</li>
<li>„Bei einer Burschenschaft geht es doch eh’ nur ums saufen, nicht um Politik.“</li>
</ul>
<p>Diese Einschätzungen wären vielleicht berechtigt, wenn Hofer in seiner Jugend oder Studienzeit einer unauffälligen Burschenschaft beigetreten wäre und sich seitdem von ihr verabschiedet hätte. </p>
<p>Jedoch wurde er <em>erst 2013</em> Ehrenmitglied einer klar politisch engagierten Burschenschaft und weigert sich <a href="http://orf.at/stories/2333652/2333653/">vehement</a>, aus ihr auszutreten. Man kann es kaum anders als ein <em>bewusstes politisches Bekenntnis</em> zur Marko-Germania auffassen, die mit einer Jugendsünde nichts gemein hat.</p>
<p>Nun geht es in der berüchtigten <a href="http://www.doew.at/neues/keine-beruehrungsaengste-mit-dem-begriff-deutsch">Festschrift der Marko-Germania</a> unter anderem um die Ablehnung des Begriffs der österreichischen Nation:</p>
<blockquote>
<p>die Burschenschaft [lehnt] die geschichtswidrige Fiktion einer ‘österreichischen Nation’ ab […] die seit 1945 […] in den Gehirnen der Österreicher festgepflanzt wurde.“ (Festschrift Marko-Germania)</p>
</blockquote>
<p>Fast noch problematischer ist die Berufung auf das völkisch-rassische Kriterium der „Abstammung“:</p>
<blockquote>
<p>„aus einem Afghanen, Indonesier, Kubaner wird mit dem Erwerb eines österreichischen Passes noch kein Österreicher“ (Festschrift Marko-Germania)</p>
</blockquote>
<p>Ich möchte betonen, dass Hofer selbst höchstwahrscheinlich <em>weder</em> Rassist <em>noch</em> Nationalsozialist ist. Aber sichtlich schafft er es nicht, sich deutlich von einem Verband zu distanzieren, der seinerseits keine Berührungängste mit derartigen Ideologien hat.<sup id="sf-gute-argumente-fuer-hofer-5-back"><a href="#sf-gute-argumente-fuer-hofer-5" class="simple-footnote" title="In diesem Kontext können auch Hofers Interview mit einer NPD-Zeitung 2011 und die weiterhin bestehenden Verbindungen seiner Mitarbeiter zur Neonazi-Szene nicht unerwähnt bleiben.">5</a></sup></p>
<h2>Die FPÖ ist eine Partei wie jede andere</h2>
<p>Die Akzeptanz der FPÖ ist inzwischen in weiten Teilen der Bevölkerung angekommen:</p>
<ul>
<li>„Die FPÖ auszugrenzen ist undemokratisch.“</li>
<li>„Die FPÖ ist eine Partei wie alle anderen auch.“</li>
</ul>
<p>In einem Punkt sind diese Aussagen sicherlich zu: die FPÖ ist mittlerweile eine etablierte Partei, mit beträchtlichen finanziellen Ressourcen, die als <em>neue Volkspartei</em> in allen politischen und quasipolitischen Machtzentren Fuß fassen will. Das führt ironischerweise dazu, dass sie sich für Rot-Schwarz etablierten Mechanismen (wie die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Parteienfinanzierung_in_%C3%96sterreich">phänomenale Parteienförderung</a> oder Proporzstellen) längst angeeignet hat, und vollständig zur „Systempartei“ mit Versorgungsposten und beinahe unbegrenzten Wahlkampfressourcen geworden ist.</p>
<p>Natürlich traut auch kaum jemand der FPÖ mehr zu, die Demokratie abschaffen zu wollen oder offen rassistische Gesetze zu erlassen. Warum sollte man sie dann nicht wählen? Warum schließen sie andere Parteien aus?</p>
<p>Augenscheinlich haben sich die Ansprüche an Parteien drastisch verringert. Solange von ihnen keine <em>massive</em> und <em>unmittelbare</em> Gefahr für den Rechtsstaat von ausgeht, gelten sie als „normal“. Ich würde dennoch für <em>etwas höhere Anforderungen</em> an „Normalität“ plädieren. Die FPÖ entspricht ihnen bei weitem nicht.</p>
<p>Zunächst soll eine Partei nicht ständig – mehr oder weniger durchsichtig – mit der Neonazi-Szene kokettieren. <a href="http://www.deutschlandfunk.de/flagranter-flirt-mit-dem-rechtsextremismus.1310.de.html?dram:article_id=228963">Straches unaufgearbeitete Vergangenheit</a>, die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Werner_K%C3%B6nigshofer">Verbindungen eines FPÖ-Nationalrats</a> zur Neonazi-Homepage „alpen-donau.info“, Kontakte zur <a href="https://kurier.at/chronik/oberoesterreich/fp-politiker-auf-nazi-fest-ruecktritt/9.528.721">deutschen <span class="caps">NPD</span></a>, oder permanente <a href="http://derstandard.at/2000034799967/FPOe-wehrt-sich-gegen-NS-Gedenken"><span class="caps">NS</span>-Relativierung</a> sind nur wenige Beispiele. Die FPÖ schließt ihre <span class="caps">NS</span>-affinen Mitglieder nur sehr zögerlich aus; nicht selten kommen sie <a href="http://www.profil.at/oesterreich/fpoe-partei-rechtsabweichler-comeback-5974787">durch die Hintertür</a> gar wieder zurück.</p>
<p>Es fällt mir folglich schwer, folgendem Zitat nicht zuzustimmen:</p>
<blockquote>
<p>„Es gibt keine glaubwürdige Abgrenzung der FPÖ nach rechts. Die FPÖ ist eine rechtsextreme Partei. Das gilt nicht für die Mehrheit ihrer Wähler und auch nicht für alle Mitglieder und Funktionäre. Vom Gesamtbild her muss man aber leider zu diesem Befund kommen.“ (<a href="https://kurier.at/chronik/oberoesterreich/fpoe-im-kern-rechtsextreme-partei/23.111.571">Robert Eiter</a>)</p>
</blockquote>
<p>Zweitens sollte eine Partei ein gewisses Ausmaß an Verurteilungen nicht überschreiten. Es gibt mittlerweile etwa <a href="https://rechtsdrall.com/2015/07/04/liste-rechtskraftig-und-nicht-rechtskraftig-verurteilter-fpo-politiker-stand-4-7-2015/">an die 50 verurteilte FPÖ-Politiker</a> (unter anderem wegen übler Nachrede, Verhetzung, Betrug oder Wiederbetätigung). Der <a href="http://schmutzigepolitik.at/index.php">Vergleich mit anderen Parlamentsparteien</a> zeigt – die FPÖ spielt in einer ganz anderen Liga.</p>
<p>Schließlich soll eine Partei nicht eine Brutstätte für Verschwörungstheorien sein, von denen eine absurder ist als die andere. Ob es um <a href="http://derstandard.at/2000018839122/FPOe-Umweltsprecherin-Winter-nennt-Klimawandel-Luegengebaeude">Klimawandel</a>, eine <a href="https://kurier.at/politik/inland/verschwoerungstheorien-im-rechten-milieu-im-blauen-kreis-gedeiht-krudes-weiter/161.843.420">jüdische Weltverschwörung</a>, angebliche <a href="http://www.krone.at/oesterreich/ursula-stenzel-fuerchtet-verschwoerung-gegen-hofer-rauschen-im-radio-story-510743">Manipulationen</a> schon <a href="http://derstandard.at/2000037394060/FPOe-Generalsekretaer-Kicklbefuerchtet-Wahlkarten-Verschwoerung">vor dem zweiten Wahldurchgang</a> oder mittlerweile eine <a href="http://www.salzburg.com/nachrichten/zeitung/sn/artikel/die-perfekte-verschwoerung-213583/">Verschwörung um die Wahlverschiebung</a> geht, die FPÖ nährt jede noch so abstruse Theorie, um sich in ihrer Opferrolle zu suhlen. Auch in diesem Fall behauptet die FPÖ ihren zweifelhaften Sonderstatus bravourös.</p>
<p>Besonders lächerlich ist übrigens die „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Chemtrail">Chemtrail</a>“-Verschwörung, die ein gewisser <em>Norbert Hofer</em> schon <a href="http://offenesparlament.at/gesetze/XXIII/J_00551/">zwei</a> <a href="http://derstandard.at/2000029969145/Norbert-Hofer-Chemtrails-und-blauer-Wankelmut">mal</a> im Nationalrat thematisiert hat.</p>
<h2>Van der Bellen ist um nichts besser</h2>
<p>Schließlich höre ich, besonders von Nichtwählern, folgendes Argument:</p>
<ul>
<li>„Gibt es eigentlich auch ein Argument <em>für</em> Van der Bellen?“ </li>
<li>„Für mich sind beide gleich schlecht!“</li>
</ul>
<p>Es stimmt, dass sich der Wahlkampf fast ausschließlich um Hofer dreht, weswegen der Eindruck entstehen kann, die Unterstützung Van der Bellens sei nur der „reflexartigen Ablehnung“ Hofers geschuldet.</p>
<p>Ich glaube nicht, dass das stimmt. Van der Bellen ist erfahren, gebildet, <a href="http://diepresse.com/home/politik/bpwahl/5082482/Van-der-Bellen_Verhalte-mich-als-waere-ich-gultig-gewaehlt">besonnen</a>. Er folgt nicht der aktuellen <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Gr%C3%BCnen_%E2%80%93_Die_Gr%C3%BCne_Alternative">grünen</a> Parteilinie und ist meines Erachtens ziemlich in der Mitte der österreichischen politischen Landschaft anzusiedeln. Er scheint im Ausland schon jetzt ein hohes Ansehen zu genießen und erfüllt die Voraussetzungen, um diplomatisch erfolgreich zu sein.</p>
<p>Genau das erwarte ich (und, behaupte ich, erwartet die Bundesverfassung) von einem Bundespräsidenten – nach innen Zusammenhalt fördern, nach außen Interessen effizient vertreten. Ich glaube nicht nur, dass Van der Bellen das weit besser kann als Hofer, sondern, dass er es <em>überhaupt</em> recht gut kann.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-gute-argumente-fuer-hofer-1">Und die meint, mit Schlagworten wie „menschenverachtend“, „Hetze“, „Rassismus“ sei die Auseinandersetzung mit einem entscheidenden Sieg beendet. <a href="#sf-gute-argumente-fuer-hofer-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-gute-argumente-fuer-hofer-2">Siehe auch eine eine mehr oder wenig aussagekräftige <a href="http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/5086318/Vertrauensindex_Kurz-fuhrt-Sobotka-verliert-am-meisten?_vl_backlink=/home/index.do">Umfrage</a>. <a href="#sf-gute-argumente-fuer-hofer-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-gute-argumente-fuer-hofer-3">Sie äußert sich unter anderem in der industriell betriebenen Verbreitung von <a href="https://medium.com/@fpoeticker/die-gesammelten-l%C3%BCgen-des-heinz-christan-strache-8ed54e4c388c">Halbwahrheiten und eindeutigen Lügen</a>. <a href="#sf-gute-argumente-fuer-hofer-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-gute-argumente-fuer-hofer-4">FPÖ-Generalsekretär Kickl, bekannt für sein lyrisches Feingefühl (<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Kickl">„Wiener Blut - zu viel Fremdes tut niemand gut.“</a>) und <a href="http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/top_news/763409_Kick-Back-Vorwuerfe-gegen-FPOe-Kickl.html">üppige Nebeneinkünfte</a>, ist der <a href="https://kurier.at/politik/inland/fpoe-kandidat-norbert-hofer-praesentiert-neue-plakate-stimme-der-vernunft/195.931.226">Wahlkampfmanager</a> Hofers. <a href="#sf-gute-argumente-fuer-hofer-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-gute-argumente-fuer-hofer-5">In diesem Kontext können auch Hofers <a href="http://www.sueddeutsche.de/politik/oesterreich-fpoe-kandidat-hofer-und-die-npd-postille-1.2997916">Interview</a> mit einer <span class="caps">NPD</span>-Zeitung 2011 und die weiterhin bestehenden <a href="https://www.falter.at/archiv/FALTER_2016080395CDBE38FD/bpw16">Verbindungen seiner Mitarbeiter zur Neonazi-Szene</a> nicht unerwähnt bleiben. <a href="#sf-gute-argumente-fuer-hofer-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Die unausweichliche Aristokratie in der Demokratie2016-08-28T00:00:00+02:002016-08-28T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2016-08-28:/posts/2016/08/28/die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie/<p>Aristoteles’ politische Philosophie ist schwer auf moderne, liberale Demokratien umzulegen, die auf maximale politische Inklusion statt Einschränkung der politischen Rechte auf eine Minderheit setzen. Ich möchte dennoch zeigen, dass die aristotelische Regel, nach der jede signifikante politische Beteiligung der Muße oder Abwesenheit von Lohnarbeit bedarf, noch immer Bestand hat. Substanzielle politische Mitwirkung kann nur Mitgliedern einer kleinen Gruppe gewährt werden, einer „Aristokratie in der Demokratie“, die von anderen, rein ökonomischen Tätigkeiten befreit ist. Der untragbare Mythos der modernen Demokratie, nach dem politische Macht sich im Wahlrecht vollständig erschöpft, muss revidiert werden.</p><h2>Aristoteles: Muße als Voraussetzung und Zweck für den Staat</h2>
<p>In der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Aristoteles">aristotelischen</a> praktisch-politischen Philosophie<sup id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-1-back"><a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-1" class="simple-footnote" title="Ich beziehe mich im Folgenden sowohl auf die Politik als auch auf die Nikomachische Ethik.">1</a></sup> wird das Gegensatzpaar „Muße“ (<em>schole</em>) – „Arbeit“ (<em>ascholia</em>) häufig verwendet. Ich möchte zunächst diese beiden Begriffe etwas genauer fassen, um Missverständnissen vorzubeugen.</p>
<p>Für Aristoteles ist Arbeit ein bloßes <em>Mittel</em> zur Muße – genauso wie Krieg ein Mittel zum Frieden ist und allgemeiner das <em>Notwendige</em> ein Mittel für das <em>Gute</em>. Muße in diesem Sinn ist keine Untätigkeit, sondern eine nicht durch Notwendigkeit bedingte Tätigkeit, als Teil der Glückseligkeit (<em>eudaimonia</em>) ein Selbstzweck. Sie bedarf der aktiven Ausübung der „ethischen Tugenden“ wie der Enthaltsamkeit oder Gerechtigkeit. Das Ziel des Staates ist die Ermöglichung der Glückseligkeit seiner Bürger, unter anderem über die <em>Erziehung zur Muße</em>.</p>
<p>Die Muße der Bürger<sup id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-2-back"><a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-2" class="simple-footnote" title="Für Aristoteles stellen Bürger nur einen kleinen Teil der Bewohner eines Staates dar. Handwerker, Sklaven und Frauen gehören jedenfalls nicht dazu.">2</a></sup> ist zugleich auch eine <em>Bedingung</em> für einen guten Staat. Lohnarbeit ist eine Form von Fremdbestimmung und deshalb nicht mit Muße zu vereinbaren:</p>
<blockquote>
<p>„Jede Art von Lohnarbeit [beraubt] das Denken der Muße und [gibt] ihm eine
niedrige Richtung.“ (Politik <span class="caps">VIII</span>, 1337b10)</p>
</blockquote>
<p>Deshalb müssen alle Bürger im idealen Staat (für Aristoteles eine <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Aristokratie">Aristokratie</a>) frei von Lohnarbeit sein.</p>
<p>Zusammenfassend ist der Begriff der Muße bei Aristoteles in politischer Hinsicht zweifach relevant:</p>
<ol>
<li>Muße (als Abwesenheit von Lohnarbeit) als notwendige <em>Bedingung</em> für den idealen Staat („negative Muße“);</li>
<li>Muße (als Teil der Glückseligkeit) als <em>Selbstzweck</em> für den idealen Staat („positive Muße“).</li>
</ol>
<h2>Muße in modernen Demokratien: ein Anachronismus?</h2>
<p>Der wohl wichtigste Unterschied zwischen Aristoteles’ idealem Staat und modernen liberalen Demokratien ist, dass letztere die größtmögliche politische Gleichberechtigung aller <em>Bewohner</em> anstreben. Ein Bewohner, der kein Bürger ist, wird zur Ausnahme.<sup id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-3-back"><a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-3" class="simple-footnote" title="Nichtbürger sind nunmehr Minderjährige und Ausländer, die üblicherweise deutlich in der Minderheit sind.">3</a></sup> Damit ist die überwiegende Mehrheit der Bürger für ihre Existenz von Lohnarbeit abhängig.<sup id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-4-back"><a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-4" class="simple-footnote" title="Dazu zähle ich Arbeiter im engen Sinn genauso wie Angestellte oder Selbstständige.">4</a></sup></p>
<p>In zeitgenössischen politischen Grundsatzdebatten geht es in diesem Kontext nicht um Muße als Bedingung für Politik oder als Selbstzweck, sondern um <em>Leistungs-</em> und <em>Verteilungsgerechtigkeit</em>. Von verschiedenen Seiten des politischen Spektrums werden unterschiedliche Kriterien herangezogen, um zu bewerten, welche Gruppen für die Allgemeinheit <em>nützlich genug</em> sind. Von rechter Seite heißt es: „<a href="http://www.nachrichten.at/oberoesterreich/wels/Man-sollte-Leistungstraeger-ordentlich-behandeln;art67,1907464">Man sollte Leistungsträger ordentlich behandeln</a>“, von linker Seite wird bemängelt: „<a href="http://derstandard.at/2000019510809/Erben-fuer-sozialen-Aufstieg-in-Oesterreich-besonders-wichtig">Erben für sozialen Aufstieg in Österreich besonders wichtig</a>“.</p>
<p>Keine relevante Partei, keine Zeitung, auch keine Gewerkschaft vertritt die Position, dass Muße eine <em>Voraussetzung</em> für politische Beteiligung sei, dass Lohnarbeit und Teilnahme am politischen Leben sich ausschließen würden. An dessen Stelle ist vielfach das Ideal der <em>erfüllenden</em> Arbeit getreten, die notwendig <em>und</em> sinngebend zugleich sein kann<sup id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-5-back"><a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-5" class="simple-footnote" title="Ein (unrepräsentative) Gegenüberstellung der Häufigkeit von „fulfilling work“ und „work reduction“ im Korpus von Google Books im Laufe der letzten Jahrzehnte zeigt, dass „fulfilling work“ ab den 1980ern deutlich die Überhand gewinnt und mittlerweile fast 10 Mal häufiger anzutreffen ist.">5</a></sup> und mit dem aktiven politischen Leben nicht in Konflikt steht.<sup id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-6-back"><a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-6" class="simple-footnote" title="Gerade die Sozialdemokratie hat viel zur Festigung dieser These beigetragen: Der stolze Arbeiter, der zwar nicht übermäßig, aber doch viel arbeitet (und von seiner Arbeit vollkommen abhängt) kann sich politisch organisieren! Das ist nicht falsch, jedoch wird dabei übersehen, dass fast alle Organisatoren und Parteiführer einer solchen „Arbeiter“bewegung im aristotelischen Sinne müßig waren. Auch die Sozialdemokratie hat immer schon eine Aristokratie in sich getragen.">6</a></sup></p>
<p>Die aristotelische Konzeption von Lohnarbeit als Ausschlusskriterium für politische Beiteiligung wird also, ebenso wie die Förderung der Muße durch den Staat, mittlerweile als überholt angesehen. Im folgenden Abschnitt will ich mit <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Weber">Max Weber</a> aufzeigen, dass sie noch zutrifft, wenn man über das bloße Wahlrechts hinausgeht und die gesamte politische Machstruktur untersucht.</p>
<h2>Politische Macht abseits des Wahlrechts</h2>
<p>Was ist ein „Bürger“, eine „Bürgerin“? Die Frage scheint naiv zu sein: Es sind ganz einfach diejenigen, die sämtliche politischen Rechte in Anspruch nehmen können! Also in Österreich <a href="https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10005579">Staatsbürger</a> die ihr 18. Lebensjahr erreicht haben, und damit das <a href="https://www.help.gv.at/Portal.Node/hlpd/public/content/262/Seite.2620000.html">aktive und passive Wahlrecht</a><sup id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-7-back"><a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-7" class="simple-footnote" title="Eine (wenig relevante) Ausnahme stellt die Bundespräsidenschaftswahl dar, für die das passive Wahlrecht erst nach dem 35. Lebensjahr erreicht wird.">7</a></sup> erreicht haben.</p>
<p>Weil Österreich (wie fast alle modernen Demokratien) eine <em>repräsentative</em> Demokratie ist, die auf einem komplexen System politischer Parteien, Interessensvertretungen und einem Berufsbeamtentum aufbaut, gibt es natürlich bestimmte Gruppen, denen <em>real</em> wesentlich mehr Möglichkeiten der politischen Gestaltung zukommen als einem durschnittlichen Bürger.<sup id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-8-back"><a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-8" class="simple-footnote" title="Ein wesentliches Merkmal moderner Demokratien ist natürlich, dass diese Positionen potentiell jedem Bürger offenstehen (wenn auch oftmals mit bestimmten Anforderungen verknüpft), was aber natürlich nicht heißt, dass alle Bürger eine solche ausüben können.">8</a></sup> Eine unvollständige Auflistung politischer und parapolitischer Ämter:</p>
<ol>
<li>Volksvertreter und Minister (Mitglieder des Nationalrats, des Bundesrats, der Landtage);</li>
<li>Mitarbeiter der Volksvertreter und Minister;</li>
<li>Mitglieder und Mitarbeiter von politischen Parteien;</li>
<li>Mitglieder und Mitarbeiter von Interessensvertretungen (Arbeiterkammer, Gewerkschaften, Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung);</li>
<li>Hohe (Fach)Beamte;</li>
<li>Richter und Staatsanwälte;</li>
<li>Journalisten.</li>
</ol>
<p>Schon 1919 hat <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Weber">Max Weber</a> in seinem Vortrag <em><a href="https://de.wikisource.org/wiki/Politik_als_Beruf">Politik als Beruf</a></em> eine noch wesentlich detailliertere Ausdifferenzierung von spezifischen politisch mächtigeren Gruppen beschrieben. Politik wird von verschiedenen Varianten von <em>Nebenwerwerbspolitikern</em> und <em>Berufspolitikern</em> geprägt, die von der Notwendigkeit für Lohnarbeit außerhalb der Politik mehr oder weniger effektiv befreit werden. Der <em>gewöhnliche Bürger</em> ist hingegen ein bloßer <em>Gelegenheitspolitiker</em>, der sich nur bei Wahlen politisch betätigt.</p>
<p>In Aristoteles’ idealer Aristokratie ist die Kategorie der Bürger eingeschränkt genug, dass fast alle ihre Mitglieder auch signifikante politische Macht ausüben. In modernen Demokratien mit möglichst breiter Wählerbasis ist hingegen die Einführung der neuen Kategorie der Bürger als Gelegenheitspolitiker unausweichlich.</p>
<blockquote>
<p>Das Recht und die politische Macht gehen zwar „<a href="https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000138">vom Volk <em>aus</em></a>“, werden aber nicht durch das Volk <em>ausgeübt</em>.</p>
</blockquote>
<h2>Mit der Aristokratie in der Demokratie umgehen</h2>
<p>Die überwältigende Mehrheit der Bürger setzt sich mit Politik kaum auseinander und besitzt – außerhalb der punktuellen Mitbestimmung eines Teils der Berufspolitiker – keine politische Macht. Es ist durchaus richtig, dass die negative Muße (die Unabhängigkeit von Lohnarbeit) für diese Form der politischen Beteiligung nicht notwendig ist, aber eben nur weil die es sich um die <em>denkbar schwächste</em> Art der politischen Teilnahme handelt, die mit der aristotelischen Konzeption des Bürgertums kaum etwas gemein hat.</p>
<p>Man würde also gut daran tun, Aristoteles’ Argument für Muße im politischen Betrieb nicht als bereits falsifizierten Anachronismus abzutun. Auch scheinbar inklusive Demokratien räumen den <em>effektiv</em> politisch Tätigen durch finanzielle Abgeltung eine Form von negativer Muße ein, die der Allgemeinheit nicht zuteil wird – sie schaffen <em>kontrollierte Aristokratien</em><sup id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-9-back"><a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-9" class="simple-footnote" title="Vielleicht gar Oligarchie oder Plutokratie, wenn die Beurteilung weniger wohlwollend ausfällt.">9</a></sup> <em>in der Demokratie</em>.</p>
<p>Im Glauben, das allgemeine Wahlrecht führe zu einer umfassenden politischen Beteiligung der Bevölkerung, liegt der mitunter gefährliche <em>Mythos der westlichen Demokratie</em>. Die gegenwärtigen Aufstände gegen die „Parteienwirtschaft“, die „Elite“, die „abgehobenen Politiker“ oder die „Lügenpresse“ wird unter anderem von der offensichtlichen Diskrepanz zwischen diesem Mythos und der Realität getragen. Der erste Schritt, um diesem Missmut zu begegnen, ist ein ehrlich Eingeständnis:</p>
<blockquote>
<p>Der breiten, mußelosen Masse kann nur sehr beschränkte politische Mitwirkung (das Wahlrecht) zugestanden werden, mit dem nur nur ein Bruchteil der politischen Macht zusammenhängt. Diese wird hauptsächlich von Berufs- und Nebenerwerbspolitikern ausgeübt.</p>
</blockquote>
<p>Dass eine Aristokratie innerhalb der Demokratie besteht, ja gewissermaßen bestehen <em>muss</em>, sagt noch nichts über ihre <em>konkrete Zusammensetzung</em> aus. Man könnte durchaus eine stärkere Kopplung an den Rest der Bevölkerung wünschen, und zum Beispiel durch vermehrte Besetzung politischer Ämter durch Losziehung, wie sie bereits für <a href="https://www.help.gv.at/Portal.Node/hlpd/public/content/246/Seite.2460901.html">Schöffen und Geschworene</a> existiert, erreichen.</p>
<p><strong>Nachtrag (7. April 2017):</strong> In einem <a href="https://lpql.net/democracy-without-elections-sortition-en.html">Beitrag auf Englisch</a> gehe ich auf die Beschränkung der Macht der demokratischen Aristokratie durch Losziehung genauer ein. </p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-1">Ich beziehe mich im Folgenden sowohl auf die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Politik_(Aristoteles)">Politik</a> als auch auf die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Nikomachische_Ethik">Nikomachische Ethik</a>. <a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-2">Für Aristoteles stellen Bürger nur einen kleinen Teil der Bewohner eines Staates dar. Handwerker, Sklaven und Frauen gehören jedenfalls nicht dazu. <a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-3">Nichtbürger sind nunmehr Minderjährige und Ausländer, die üblicherweise deutlich in der Minderheit sind. <a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-4">Dazu zähle ich Arbeiter im engen Sinn genauso wie Angestellte oder Selbstständige. <a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-5">Ein (unrepräsentative) Gegenüberstellung der Häufigkeit von „fulfilling work“ und „work reduction“ im Korpus von <em>Google Books</em> <a href="https://books.google.com/ngrams/graph?content=fulfilling+work%2Cwork+reduction&case_insensitive=on&year_start=1950&year_end=2016&corpus=15&smoothing=5&share=&direct_url=t4%3B%2Cfulfilling%20work%3B%2Cc0%3B%2Cs0%3B%3Bfulfilling%20work%3B%2Cc0%3B%3BFulfilling%20work%3B%2Cc0%3B%3BFulfilling%20Work%3B%2Cc0%3B.t4%3B%2Cwork%20reduction%3B%2Cc0%3B%2Cs0%3B%3Bwork%20reduction%3B%2Cc0%3B%3BWork%20Reduction%3B%2Cc0%3B%3Bwork%20Reduction%3B%2Cc0%3B%3BWork%20reduction%3B%2Cc0">im Laufe der letzten Jahrzehnte</a> zeigt, dass „fulfilling work“ ab den 1980ern deutlich die Überhand gewinnt und mittlerweile fast 10 Mal häufiger anzutreffen ist. <a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-6">Gerade die Sozialdemokratie hat viel zur Festigung dieser These beigetragen: Der stolze Arbeiter, der zwar nicht übermäßig, aber doch viel arbeitet (und von seiner Arbeit vollkommen abhängt) kann sich politisch organisieren! Das ist nicht falsch, jedoch wird dabei übersehen, dass fast alle <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialdemokratische_Partei_%C3%96sterreichs">Organisatoren und Parteiführer</a> einer solchen „Arbeiter“bewegung im aristotelischen Sinne müßig waren. Auch die Sozialdemokratie hat immer schon eine Aristokratie in sich getragen. <a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-7">Eine (wenig relevante) Ausnahme stellt die Bundespräsidenschaftswahl dar, für die das passive Wahlrecht erst nach dem 35. Lebensjahr erreicht wird. <a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-8">Ein wesentliches Merkmal moderner Demokratien ist natürlich, dass diese Positionen potentiell <em>jedem</em> Bürger <em>offenstehen</em> (wenn auch oftmals mit bestimmten Anforderungen verknüpft), was aber natürlich nicht heißt, dass <em>alle</em> Bürger eine solche ausüben können. <a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-9">Vielleicht gar <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Oligarchie">Oligarchie</a> oder <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Plutokratie">Plutokratie</a>, wenn die Beurteilung weniger wohlwollend ausfällt. <a href="#sf-die-unausweichliche-aristokratie-in-der-demokratie-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Lessons from the UK referendum and what could be worse than Brexit2016-06-27T00:00:00+02:002016-06-27T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2016-06-27:/lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-en.html<p>The United Kingdom electorate decided to “leave” the European Union. Unfortunately, nobody has the slightest idea of what this means. There are two lessons to learn from this farce: (i) only use referendums to decide whether a <em>specific</em> law should be adopted or not; (ii) only use referendums for subjects on which people can be expected to stick to their decision after the fact. I conclude by discussing why the current aimlessness is likely to result in an aborted Brexit, with potentially devastating consequences for the <span class="caps">EU</span> as a whole.</p><p>The <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/United_Kingdom">United Kingdom</a> has voted to “leave” the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/European_Union">European Union</a> (the notorious “Brexit”), apparently stunning<sup id="sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-1-back"><a href="#sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-1" class="simple-footnote" title="The extent of the disbelief was itself surprising to me, since the polls were, when properly taking into account their uncertainty, hinting at a tight race.">1</a></sup> the media, politicians and businesses both in the <span class="caps">UK</span> and abroad.</p>
<p>I will first argue that the post-referendum chaos can provide valuable lessons on <em>what</em> and <em>how</em> questions should be settled through direct democracy. I will then contend that the <span class="caps">UK</span> will probably not end up leaving the <span class="caps">EU</span> after all, and discuss why this is a more serious peril for the <span class="caps">EU</span> than Brexit itself.</p>
<h2>Two lessons for direct democracy</h2>
<p>An incredible political crisis, engulfing both the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Tories_(British_political_party)">Tories</a> and <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Labour_Party_(UK)">Labour</a>, Northern Ireland and Scotland, has begun to unfold. It is now utterly clear that nobody knew what to do in case of a victory of “leave”, the very least the proponents of “leave” themselves, who were apparently expecting to turn a narrow defeat into domestic political capital for the next general election.</p>
<p>It was obvious from the beginning that the “leave” camp accommodated very different, often contradicting views on the post-<span class="caps">EU</span> future. Some of them wanted something similar to a membership of the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/European_Economic_Area"><span class="caps">EEA</span></a>, with only moderate changes from the <em>status quo</em>.<sup id="sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-2-back"><a href="#sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-2" class="simple-footnote" title="In particular, maintaining the internal market, including the bulk of freedom of movement.">2</a></sup> Since this hardly counts as “getting our sovereignty back”, others were pleading for a significantly more distant relationship including immigration restrictions and refocusing on trade with non-<span class="caps">EU</span> countries.</p>
<p>Had there been <em>sufficient clarity</em> on the way of proceeding after the referendum, the diversity of positions and interests would not have been a major problem. For instance, the supporters of the “No” camp in the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/French_European_Constitution_referendum,_2005">2005 French referendum against the European Constitution</a> were an inconsistent bunch, but they could agree on a concrete and clear objective—rejecting the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Treaty_establishing_a_Constitution_for_Europe">European Constitution</a>. However, in case of the Brexit, only the “remain” option came with clear implications (the <em>status quo</em>), while “leave” was unclear on a number of points:</p>
<ol>
<li><strong>The formal procedure</strong>: <a href="http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2016/577971/EPRS_BRI(2016)577971_EN.pdf">Art. 50 <span class="caps">TEU</span></a> or something else?</li>
<li><strong>The timeframe</strong>: weeks, months, years before starting to negotiate the exit?</li>
<li><strong>The outcome aimed at</strong>: access to the internal market, maintaining freedom of movement, keeping a financial contribution?</li>
<li><strong>The internal consequences for the <span class="caps">UK</span></strong>: should there be a special status given to Scotland, to the Irish border? </li>
</ol>
<p>The unpreparedness for the “leave” victory now comes back with a vengeance, threatening to sweep away both camps, leaving the <span class="caps">UK</span> in a political limbo for months, if not years, to come. There is a first important (if somewhat trivial) lesson about direct democracy to be learned from this episode:</p>
<blockquote>
<p>Any question to be decided by referendum must consist of two well-defined options, ensuring that the democratic decision can actually be applied. Ideally, this would be the choice between adopting or not adopting a fully worked out law proposal.<sup id="sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-3-back"><a href="#sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-3" class="simple-footnote" title="In Austria, binding referendums (“Volksabstimmung”) are only meant to choose between the status quo and an already worked out proposed modification to the constitution. In France, the situation is quite similar.">3</a></sup></p>
</blockquote>
<p>As we now know, a large majority of voters did not expect “leave” to win, and would possibly have reconsidered their choice in the wake of the events of the last days. This creates a curious situation where the <em>knowledge that there is a certain majority can eliminate this very majority</em>. One should not underestimate this effect, in particular when ballots are cast as an expression of <em>protest</em>.<sup id="sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-4-back"><a href="#sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-4" class="simple-footnote" title="The very concept of protest only makes sense when combined with the belief of being in a minority.">4</a></sup> Brexit as a protest seems much less appetising now that it is actually within reach. </p>
<p>More generally, the difficulty of the <em>volatility of opinion</em> is to be posed, in particular when weighty long-term issues are decided by close calls. The second lesson to be learned from the referendum is thus:</p>
<blockquote>
<p>A referendum should only answer questions for which a long-term consensus is expected in the electorate—even after the result is known.<sup id="sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-5-back"><a href="#sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-5" class="simple-footnote" title="One could for instance require a quorum of more than 50% for significant structural changes (such as when altering the constitution or for international treaties), which is a usual requirement when Parliament is enacting such modifications.">5</a></sup></p>
</blockquote>
<h2>Worse than Brexit? No Brexit.</h2>
<p>In the middle of all this looming chaos, what once seemed a procedural detail is now in the spotlight: the referendum is, strictly speaking, <em>advisory</em>; it is not <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/United_Kingdom_European_Union_membership_referendum,_2016">legally binding</a>. Many voices are already calling for <a href="https://www.theguardian.com/commentisfree/2016/jun/27/stop-brexit-mp-vote-referendum-members-parliament-act-europe">Parliament to disregard the outcome of the referendum</a> or for a <a href="http://www.itv.com/news/update/2016-06-26/tony-blair-dont-rule-out-a-second-eu-referendum/">second referendum</a>.</p>
<p>The freedom <em>not to act</em> on the results of the referendum (at least not immediately) is also claimed as a right by <a href="http://www.theguardian.com/politics/2016/jun/27/cameron-decision-on-brexit-timing-will-be-for-britain-alone-to-take">David Cameron</a> and <a href="http://www.theguardian.com/politics/2016/jun/26/boris-johnson-breaks-silence-to-set-out-leadership-platform">Boris Johnson</a>. It is wholly unclear which successor to Cameron would risk initiating the infamous Art. 50 <span class="caps">TEU</span> procedure, in particular facing a pro-<span class="caps">EU</span> Parliament which <a href="https://ukconstitutionallaw.org/2016/06/27/nick-barber-tom-hickman-and-jeff-king-pulling-the-article-50-trigger-parliaments-indispensable-role/">probably will have the last word anyway</a>. With every day the <span class="caps">UK</span> takes no action to leave, it seems <a href="http://www.theguardian.com/politics/2016/jun/26/who-will-dare-pull-trigger-article-50-eu">more likely to stay after all</a>.</p>
<p>What would happen if the <span class="caps">UK</span> decided not to leave the <span class="caps">EU</span> at all or pushed the decision back indefinitely? The question is starting to be asked aloud in the <a href="http://www.lemonde.fr/referendum-sur-le-brexit/article/2016/06/27/royaume-uni-le-brexit-peut-il-ne-pas-se-produire_4959221_4872498.html">European</a> <a href="http://www.liberation.fr/planete/2016/06/27/londres-parti-pour-rester_1462481">press</a>; it is certainly the nightmare of <a href="http://www.theguardian.com/politics/2016/jun/27/europe-leaders-crunch-talks-brexit-fallout">other <span class="caps">EU</span> states</a> and <a href="http://www.theguardian.com/politics/live/2016/jun/24/eu-referendum-brexit-live-europe-leave-remain-britain"><span class="caps">EU</span> representatives</a>. </p>
<p>This is because the urge to begin with the Brexit negotiations as fast as possible goes far beyond trying to “punish” the <span class="caps">UK</span> and giving it a swift, bad deal. There is a more <em>imminent</em> and <em>serious</em> threat to the stability of the <span class="caps">EU</span> than the <span class="caps">UK</span> managing to thrive outside of the <span class="caps">EU</span>: the <span class="caps">UK</span> <em>staying</em> in the <span class="caps">EU</span>. </p>
<p>The Eurosceptics on the Continent celebrated the victory of “leave” as if it was their own. They were probably right, but for the wrong reasons. They certainly did not expect how <em>fast</em> the British appetite for leaving would wane, both among the Brexit elites and their electorate. However, this democratic imbroglio is likely to sow the seeds of further euroscepticism to come.</p>
<p>The <span class="caps">EU</span> has solidly acquired a reputation<sup id="sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-6-back"><a href="#sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-6" class="simple-footnote" title="In particular because of the Danish (1992/1993), Irish (2001/2002, 2008/2009) and French/Dutch (2005) referendums. In my opinion, this is a misunderstanding on at least two accounts. First, there were always significant changes made to treaties rejected by referendum (whether they were positive or not is another question) which were later approved by a comfortable margin; second, the organisation of referendums is a purely domestic issue, meaning that the pressure to repeat a referendum comes from domestic politicians and domestic politicsn *not from “the EU”.">6</a></sup> of “ignoring democratic decisions” and “forcing to rerun referendums until the correct result wins”. This reputation is at stake now; it is why the <span class="caps">EU</span> has to press the <span class="caps">UK</span> to act upon the outcome of the referendum as swiftly as possibly. Ironically, it does not have to power to do this, just as it never actually had the power to repeat referendums until the outcome is satisfying.</p>
<p>In the case of a <em>failure to leave</em>, not only will Eurosceptics around Europe be decisively strengthened (“The <span class="caps">EU</span> won’t even let a country leave when it chooses to.”) but also will Europhiles be heavily disillusioned (“The <span class="caps">EU</span> once again surrendered to the <span class="caps">UK</span>’s dirty tricks.”). Additionally, <span class="caps">UK</span> politics will enter a severe crisis, with distrust in the “Whitehall traitors” considerably strengthened. It was certainly a foolish decision to call for a referendum on <span class="caps">EU</span> membership, particularly without a serious plan to leave. Although the referendum was indeed <em>non-binding</em>, it would be even more foolish to disregard its outcome, however ill-informed it might be.</p>
<blockquote>
<p>Leaving is a bad choice—not leaving is now worse. If the <span class="caps">UK</span> reluctantly remains in the <span class="caps">EU</span> in spite of the referendum, it might deal the fatal blow to the <span class="caps">EU</span> that an actual Brexit would not have been.</p>
</blockquote><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-1">The extent of the disbelief was itself surprising to me, since the <a href="http://www.theguardian.com/politics/2016/jun/24/how-eu-referendum-pollsters-wrong-opinion-predict-close">polls</a> were, when properly taking into account their uncertainty, hinting at a tight race. <a href="#sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-2">In particular, maintaining the internal market, including the bulk of <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Internal_market">freedom of movement</a>. <a href="#sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-3">In Austria, binding referendums (“<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Volksabstimmung_(%C3%96sterreich)">Volksabstimmung</a>”) are only meant to choose between the <em>status quo</em> and an already worked out proposed modification to the constitution. In France, the <a href="https://fr.wikipedia.org/wiki/R%C3%A9f%C3%A9rendum_en_France#Le_r.C3.A9f.C3.A9rendum_l.C3.A9gislatif">situation</a> is quite similar. <a href="#sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-4">The very concept of protest only makes sense when combined with the belief of being in a <em>minority</em>. <a href="#sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-5">One could for instance require a quorum of more than 50% for significant structural changes (such as when altering the constitution or for international treaties), which is a usual requirement when Parliament is enacting such modifications. <a href="#sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-6">In particular because of the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Referendums_related_to_the_European_Union">Danish (1992/1993), Irish (2001/2002, 2008/2009) and French/Dutch (2005) referendums</a>. In my opinion, this is a misunderstanding on at least two accounts. First, there were <em>always</em> significant changes made to treaties rejected by referendum (whether they were positive or not is another question) which were later approved by a comfortable margin; second, the organisation of referendums is a purely <em>domestic</em> issue, meaning that the pressure to repeat a referendum comes from domestic politicians and domestic politicsn *not from “the <span class="caps">EU</span>”. <a href="#sf-lessons-from-the-uk-referendum-and-what-could-be-worse-than-brexit-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Die Auflösung der Ethik in der Stoa (II)2016-06-25T00:00:00+02:002016-06-25T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2016-06-25:/posts/2016/06/25/stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2/<p>Stoiker stellen Normen für den Umgang mit Mitmenschen niemals für Andere, nur für sich selbst auf. Ich versuche zu argumentieren, dass auch diese Normen im Rahmen der Stoa letztlich inhaltslos bleiben. Daraufhin gehe ich auf die Unterschiede zwischen stoischer und christlicher Philosophie ein.</p><h2>Die normative Asymmetrie…</h2>
<p>Die Praxis, die für die Stoa im Mittelpunkt steht, ist, wie ich im <a href="https://lpql.net/posts/2016/06/12/stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik/">vorigen Artikel</a> erwähnt habe, <em>zunächst individuell</em>: Es geht um die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, die Bändigung der eigenen Befürchtungen und Hoffnungen. In dieser Hinsicht wird eine scharfe Trennung zwischen dem <em>Inneren</em> (der eigenen Geisteswelt) und dem <em>Äußeren</em> gezogen.</p>
<p>Um dem an dieser Stelle lauernden <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Solipsismus">Solipsismus</a> zu entkommen,<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-1-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-1" class="simple-footnote" title="Es ist streng genommen nicht notwendig, den Solipsismus abzuwenden; die Stoa möchte jedoch Konzepte wie Brüderlichkeit und Nächstenliebe beibehalten, die in einem solipsistischen Weltbild nicht bestehen können.">1</a></sup> wird ein Brückenschlag zwischen innen und außen über das gemeinsame Fundament der <em>Natur</em> (beziehungsweise <em>Gottes</em>) versucht. Die Natur rechtfertigt die stoischen Sollenssätze<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-2-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-2" class="simple-footnote" title="Zusammenfassend etwa: „Du sollst so handeln, wie es deiner Natur entspricht.“ Hier lauert ein naturalistischer Fehlschluss – ein anderer Schwachpunkt der Stoa.">2</a></sup> und soll das Verhältnis zu anderen Menschen – Ethik im engen Sinn – regeln.</p>
<p>Das umfassende <em>Toleranzprinzip</em> („Du sollst jegliches Verhalten deiner Mitmenschen tolerieren“) ist der Endpunkt dieser Überlegung. Die Stoa fordert dazu auf, <em>sich selbst</em> Regeln aufzuerlegen, das von Anderen aber <em>nicht zu erwarten</em>. Die Gemeinsamkeiten der Menschen, die offenbar angestrebte <em>deskriptive Symmetrie</em>, reichen offenbar nicht für eine <em>normativen Symmetrie</em> zwischen Ich und Du aus.</p>
<blockquote>
<p>Der Stoiker bleibt beim: „Ich soll…“, er sagt niemals: „Du sollst…“. </p>
</blockquote>
<h2>…wird zur normativen Leere</h2>
<p>Ich möchte nun argumentieren, dass in dieser Konstellation nicht einmal, wie Stoiker es versuchen, <em>Normen für das eigene Verhalten</em> gegenüber Anderen formuliert werden können. Woher könnte der <em>Inhalt</em> einer solchen Norm kommen? Es gibt zwei<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-3-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-3" class="simple-footnote" title="Ein dritter Weg, den die Stoa auch nicht geht, wäre schlicht die Setzung solcher Regeln als Axiome, der wir in der christlichen Philosophie wieder begegnen werden.">3</a></sup> ähnliche, aber prinzipiell unterschiedliche Möglichkeiten dafür:</p>
<ol>
<li>Aus der Extrapolation der <em>eigenen</em> Wünsche und Bedürfnisse <em>auf Andere</em>, verbunden mit dem Gebot ihrer (zumindest teilweisen) Erfüllung: „Ich mag nicht geschlagen werden, also soll ich Andere nicht schlagen.“</li>
<li>Aus der Extrapolation der Pflichten <em>anderer auf sich selbst</em>: „Andere sollen mich nicht schlagen, also soll auch ich sie nicht schlagen.“</li>
</ol>
<p>Eine Form von Verallgemeinerung<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-4-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-4" class="simple-footnote" title="Die Verallgemeinerung von mir auf Andere oder von Anderen auf mich muss nicht streng symmetrisch sein. Es ist zum Beispiel möglich, nur bestimmte Wünsche (die zum Beispiel über bloßes Begehren hinausgehen) auf Andere zu übertragen und zum Ursprung für Normen zu machen. Irgendeine Form der Verallgemeinerung ist hingegen unerlässlich – man könnte sie allgemeine goldene Regel nennen.">4</a></sup> zwischen Eigenem und Fremden ist also unerlässlich. Genau die vermag jedoch die Stoa nicht zu schlagen. </p>
<p>Die erste Option kann von Stoikern nicht in Betracht gezogen werden, weil für sie die eigenen Wünsche überhaupt nur insofern sinnvoll sind, als dass sie ganz ohne fremdes Zutun erreicht werden können.<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-5-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-5" class="simple-footnote" title="Der Grund dafür ist die im letzten Artikel beschriebene Einschränkung des Willens auf vollständig beherrschbare, intellektuelle Güter. Ohne sie könnte der erste Weg noch gegangen werden.">5</a></sup> Auch das im <a href="https://lpql.net/posts/2016/06/12/stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik/">vorigen Artikel</a> erwähnte <em>Empathieverbot</em> geht in diese Richtung. Die zweite Möglichkeit ist schon durch das absolute Toleranzprinzip ausgeschlossen – andere Menschen haben uns gegenüber ganz einfach keine Pflichten.</p>
<p>Damit ist vorgebliche Möglichkeit, sich selbst normative Prinzipien im Umgang mit Mitmenschen aufzuerlegen, nicht mehr als eine <em>leere Hülse</em>, die in der stoischen praktischen Philosophie nicht mit Inhalt gefüllt werden kann. Die Stoa vermag es deshalb meines Erachtens nicht, die zwischenmenschliche Ebene zu regeln; sie bleibt auf eine <em>Philosophie der Schicksalsschläge</em> beschränkt.</p>
<h2>Verhältnis zur christlichen Lehre</h2>
<p>Ich habe im <a href="https://lpql.net/posts/2016/06/12/stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik/">letzten Artikel</a> die Toleranz gegenüber anderen, die nicht in unserem Sinn handeln als Ähnlichkeit zwischen Stoa und christlicher Philosophie erwähnt. Wie vermeidet letztere die normative Leere der stoischen? Es gilt in dieser Hinsicht, drei wesentliche Unterschiede zwischen christlicher und stoischer Philosophie zu betrachten:</p>
<ol>
<li><strong>Vergeben</strong>: Im Christentum gibt es auf ganz grundlegender Ebene Sünde und <em>Schuld</em>; die christliche Ethik wird auf der Basis von <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Zehn_Gebote">Verboten und Geboten</a> entfaltet. Das Wesen der christlichen Toleranz ist nicht bloß die Einsicht in die Unausweichlichkeit der Sünden,<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-6-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-6" class="simple-footnote" title="In der Stoa ist praktische Philosophie mehr oder weniger direkt aus der Erkenntnistheorie herleitbar – korrektes Erkennen impliziert richtiges Handeln. Im christlichen Weltbild ist das keinesfalls so.">6</a></sup> sondern die Überwindung einer (eigentlich angebrachten) Schuldzuweisung – das <em>Vergeben</em>.</li>
<li><strong>Teilhabe an der Liebe Gottes</strong>: Das Gebot des Vergebens ergibt sich aus der <em>symmetrischen Teilhabe an Gott</em>. Die unbedingte Nächstenliebe ist als Abwandlung der göttlichen <em><a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Karitas">caritas</a></em> zu verstehen, und beruht auf dem gleichen intrinsischen Wert jedes Menschen, einer Art gottgegebener <em>Würde</em>.<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-7-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-7" class="simple-footnote" title="Ein ähnlicher Gedankengang findet sich zwar auch bei Epiktet: „Du bist bevorzugt, du bist ein Stück von Gott.“ (Epiktet, 1996: Handbüchlein der Moral und Unterredungen, Zürich: Diogenes, S. 98), doch er bleibt bei einer rein deskriptiven Symmetrie, die keine normativen Konsequenzen hat.">7</a></sup></li>
<li><strong>Gott als Richter</strong>: Das Vergeben ist insofern eingeschränkt und normativ entschärft, als dass das letztliche Urteil bei <em>Gott</em> liegt. Menschen können vergeben, <em>ohne das normative Grundgerüst zu gefährden</em>, weil es schlussendlich nicht an ihnen liegt, die Einhaltung der Regeln bewerten. Menschen können deshalb vergeben, weil Gott es nicht immer tut. Die bekannteste poetisch-philosophische Darstellung dieser „außerweltlichen Justiz“ ist wohl <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Dante_Alighieri">Dantes</a> <em><a href="https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%B6ttliche_Kom%C3%B6die">Divina Commedia</a></em>. </li>
</ol>
<p>Die Ähnlichkeit zwischen der stoischen Toleranz und dem christlichen Vergeben ist nur oberflächlicher Natur; die philosophischen Grundlagen sind hingegen grundverschieden.</p>
<blockquote>
<p>Die christliche Ethik vermeidet das Problem der normativen Leere durch eine axiomatische Setzung von Regeln (deren Richter nicht der vergebende Mensch sondern Gott ist) und einem universellen Wert, der jedem Menschen zugeschrieben wird.</p>
</blockquote><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-1">Es ist streng genommen nicht notwendig, den Solipsismus abzuwenden; die Stoa möchte jedoch Konzepte wie <em>Brüderlichkeit</em> und <em>Nächstenliebe</em> beibehalten, die in einem solipsistischen Weltbild nicht bestehen können. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-2">Zusammenfassend etwa: „Du sollst so handeln, wie es deiner Natur entspricht.“ Hier lauert ein <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Naturalistischer_Fehlschluss">naturalistischer Fehlschluss</a> – ein anderer Schwachpunkt der Stoa. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-3">Ein dritter Weg, den die Stoa auch nicht geht, wäre schlicht die Setzung solcher Regeln als <em>Axiome</em>, der wir in der christlichen Philosophie wieder begegnen werden. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-4">Die Verallgemeinerung von mir auf Andere oder von Anderen auf mich muss nicht streng symmetrisch sein. Es ist zum Beispiel möglich, <em>nur bestimmte</em> Wünsche (die zum Beispiel über bloßes Begehren hinausgehen) auf Andere zu übertragen und zum Ursprung für Normen zu machen. <em>Irgendeine</em> Form der Verallgemeinerung ist hingegen unerlässlich – man könnte sie allgemeine <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Goldene_Regel">goldene Regel</a> nennen. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-5">Der Grund dafür ist die im <a href="https://lpql.net/posts/2016/06/12/stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik/">letzten Artikel beschriebene</a> Einschränkung des Willens auf vollständig beherrschbare, intellektuelle Güter. Ohne sie könnte der erste Weg noch gegangen werden. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-6">In der Stoa ist praktische Philosophie mehr oder weniger direkt aus der Erkenntnistheorie herleitbar – korrektes Erkennen impliziert richtiges Handeln. Im christlichen Weltbild ist das keinesfalls so. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-7">Ein ähnlicher Gedankengang findet sich zwar auch bei Epiktet: „Du bist bevorzugt, du bist ein Stück von Gott.“ (Epiktet, 1996: <em>Handbüchlein der Moral und Unterredungen</em>, Zürich: Diogenes, S. 98), doch er bleibt bei einer rein <em>deskriptiven</em> Symmetrie, die keine normativen Konsequenzen hat. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Die Auflösung der Ethik in der Stoa (I)2016-06-12T00:00:00+02:002016-06-12T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2016-06-12:/posts/2016/06/12/stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik/<p>Ich fasse die praktische Philosophie der späteren Stoa in vier Grundsätzen zusammen, und versuche dann zu zeigen, wie für sie ein absolutes Toleranzgebot anstelle der Ethik tritt.</p><p>In diesem ersten Beitrag zum Stoizismus möchte ich eine persönliche Zusammenfassung der Prinzipien der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Stoa">späteren Stoa</a> versuchen. Ich beziehe mich dafür hauptsächlich auf die Werke <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Mark_Aurel">Marc Aurels</a><sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-1-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-1" class="simple-footnote" title="Marc Aurel, 1992, Selbstbetrachtungen, Frankfurt am Main: Insel Verlag.">1</a></sup> sowie <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Epiktet">Epiktets</a><sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2" class="simple-footnote" title="Epiktet, 1996: Handbüchlein der Moral und Unterredungen, Zürich: Diogenes.">2</a></sup> und erhebe dezidiert keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die vielfältigen Schwächen der stoischen Philosophie sollen in einem späteren Artikel thematisiert werden.</p>
<h2>Das Individuum im Fokus</h2>
<p>Das Augenmerk der stoischen Philosophie liegt auf der <em>praktischen Philosophie</em>. Die Stoa versucht, <em>Handlungsanweisungen für das tägliche Leben</em> zu geben, auf schwierige Fragen („Wie kann ich Trost nach dem Tod eines Freundes finden?“ oder „Nach welchen Gütern darf ich trachten, nach welchen soll ich streben?“) Antworten zu geben.</p>
<p>Das <em>Subjekt</em> der stoischen Philosophie ist das einzelne <em>Individuum</em>. Der Weg zur stoischen Lebensweise ist <em>persönlich</em>, im Wesentlichen von äußeren Einflüssen <em>emanzipierend</em>. Die Beschäftigung mit den Interessen anderer Menschen spielt nicht die Hauptrolle.</p>
<h2>Vier Grundprinzipien</h2>
<p>Das grundlegenste Prinzip der Stoa ist zugleich auch das einleuchtendste und wirkmächtigste:<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-3-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-3" class="simple-footnote" title="Es wäre töricht, hier den Einfluss der Stoa auf die Philosophie auch nur ansatzweise darstellen zu wollen. Es reicht sicherlich aus, nur Descartes, Spinoza und Kant als Erben des Stoizismus anzuführen.">3</a></sup></p>
<blockquote>
<p>(1) Erkenne, was du zu erreichen vermagst und trachte nicht nach dem, was du nicht zu erreichen vermagst.</p>
</blockquote>
<p>Es ist eine <em>methodische</em> Vorgabe (das Erkennen der eigenen Grenzen), verknüpft mit einer <em>normativen</em> Vorgabe (die Grenzen nicht zu überschreiten zu versuchen). Um zu wissen, was man <em>soll</em>, muss man zunächst wissen, was man <em>kann</em>. Das ist fast eine Trivialität.</p>
<p>Nun geht die Stoa einen gewaltigen Schritt weiter und postuliert:</p>
<blockquote>
<p>(2) Nur nach demjenigen, was <em>von dir alleine</em> abhängt, sollst du streben oder dich abwenden; nur solcherlei kann <em>gut</em> oder <em>schlecht</em> sein. Was in irgendeiner Weise von äußeren Umständen abhängt, ist weder gut noch schlecht.</p>
</blockquote>
<p>Hier findet eine <em>radikale Einschränkung</em> statt: Nur ganz wenige Güter (jene, die <em>ausschließlich</em> von uns selbst abhängen) können (i) zum Ziel gemacht werden und (ii) gewertet werden. Umgekehrt ist damit in Hinblick auf die überwiegende Mehrheit der Güter (all jene, die auch nur <em>ein wenig</em> von äußeren Einflüssen abhängen) <em>Neutralität</em> oder gar <em>Gleichgültigkeit</em> geboten. Der Mensch darf nichts erhoffen (z. B. Reichtum oder Ruhm) oder fürchten (z. B. den eigenen Tod oder den Tod anderer), was nicht in seiner Macht steht, wenn er <em>frei</em> und <em>glücklich</em> werden will.<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-4-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-4" class="simple-footnote" title="Die radikale Beschränkung auf absolute Freiheit findet sich zum Beispiel bei Descartes oder Spinoza nicht mehr, obwohl auf für sie die Einsicht der eigenen Bedingtheit wesentlich ist.">4</a></sup></p>
<p>Was sind die Güter, die nur von uns selbst abhängen? Sie finden sich allein im <em>Denken</em>. Nur über das eigene Denken kann man <em>absolut frei</em> verfügen, nur dort kann die Willkür der Welt ausgesperrt werden. Es gilt aber, sich dieser Möglichkeit zur Unabhängigkeit gewahr zu werden und sie beständig zu festigen:</p>
<blockquote>
<p>(3) Wahre die Unabhängigkeit deines Denkens, von den eigenen körperlichen Trieben, von den Meinungen anderer, vom Geschehen der Welt. </p>
</blockquote>
<p>Es gilt hier festzuhalten, dass in diesem Kontext alles Nichtintellektuelle auf ein und dieselbe Ebene reduziert wird. Auch die Handlungen anderer Menschen werden hier als Naturphänomen – gewissermaßen als <em>Störfaktor</em> für die eigene Unabhängigkeit – betrachtet. Deshalb ist es für Stoiker auch notwendig, <em>Empathie weitgehend auszuschalten</em>.<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-5-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-5" class="simple-footnote" title="Marc Aurel schreibt dazu: „Nicht jammern mit den anderen, nicht mit ihnen aufjubeln!“ (S. 112)">5</a></sup></p>
<p>Ein letztes wesentliches Element des Stoizismus ist der schließlich doch noch stattfindende <em>Brückenschlag</em> zwischen dem eigenen Denken und der Außenwelt, durch den dem radikalen <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Solipsismus">Solipsismus</a> ausgewichen wird. Er geschieht über den Begriff der „Natur“, beziehungsweise „Gottes“:</p>
<blockquote>
<p>(4) Du bist wie alle anderen Dinge <em>Teil der Natur</em>. Was dir scheinbar zufällig widerfährt ist Teil des notwendigen Kreislaufs des Ganzen. Darin kann nichts Schlechtes vorkommen.</p>
</blockquote>
<p>Die Natur ist das Substrat, das alles verbindet und ineinander überführt. Es ist eine gute bis neutrale Welt; wenn sie uns schlecht vorkommt, irren wir, verstehen bloß die Notwendigkeit ihrer Wandlung nicht. Sie zu verdammen wäre für Stoiker jedenfalls ein Kategorienfehler, gewissermaßen auch <em>Gotteslästerung</em>.<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-6-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-6" class="simple-footnote" title="Implizit gilt dasselbe auch für die gesellschaftliche Ordnung, die ein Teil der natürlichen Ordnung ist.">6</a></sup> Das Konzept der <em>Brüderlichkeit</em> zwischen Menschen leitet sich aus der gemeinsamen Teilhabe an Gott ab.</p>
<h2>Toleranz als Auflösung der Ethik</h2>
<p>Die Grundlagen der praktischen Philosophie setzen sich nicht mit <em>genuin ethischen</em> Fragen, also mit der Abwägung fremder gegen eigene Interessen, auseinander. </p>
<p>Es lässt sich jedoch ein einziges, allumfassendes moralisches Prinzip aus ihnen ableiten: </p>
<blockquote>
<p>(5) Du sollst jegliches Verhalten deiner Mitmenschen tolerieren. </p>
</blockquote>
<p>Weil alle anderen Menschen auch Teil der Natur sind, handeln sie nach dem, <em>was sie für gut halten</em>. Wenn sie <em>schlecht</em> handeln (stehlen, morden, etc.), kann man bestenfalls versuchen, ihnen ihr Fehlverhalten (also ihr Streben nach etwas, wozu sie nicht befähigt sind) vor Augen zu führen, denn <em>eigentlich schaden sie nur sich selbst</em>.<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-7-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-7" class="simple-footnote" title="Anderen können sie nicht schaden, weil ihre Handlungen für diese Teil der äußeren Welt sind und damit weder zuträglich noch schädlich.">7</a></sup> Sollte dies nicht möglich sein, muss es bei dem Rückzug in die Toleranz bleiben.<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-8-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-8" class="simple-footnote" title="Die Brüderlichkeit der Stoa wird in Toleranz, nicht in Mitgefühl umgemünzt. Man soll seinen nächsten (in einem eingeschränkten Sinn) zwar lieben, aber sich zugleich nicht von ihm abhängig machen. Marc Aurels Haltung zu Mitmenschen ist: „belehre oder ertrage sie“ (S. 140).">8</a></sup> </p>
<p>Es ist dies eine äußerst unkonventionelle Art, ethische Fragestellungen zu lösen, eigentlich: <em>aufzulösen</em>. Dem Stoiker kann niemand Leid zufügen, weil er erkennt, dass von außen kein Leid kommen kann. Damit verschwindet auch die Notwendigkeit, anderen Menschen moralische Zwänge aufzuerlegen.<sup id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-9-back"><a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-9" class="simple-footnote" title="Man kann hier deutliche Parallelen zum Christentum erkennen. Im Vaterunser nach Lukas 11 heißt es: „erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist“ und in Lukas 23: „Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen sie wissen nicht, was sie tun!“. Die Stoa ist insofern radikaler, als dass gar keine Schuld zustandekommt und deshalb nicht erlassen werden muss.">9</a></sup> Ob man <em>sich selbst</em> noch moralische Prinzipien auferlegen kann, ist eine andere – offensichtlich problematische – Frage, die ich im <a href="https://lpql.net/posts/2016/06/25/stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2/">nächsten Artikel</a> detaillierter behandeln werde. </p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-1">Marc Aurel, 1992, <em>Selbstbetrachtungen</em>, Frankfurt am Main: Insel Verlag. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2">Epiktet, 1996: <em>Handbüchlein der Moral und Unterredungen</em>, Zürich: Diogenes. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-3">Es wäre töricht, hier den Einfluss der Stoa auf die Philosophie auch nur ansatzweise darstellen zu wollen. Es reicht sicherlich aus, nur <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Ren%C3%A9_Descartes">Descartes</a>, <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Baruch_de_Spinoza">Spinoza</a> und <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Immanuel_Kant">Kant</a> als Erben des Stoizismus anzuführen. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-4">Die radikale Beschränkung auf <em>absolute Freiheit</em> findet sich zum Beispiel bei Descartes oder Spinoza nicht mehr, obwohl auf für sie die Einsicht der eigenen Bedingtheit wesentlich ist. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-5">Marc Aurel schreibt dazu: „Nicht jammern mit den anderen, nicht mit ihnen aufjubeln!“ (S. 112) <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-6">Implizit gilt dasselbe auch für die gesellschaftliche Ordnung, die ein Teil der natürlichen Ordnung ist. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-7">Anderen können sie nicht schaden, weil ihre Handlungen für diese Teil der äußeren Welt sind und damit weder zuträglich noch schädlich. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-8">Die Brüderlichkeit der Stoa wird in <em>Toleranz</em>, nicht in <em>Mitgefühl</em> umgemünzt. Man soll seinen nächsten (in einem eingeschränkten Sinn) zwar lieben, aber sich zugleich nicht von ihm abhängig machen. Marc Aurels Haltung zu Mitmenschen ist: „belehre oder ertrage sie“ (S. 140). <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-9">Man kann hier deutliche Parallelen zum Christentum erkennen. Im <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Vaterunser">Vaterunser nach Lukas 11</a> heißt es: „erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist“ und in <a href="http://bibeltext.com/luke/23-34.htm">Lukas 23</a>: „Jesus aber sprach: Vater, vergib ihnen sie wissen nicht, was sie tun!“. Die Stoa ist insofern radikaler, als dass gar keine Schuld zustandekommt und deshalb nicht erlassen werden muss. <a href="#sf-stoa-toleranz-und-aufloesung-der-ethik-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Österreich: Anatomie einer Spaltung2016-05-25T00:00:00+02:002016-05-25T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2016-05-25:/posts/2016/05/25/oesterreich-anatomie-einer-spaltung/<p>Die Bundespräsidentschaftswahl hat Alexander Van der Bellen denkbar knapp für sich entschieden – nun ist vielfach von einer „Spaltung“ des Landes die Rede. Ich versuche, drei ihrer Aspekte zu beleuchten. Erstens beruht sie auf einer ungewohnten Entscheidung zwischen ungeliebten Auswahlmöglichkeiten; zweitens darf sie nicht auf den Gegensatz „Systemverlierer-Systemgewinner“ reduziert werden; drittens ist sie ideologisch maßgeblich auf einer neue Form von Antielitismus begründet.</p><p>Österreich hat einen Bundespräsidenten gewählt – mit etwa 50.3% der Stimmen liegt Alexander Van der Bellen, doch deutlicher als am Wahlabend erwartet, aber <a href="http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/820493_Ueberholmanoever-in-der-letzten-Runde.html">knapp wie kein Bundespräsident zuvor</a> an erster Stelle. Wirkliche Legitimität, die das Stichwahlsystem eigentlich gewähren sollte, wird er sich erst erarbeiten müssen.</p>
<p>In den Medien ist nun verstärkt (und durchaus verständlicherweise) von der <em><a href="http://derstandard.at/2000037436892/Ein-Zeichen-gegen-rechts?_blogGroup=1&ref=rec">Polarisierung</a></em> oder gar <em><a href="http://ooe.orf.at/news/stories/2775754/">Spaltung</a></em> Österreichs die Rede. Worin sie genau bestehen soll, ist jedoch weitgehend unklar: Stadt-Land, Arm-Reich, Jung-Alt, Männer-Frauen oder Matura-Pflichtschulabschluss? Es sind alles Erklärungsmuster, die dafür <a href="http://diepresse.com/home/politik/bpwahl/4994002/Interaktiv_Wer-waehlte-wen-wann-und-wie-oft">bemüht werden können</a>, aber ein zusammenhängendes Bild ergeben sie keinesfalls.</p>
<p>Es wäre vermessen zu versuchenn, ein solches zu zeichnen – dafür habe ich weder das Wissen noch die Zeit. Dennoch möchte ich zumindest drei Aspekte ansprechen, die in der Debatte kaum oder gar nicht behandelt werden.</p>
<h2>Eine akzidentelle Spaltung</h2>
<p>Der erste Schlüssel zum Verständnis des Ergebnisses ist meines Erachtens die radikale Neuheit der Fragestellung – ein Kandidat der FPÖ gegen einen ehemaligen Bundessprecher der Grünen. Weder die Grünen noch die FPÖ genießen eine wirklich breite Unterstützung in der österreichischen Bevölkerung. Sie bemühen sich eigentlich nicht einmal darum: in ihrem Selbstverständnis sind sie keine Volks- sondern <em>reine Zielgruppenparteien</em>, die von der Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen leben.</p>
<p>Dementsprechend ist es auch nur der extrem „Establishment“-feindlichen Stimmung im Land geschuldet, dass es die beiden überhaupt bis in die Stichwahl geschafft haben. Spürbar war deshalb auch der Widerwille der Bevölkerung, die sich eher in <a href="http://www.profil.at/oesterreich/bp-wahl-motive-waehler-hofer-vanderbellen-6374028">Grünen- und Blauenverhinderer (oder -hasser?) denn in Anhänger Hofers und Van der Bellens fraktionieren mussten</a>.</p>
<p>Es ist deshalb natürlich <a href="http://derstandard.at/2000037470424/Die-Maer-von-der-ueberwundenen-Hemmschwelle">komplett unsinnig</a>, wenn FPÖ und Grüne je die Hälfte der Bevölkerung als ihre treue Gefolgschaft verkaufen. Dass die Österreicher sich an einer ungewohnten Grenze definieren mussten, ist <em>akzidentell</em>, dem Stichwahlsystem<sup id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-1-back"><a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-1" class="simple-footnote" title="Mit dem das österreichische Volk gänzlich unerfahren ist, sobald das politische Spektrum der Bundespräsidentenwahl nicht mehr von SPÖ und ÖVP dominiert ist.">1</a></sup> geschuldet; es wird sich in voraussehbarer Zeit (zumindest in den nächsten sechs Jahren) in dieser Form nicht wiederholen.</p>
<blockquote>
<p>Die Spaltung, die am vergangenen Wahlsonntag ersichtlich wurde, ist an einer flüchtigen und akzidentellen Grenze erfolgt – von einer „Richtungswahl“ kann jedenfalls nicht die Rede sein.</p>
</blockquote>
<p>Die <em>Dauerhaftigkeit</em> der beobachteten Polarisierung und der angeblichen „Richtungswahl“ sind also zu relativieren. Dennoch gilt es jetzt für Van der Bellen, sie nicht „einzuzementieren“ und eine besonders vorsichtige und konsensuelle Politik zu betreiben, die ganz gezielt auf gewisse Anliegen der „49.7%“ Rücksicht nimmt. Zwei davon, die er dabei besonders berücksichtigen sollte, möchte ich nun näher ausführen.</p>
<h2>Stellvertreterängste der Unbedrohten</h2>
<p>Der inhomogene, aber ganz grob betrachtet „linksorientierte“ Teil der Bevölkerung, der gerade knapp triumphiert hat, muss zunächst folgende Tatsache verdauen: Hofer ist unverkennbar von der Flüchtlingswelle 2015 <a href="http://www.profil.at/oesterreich/bp-wahl-motive-waehler-hofer-vanderbellen-6374028">bis knapp an die Spitze getragen worden</a> und ohne die winterliche Kehrtwende wäre er wohl auch mit deutlicher Mehrheit zum Präsidenten gewählt worden. Es gibt definitiv keine, nicht einmal (mehr) relative Mehrheit für eine Politik der offenen Grenzen; auch Van der Bellen hat das früh genug erkannt.</p>
<p>Zugleich ist aber auch auffallend, dass die Städte mit den höchsten Ausländer- und Asylwerberraten ganz deutlich für Van der Bellen gestimmt haben. So haben zum Beispiel die im Boulevard vielbeschworenen „Kriminalitätshotspots“ um die Thaliastraße und den Praterstern <a href="http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/820491_Wiener-Hotspots-waehlten-VdB.html">überdeutlich (mit etwa 70%)</a> gegen Hofer gestimmt. Hofer als Reaktion auf den unmittelbaren Kontakt mit Einwanderern zu sehen, greift offenbar zu kurz. </p>
<p>Auch andere Ängste, besonders jene vor <em>Verarmung, Statusverlust und allgemein vor Veränderung</em> waren für Hofer <a href="http://derstandard.at/2000037560623/Studie-Hofers-Waehler-haben-Abstiegsaengste-und-Vertrauenskrise">sicherlich Wahlhelfer</a>. In diesem Kontext gilt es jedoch, etwas weiter zu blicken als auf das übliche Gleichnis „FPÖ = Arbeiterpartei = Partei der Aussichtslosen“, das nicht <em>ganz</em> unbegründet ist, aber dennoch Wesentliches verdeckt.</p>
<p>Arbeiter sind in Österreich nicht mehr die dominante soziologische Gruppe: Seit längerem wurden sie von <a href="http://wko.at/statistik/bundesland/ArbAngBea%20HV.pdf">Angestellten zahlenmäßig abgelöst</a>,<sup id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-2-back"><a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-2" class="simple-footnote" title="Eigentlich ist die Unterscheidung beider Kategorien ohnehin obsolet; sie beruht nur auf marginal unterschiedlichen rechtlichen Arbeitsverhältnissen.">2</a></sup> Arbeiter stellen deshalb, wenn man von einer etwa <a href="http://orf.at/wahl/story/2340496.html">80-prozentigen Zustimmung für Hofer ausgeht</a>, höchstens die Hälfte seiner Stimmen. Woher kommen der Rest?</p>
<p>Hofer hat jedoch von Selbstständigen und öffentlich Bediensteten <a href="http://orf.at/wahl/story/2340496.html">ebenfalls breite Unterstützung (respektive 53% und 45%)</a> erhalten. Gerade von letzterer ist es recht überraschend, ist sie doch weitgehend vor ökonomischen und sozialen Krisen geschützt und selbst oft Ziel der „Establishment“-Kritik der FPÖ.</p>
<p>Auch wenn man die Ergebnisse der Stichwahl geographisch betrachtet, stößt man wiederholt auf <a href="http://derstandard.at/2000006966085/Einkommen-nach-Bezirken">einkommensstarke</a> (dem <em>Medianeinkommen</em> nach) deutlich blaue Bezirke wie Gänserndorf, Mistelbach (<a href="https://wahlarchiv.wienerzeitung.at/wahl/bundespraesident/oesterreich/2016/oesterreich+52599/niederoesterreich+52900/">jeweils 58% für Hofer</a>) oder Wels-Land (<a href="https://wahlarchiv.wienerzeitung.at/wahl/bundespraesident/oesterreich/2016/oesterreich+52599/oberoesterreich+53500/">53% für Hofer</a>) und <a href="http://derstandard.at/2000006966085/Einkommen-nach-Bezirken">einkommensschwächere</a> Hofer abgeneigte Bezirke – auch abseits der Städte – wie Landeck oder Reutte (<a href="https://wahlarchiv.wienerzeitung.at/wahl/bundespraesident/oesterreich/2016/oesterreich+52599/tirol+54400/">56% und 54% für Van der Bellen</a>).<sup id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-3-back"><a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-3" class="simple-footnote" title="Die Stadt-Land-Spaltung sollte aus diesem Grund jedenfalls nicht bloß auf eine ökonomische Ebene projiziert werden.">3</a></sup></p>
<p>Es liegt die Schlussfolgerung nahe, dass Hofers Wählerschaft sich nicht nur aus der effektiv (unter anderem durch Einwanderung) ökonomisch und kulturell gefährdeten Unterschicht und unteren Mittelschicht zusammensetzt, sondern zu gleichen Teilen auch aus konservativ geprägten Gruppen mit bedeutend höheren Einkommen, die gegenwärtig und in absehbarer Zukunft <em>keinem objektiven Abstiegsdruck unterliegen</em>.</p>
<blockquote>
<p>Die „Stellvertreterangst“, die sich in einer objektiv wenig bedrohten konservativen Mittelschicht ausbreitet, ist mindestens genauso verbreitet wie die objektiv nachvollziehbare Abstiegsangst der Unterschicht.</p>
</blockquote>
<p>Es wäre ein gewaltiger Fehler, die Sorgen letzterer Gruppe als irrelevant einzustufen. Ihre <em>Stellvertreterängste</em> sind auf einer Teilhabe am Schicksal der anscheinend (oder nur scheinbar?) vom „System“ Malträtierten zurückzuführen. Sie sind ein Zeichen dafür, dass der Unmut an einem Punkt angelangt ist, an dem auch <em>reale Gewinner</em> sich mit <em>Verlierern</em> identifizieren können und zwar soweit, dass jegliche „gegen das System“ gerichtete Position auch von vielen politisch trägen, eigentlich konservativen Menschen begrüßt wird.</p>
<h2>Ein umfassender Antielitismus</h2>
<p>Was ist nun dieses „System“, welches den Protestwählern augenscheinlich ein Dorn im Auge ist? Der Begriff bringt mich zum zweiten Merkmal der Wählerschaft Hofers, das meines Erachtens in den unzähligen Kommentaren und Analysen komplett untergegangen ist – ihr <em>neuartiger</em>, weit gefasster <em>Antielitismus</em>. </p>
<p>Hofers <a href="http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-05/oesterreich-tv-duell-norbert-hofer-alexander-van-der-bellen-fpoe-gruene">„Sie sind ein Kandidat der Schikeria“</a> im berüchtigten unmoderierten <span class="caps">ATV</span>-Fernsehduell zeigt, wie er Wähler mit einer rabiaten Abqualifizierung der Eliten von sich überzeugen wollte, was ihm auch in beachtlichem Ausmaß gelungen ist.<sup id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-4-back"><a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-4" class="simple-footnote" title="Dennoch bezweifle ich, dass der Spruch sich letztlich positiv auf Hofers Wahlergebnis ausgewirkt hat. Er war derartig plump und verletzend, dass er als Weckruf für die Mobilisierung eher dem Gegenlager dienen konnte.">4</a></sup> </p>
<p>Diese Verachtung für alles elitäre ist nicht gänzlich neu. Gerade in Bezug auf den Kulturbereich – <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Bernhard">Thomas Bernhard</a> oder <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Elfriede_Jelinek">Elfriede Jelinek</a> sind paradigmatische Beispiele – liebt ein großer Teil Österreichs, sich über „Nestbeschmutzer“ und „Staatskünstler“ zu echauffieren; diese erfreuen sich indes an der kostenlosen Werbung.</p>
<p>Dennoch ist Österreichs Geschichte von Autoritätshörigkeit, von starken Führungspersonen<sup id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-5-back"><a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-5" class="simple-footnote" title="Man kann zum Beispiel Maria Theresia, Joseph II, Franz Joseph, Ignaz Seipel oder Bruno Kreisky erwähnen (vgl. Hanisch, 2005, Der lange Schatten des Staates: Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert)">5</a></sup> geprägt, von einer Unfähigkeit oder einem Unwillen zur Reform oder gar Revolution „von unten“.</p>
<p>Der Respekt (oft auch in Unterwürfigkeit ausufernd) gegenüber dem <em>Staat, der Kirche, der Universität, der eigenen Partei</em>, ist ein Merkmal, das noch die Zweite Republik prägt. Ein schönes Beispiel ist die allgegenwärtige Titelbesessenheit der Österreicher,<sup id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-6-back"><a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-6" class="simple-footnote" title="Es gibt nicht nur um akademische Grade, sondern auch Ingenieurstitel, Amtstitel und Berufstitel, die allesamt umfassend reglementiert sind.">6</a></sup> die ob ihres Anachronismus nur umso gewissenhafter durchgesetzt wird.</p>
<p>Deshalb ist es bemerkenswert, dass die Elitenkritik, die mit dieser Wahl in den politischen Diskurs Einzug gefunden hat, weiter geht als je zuvor – sie umfasst <em>kulturelle, politische, juristische, wirtschaftliche, wissenschaftliche, sportliche, kirchliche</em> Autoritäten und Aushängeschilder, aber auch bloß überdurchnittlich Erfolgreiche.</p>
<p>Ein großer Teil der Österreicher betrachtet diese unterschiedlichen Eliten als <em>homogene Gruppe</em>, bezeichnet sie gerne als „Establishment“, „Systemerhalter“, als Feindbild des „kleinen Mannes“. Zu ihr gehören gleichermaßen linksgerichtete, kellnernde Studenteninnen und Aufsichtsräte, Caritas-Mitarbeiter und Nationalbankangestellte. Der Gegenbegriff des „Volks“ wird spiegelbildlich als Verkörperung einer <em>stolzen Mediokrität</em> entworfen, die ihr Mittelmaß zur Tugend erhebt, und den Ausbruch daraus als feindlichen Akt wertet.</p>
<p>Dieses Weltbild ist sicherlich schlicht und teilweise widersprüchlich; dennoch sollte es nicht bloß als irrational abgetan und außer Acht gelassen werden. Es ist konstitutiv für eine große Gesellschaftsgruppe, die Aufsteiger nicht mehr bewundert und respektiert, vielleicht <em>nicht einmal mehr beneidet</em>, sondern nur noch <em>verachtet</em>.</p>
<p>Zugleich bleibt die österreichische (vielleicht eigentlich universelle) <em>Sehnsucht nach einer Autorität</em>, die Antworten und Handlungsanweisungen gibt, bestehen. Ebendieses Vakuum füllt die FPÖ,<sup id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-7-back"><a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-7" class="simple-footnote" title="Mit anderen wenigen Gruppen, die mit einer nichtelitären Autorität identifiziert werden, wie die Polizei und das Bundesheer.">7</a></sup> die sich nicht wirklich scheut, <em>autoritär</em><sup id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-8-back"><a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-8" class="simple-footnote" title="Das ist vermutlich eine treffendere Bezeichnung der FPÖ-Politik als der inhaltsleere Terminus „populistisch“ oder der nur einen gewissen Teilaspekt erfassende Begriff „rechtsextrem“.">8</a></sup> aufzutreten. Ihre Autorität schöpft sie nicht aus besonderen Qualifikationen, Erfahrung oder Talent, sondern aus der <em>Durchschnittlichkeit selbst</em>.<sup id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-9-back"><a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-9" class="simple-footnote" title="Das ist meines Erachtens auch ein großer Unterschied zur FPÖ von Dr. Jörg Haider, der bloß eine erneuerte Elite etablieren wollte, insbesondere was Wirtschafts- und internationale Kompetenzen betrifft.">9</a></sup></p>
<blockquote>
<p>Die „Autorität der Elite“ wollen Hofer und große Teile seiner Wählerschaft durch „Autorität des Mittelmaßes“ ersetzt sehen. Die Elite soll nicht erneuert, sondern mit einer „Antielite“ in einer autoritären Machtposition ausgetauscht werden.</p>
</blockquote>
<p>Diese Elitenfeindlichkeit ist zugleich Erfolgsrezept und <em>größte Schwäche</em> der FPÖ (und anderer autoritärer Parteien in Europa). Sie behindert jede Kompetenz- und Machtakkumulation, die nur unter tätiger Mithilfe der Eliten erfolgen kann. Der notorische <em>Dilettantismus</em> der FPÖ (Norbert Hofer war diesbezüglich keine Ausnahme) ist nicht ihrer rechtsextremen, jedoch sehr wohl ihrer antielitären Positionierung geschuldet. Ihn abzulegen (zum Beispiel im Rahmen einer hypothetischen Regierungsbeteiligung) wird zu einer ideologischen Zerreißprobe führen müssen, die ungleich stärker als der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Knittelfelder_FP%C3%96-Versammlung_2002">„Knittelfelder Putsch“ von 2002</a> ausfallen wird.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-1">Mit dem das österreichische Volk gänzlich unerfahren ist, sobald das politische Spektrum der Bundespräsidentenwahl nicht mehr von SPÖ und ÖVP dominiert ist. <a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-2">Eigentlich ist die Unterscheidung beider Kategorien ohnehin obsolet; sie beruht nur auf <a href="https://www.wko.at/Content.Node/Service/Arbeitsrecht-und-Sozialrecht/Arbeitsrecht/Beschaeftigungsformen/Arbeiter_und_Angestellte.html">marginal unterschiedlichen rechtlichen Arbeitsverhältnissen</a>. <a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-3">Die Stadt-Land-Spaltung sollte aus diesem Grund jedenfalls nicht bloß <a href="http://derstandard.at/2000037519152/Die-Staedte-ergruenen-das-Land-faerbt-sich-blau">auf eine ökonomische Ebene</a> projiziert werden. <a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-4">Dennoch bezweifle ich, dass der Spruch sich letztlich positiv auf Hofers Wahlergebnis ausgewirkt hat. Er war derartig plump und verletzend, dass er als Weckruf für die Mobilisierung eher dem Gegenlager dienen konnte. <a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-5">Man kann zum Beispiel Maria Theresia, Joseph <span class="caps">II</span>, Franz Joseph, Ignaz Seipel oder Bruno Kreisky erwähnen (vgl. Hanisch, 2005, <em>Der lange Schatten des Staates: Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert</em>) <a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-6">Es gibt nicht nur um akademische Grade, sondern auch <a href="https://www.help.gv.at/Portal.Node/hlpd/public/content/173/Seite.1730000.html">Ingenieurstitel, Amtstitel und Berufstitel</a>, die allesamt umfassend reglementiert sind. <a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-7">Mit anderen wenigen Gruppen, die mit einer <em>nichtelitären Autorität</em> identifiziert werden, wie die Polizei und das Bundesheer. <a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-8">Das ist vermutlich eine treffendere Bezeichnung der FPÖ-Politik als der inhaltsleere Terminus „populistisch“ oder der nur einen gewissen Teilaspekt erfassende Begriff „rechtsextrem“. <a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-9">Das ist meines Erachtens auch ein großer Unterschied zur FPÖ von <em>Dr.</em> Jörg Haider, der bloß eine <em>erneuerte Elite</em> etablieren wollte, insbesondere was Wirtschafts- und internationale Kompetenzen betrifft. <a href="#sf-oesterreich-anatomie-einer-spaltung-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Schiedsgerichte für den Investitionsschutz: Eine Erfindung von TTIP?2016-05-04T00:00:00+02:002016-05-04T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2016-05-04:/posts/2016/05/04/schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip/<p>Es wird oft davon ausgegangen, dass <span class="caps">TTIP</span> die internationale Schiedsgerichtbarkeit für den privaten Investitionsschutz als neuartiges Instrument schaffen würde. Diese Vorstellung ist inkorrekt: Österreich hat seit langem und mit mehreren Staaten Abkommen geschlossen, die derartige Bestimmungen enthalten. Die gegenwärtige Ablehnung der Schiedsgerichtbarkeit findet meines Erachtens ihren Ursprung auch nicht im Prinzip der Überstaatlichkeit, sondern in seiner konkreten Ausgestaltung. In diesem Kontext bleibt nämlich zu klären, wie die Macht der Großkonzerne im Schiedsverfahren eingeschränkt werden kann.</p><p>Nach den <a href="http://derstandard.at/2000036166222/Geleakte-Dokumente-Viel-Laerm-um-TTIP">Greenpeace-Veröffentlichungen</a> wird wieder starke Empörung rund um das <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Transatlantisches_Freihandelsabkommen">Transatlantische Freihandelsabkommen </a> (<span class="caps">TTIP</span>) laut, insbesondere was die Bereiche Landwirtschaft und Konsumentenschutz betrifft. Die Kritik an <span class="caps">TTIP</span>, die in Österreich derzeit auf einen Höhepunkt zusteuert, hat aber eigentlich allgemeinere Ursachen. Sie stößt sich zum einen an der <em>geheimen Verhandlungsprozedur</em> und zum anderen an den <em>Bestimmungen zum Investitionsschutz</em> (Stichwort „Schiedsgerichtbarkeit“).</p>
<p>Ich möchte hier nur auf den zweiten Punkt eingehen,<sup id="sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-1-back"><a href="#sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-1" class="simple-footnote" title="Die Geheimhaltung der Verhandlungen ist ein äußerst komplexes Thema. Auch wenn es für völkerrechtliche Verträge – wie zum Beispiel für das viel gelobte Atomabkommen mit dem Iran – eigentlich selbstverständlich ist, von Regierungen allein ausgehandelt werden, ist es im gegenständlichen Fall sicherlich nicht ideal, ein so tiefgreifendes, auch innenpolitisch hochrelevantes Abkommen im Entstehungsprozess ganz von den Bürgern fernzuhalten, weil das Vertrauen in die Kommission schon stark angeschlagen ist. Es sollte unter anderem für den Rat oder das EU-Parlament möglich sein, der Kommission klare und öffentliche Weisungen für die Verhandlungen zu geben.">1</a></sup> weil meines Erachtens diesbezüglich ein großes Mißverständnis besteht: Es wird meistens davon ausgegangen, dass die <em>internationale Schiedsgerichtbarkeit</em>, die für den privaten Investitionsschutz zwischen <span class="caps">USA</span> und <span class="caps">EU</span> zuständig sein soll, ein <em>neuartiges</em> Instrument sei.</p>
<h2>Schiedsgerichte und Investitionsschutz: Eine lange Geschichte</h2>
<p>Eigentlich sind internationale Schiedsgerichte (wie das <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Internationales_Zentrum_zur_Beilegung_von_Investitionsstreitigkeiten"><span class="caps">ICSID</span></a>) schon seit langem Schlüsselkomponenten <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Investitionsschutzabkommen">bilateraler Investitionsabkommen</a>. Österreich hat mit über <a href="https://www.bmwfw.gv.at/Aussenwirtschaft/investitionspolitik/Seiten/BilateraleInvestitionsschutzabkommen-L%C3%A4nder.aspx">60 Staaten solche Abkommen geschlossen</a>,<sup id="sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-2-back"><a href="#sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-2" class="simple-footnote" title="Seit dem Vertrag von Lissabon ist die Kompetenz, derartige Verträge auszuhandeln, auf die EU übergegangen (Vgl. Reinisch (Hg.) 2013, Österreichisches Handbuch des Völkerrechts Teil I, S. 590).">2</a></sup> und in vielen davon sind Klauseln zur Streitbeilegung zwischen Investoren und Staaten durch Schiedsgerichte enthalten.</p>
<p>Als Beispiel möchte ich das <a href="https://www.bmwfw.gv.at/Aussenwirtschaft/investitionspolitik/Documents/Bilaterale%20Investitionsschutzabkommen/T%C3%BCrkei.pdf">Abkommen mit der Türkei</a>, das 1989 (also vor dem <span class="caps">EU</span>-Beitritt) beschlossen wurde, zitieren:</p>
<blockquote>
<p>„Im Fall einer Investitionsstreitigkeit zwischen einer Vertragspartei und einem Investor […] steht es jeder der Streitparteien frei […] die Meinungsverschiedenheit dem Internationalen Zentrum für die Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zur Beilegung durch ein Vergleichsverfahren oder ein Schiedsverfahren zu unterbreiten.“ (Art. 9, in <span class="caps">BGLB</span> 612/1991)</p>
</blockquote>
<p>Warum hat der österreichische Nationalrat eine solchen Klausel <em>einstimmig</em> angenommen?<sup id="sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-3-back"><a href="#sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-3" class="simple-footnote" title="Es ist äußerst lehrreich, die stenographischen Protokolle der diesbezüglichen Parlamentssitzung (101. Sitzung der XVII. Gesetzgebungsperiode) ausfindig zu machen. Das Investitionsabkommen mit der Türkei wurde nämlich kurioserweise im Plenum nicht einmal debattiert. Es wurde auf Beratung des Außenpolitischen Ausschusses ohne Widerspruch angenommen (vgl. S. 11841). Im Jahr 1989 war also selbst die Haider-FPÖ (Haider war selber im Nationalrat anwesend) mit derartigen Abkommen hochzufrieden.">3</a></sup> Weil die „klassische“ völkerrechtliche Methode der Streitbeilegung (also zuerst über die Gerichtsbarkeit der jeweiligen Länder und danach eventuell international über den <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Diplomatisches_Schutzrecht">diplomatischen Schutz</a>) <em>langsam und zahnlos</em> ist. Vereinfacht gesagt wäre es für ein Land zu leicht, ein internationales Abkommen auszuhebeln, in dem es seine nationalen Gesetze ändert.<sup id="sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-4-back"><a href="#sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-4" class="simple-footnote" title="Vgl. Reinisch (Hg.) 2013, S. 598f.">4</a></sup> Schiedsgerichte erlauben eine unkomplizierte und überparteiliche Lösung solcher Konflikte; sie führen somit zu <em>erheblich erhöhter Rechtssicherheit</em>.</p>
<h2>Die Bevorteilung der Großkonzerne</h2>
<p>Also viel Aufregung um nichts auch bei <span class="caps">TTIP</span>? Nicht ganz. Die aktuelle Debatte dreht sich nämlich zwar vordergründig um die Institution der Schiedsgerichtbarkeit bei Investitionsstreitigkeiten, eigentlich geht es aber um die <em>Übermacht der Großkonzerne</em>, die in den letzten Jahrzehnten (zumindest dem allgemeinen Empfinden nach) stark zugenommen hat und (von europäischer Seite) als besonderes Merkmal der <span class="caps">USA</span> aufgefasst wird. Großkonzerne werden insofern durch die Schiedsgerichtbarkeit gestärkt, dass sie allein juristisch und finanziell für solche Verfahren ausgestattet sind: Sie haben immer <em>viel zu gewinnen</em> und <em>wenig zu verlieren</em>.</p>
<p>Die Diskussion sollte deshalb weniger um das <em>Prinzip</em> der internationalen Schiedsgerichte geführt werden, als vielmehr um den <em>fairen Zugang</em> und die <em>Zusammensetzung</em> der Schiedsgerichte, die nicht zu bloßen Erfüllungsgehilfen der globalen Konzerne werden dürfen. In dieser Hinsicht könnte zum Beispiel die Einführung eine Strafe oder Gebühr<sup id="sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-5-back"><a href="#sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-5" class="simple-footnote" title="Die etwa einen Prozentsatz des Gewinns oder Umsatzes des Unternehmens ausmachen könnte, um große Unternehmen nicht zu bevorzugen.">5</a></sup> bei ungerechtfertigter Anrufung des Schiedsgerichts in Erwägung gezogen werden.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-1">Die Geheimhaltung der Verhandlungen ist ein äußerst komplexes Thema. Auch wenn es für völkerrechtliche Verträge – wie zum Beispiel für das viel gelobte <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Joint_Comprehensive_Plan_of_Action">Atomabkommen mit dem Iran</a> – eigentlich selbstverständlich ist, <a href="https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19690099/index.html#a7">von Regierungen allein</a> ausgehandelt werden, ist es im gegenständlichen Fall sicherlich nicht ideal, ein so tiefgreifendes, auch <em>innenpolitisch hochrelevantes</em> Abkommen im Entstehungsprozess ganz von den Bürgern fernzuhalten, weil das Vertrauen in die Kommission schon stark angeschlagen ist. Es sollte unter anderem für den <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Rat_der_Europ%C3%A4ischen_Union">Rat</a> oder das <span class="caps">EU</span>-Parlament <a href="http://www.europarl.europa.eu/the-president/de/press/press_release_speeches/speeches/speeches-2015/speeches-2015-april/html/the-role-of-parliaments-in-negotiations-on-international-treaties">möglich sein</a>, der Kommission klare und öffentliche Weisungen für die Verhandlungen zu geben. <a href="#sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-2">Seit dem Vertrag von Lissabon ist die Kompetenz, derartige Verträge auszuhandeln, auf die <span class="caps">EU</span> übergegangen (Vgl. Reinisch (Hg.) 2013, <em>Österreichisches Handbuch des Völkerrechts Teil I</em>, S. 590). <a href="#sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-3">Es ist äußerst lehrreich, die <a href="https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XVII/NRSITZ/NRSITZ_00101/index.shtml">stenographischen Protokolle</a> der diesbezüglichen Parlamentssitzung (101. Sitzung der <span class="caps">XVII</span>. Gesetzgebungsperiode) ausfindig zu machen. Das Investitionsabkommen mit der Türkei wurde nämlich kurioserweise <em>im Plenum nicht einmal debattiert</em>. Es wurde auf Beratung des Außenpolitischen Ausschusses <em>ohne Widerspruch angenommen</em> (vgl. S. 11841). Im Jahr 1989 war also selbst die Haider-FPÖ (Haider war selber im Nationalrat anwesend) mit derartigen Abkommen hochzufrieden. <a href="#sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-4">Vgl. Reinisch (Hg.) 2013, S. 598f. <a href="#sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-5">Die etwa einen <em>Prozentsatz</em> des Gewinns oder Umsatzes des Unternehmens ausmachen könnte, um große Unternehmen nicht zu bevorzugen. <a href="#sf-schiedsgerichte-fuer-investitionsschutz-eine-erfindung-von-ttip-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Why humans evolved to produce and spread bad science2016-04-30T00:00:00+02:002016-04-30T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2016-04-30:/why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-en.html<p>A recently published article claims to explain why men evolved to develop deep voices and to show that humans are not “meant to be” monogamous. I argue that the science behind it is deeply flawed, and point out some of the adventurous assumptions and wishful thinking behind it. I conclude with a general reflection on the fascination and shortcomings of evolutionary anthropology.</p><p>The world of science journalism is fascinating but replete with traps. From a number of extravagant press releases, journalists should select the ones that will arouse interest in the general public while at the same time not being completely misleading. <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Evolutionary_anthropology">Evolutionary anthropology</a> is particularly precarious to cover, since it attracts wide interest, but has little access to solid empirical data, is replete with dubious analogies and unwarranted deductions.<sup id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-1-back"><a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-1" class="simple-footnote" title="A striking example in recent history is the article “Humans evolved monogamous relationships to stop men killing rivals’ babies, says study”. The lead author (quite seriously) claims to have definitively explained the appearance of monogamy in humans “This is the first time that the theories for the evolution of monogamy have been systematically tested, conclusively showing that infanticide is the driver of monogamy. This brings to a close the long-running debate about the origin of monogamy in primates.” At the same time, he is unsure when it actually appeared: “We know that human monogamy most probably evolved since the last common ancestor with chimps” (my emphasis). We will meet the miracle of a final explanation for a yet unknown phenomenon again in this post.">1</a></sup></p>
<p>The article <a href="https://www.theguardian.com/science/2016/apr/27/deep-male-voices-evolved-to-intimidate-men-not-attract-women">“Deep male voices evolved to intimidate men, not attract women”</a>, which recently appeared in the Guardian, promises not one, but <em>two</em> major findings:</p>
<blockquote>
<p>“Study suggests that men’s voices evolved through male competition not female mating choices, and might show our ancestors were not made for monogamy” (<a href="https://www.theguardian.com/science/2016/apr/27/deep-male-voices-evolved-to-intimidate-men-not-attract-women">Nicola Davis, The Guardian, April 27, 2016</a>)</p>
</blockquote>
<p>It would be a euphemism to say that the balance between public interest and scientific integrity has <em>not quite</em> been kept in this case. I will try to take the claims made in the article at face value, although the research paper<sup id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-2-back"><a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-2" class="simple-footnote" title="Puts, David A. et al., Sexual selection on male vocal fundamental frequency in humans and other anthropoids, Proc. R. Soc. B 283.1829 (2016).">2</a></sup> does not make them as shamelessly. But since the first author (<a href="http://anth.la.psu.edu/people/dap27">David Puts</a>) was interviewed for it and is certainly more than happy with the coverage, I think it is fair to proceed in that way.</p>
<h2>“Men’s voices evolved through male competition”</h2>
<p>It is easy to overlook just <em>how bold</em> such a claim is. If it were true, it would mean that there exists an <em>empirical method</em> to conclusively access the <em>causes</em> responsible for the emergence of a very specific human feature. Keeping this in mind, let us investigate how one could possibly get there.</p>
<p>First, we should think a little about what “emergence of a specific human feature” actually means. As we know, <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Evolution">natural evolution</a>, is a continuous phenomenon, driven by permanent mutations and selection. Delimiting and explaining a <em>specific evolutionary change</em> means knowing <em>three things</em>:</p>
<ol>
<li>What was there <em>before</em> (a primate we evolved from and which had another type of male voice)</li>
<li>What is there <em>afterwards</em> (humans and the specificities of the males’ voices)</li>
<li>Which <em>factors were driving the transition</em> from one state to the other (environmental, sexual, social, factors favouring the current deep voices).</li>
</ol>
<p>Curiously, the <a href="http://rspb.royalsocietypublishing.org/content/283/1829/20152830.full">study in question</a> claims to address both last points without any knowledge of the first one, to identify the causes of <em>some change</em>, without having any idea of <em>what</em> that change actually was.<sup id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-3-back"><a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-3" class="simple-footnote" title="For instance, it makes a big difference whether humans evolved from a preceding species with comparatively (i) equally deep male voices, (ii) deeper male voices or (iii) higher male voices. Only in the last case does it make sense to look for cause of men’s “deep” voices; otherwise we should rather look for the cause of men’s “high” voices!">3</a></sup></p>
<p>We can try to believe such an epistemological miracle for a second. How did the study uncover the driving forces behind male’s deep voices? By having a <em>bunch of 19-year-old American kids assess voice recordings of a bunch of 20-year-old American kids</em>.<sup id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-4-back"><a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-4" class="simple-footnote" title="To be specific: “Two hundred and fifty-eight female (mean age\(\pm\)s.d. 20.0\(\pm\)1.6 years) and 175 male (20.1\(\pm\)1.7 years) students from Michigan State University” were recorded and subsequently “rated by 558 female (19.1\(\pm\)2.4 years) and 568 male (19.4\(\pm\)1.8 years) students from Pennsylvania State University.” To be fair, the sample could have been even less representative: both groups could have been chosen from the same university.">4</a></sup></p>
<p>Unfortunately, quite a few stunning extrapolations are still necessary to conclude anything about the evolution of men’s voices from this dataset:</p>
<ol>
<li>The group of young students from Pennsylvania State University is a <em>good sample</em> as far as judging male voices is concerned. (In particular, this requires that worldwide, there be no relevant age, social or ethnic differences in this respect.)</li>
<li>The outside assessment of the male voice can be a <em>good indicator</em> for an actual effect on offspring. (Meaning that there is currently an evolutionary pressure towards lower voices for men and that it manifests itself in other people’s judgements.)</li>
<li>This pressure is the <em>main</em> one influencing the male voice’s pitch.</li>
<li>The <em>current</em> evolutionary pressure can simply be <em>extrapolated back arbitrarily in time</em> and therefore explains how deep male voices evolved. (This is probably the most extravagant assumption, considering how unique the current environment of humans is and how drastically it has changed in only a few centuries.)</li>
</ol>
<p>This is certainly bad enough, but we’re not yet there. Let us now examine which parameters were ascertained in the study. Three of them are mentioned in the <a href="http://rspb.royalsocietypublishing.org/content/283/1829/20152830.full">paper</a>: short-term and long-term <em>attractiveness</em> (for heterosexual women assessing men) and <em>perceived dominance</em> (for heterosexual men listening to men). It turns out that all three parameters correlate positively with a deeper male voice but only the level of perceived dominance (by other men) is a good predictor for the depth of the male voice. Now <em>two quite common logical fallacies</em> have to be combined to (at last!) be able to make the claim that “men’s voices evolved through male competition”:</p>
<ol>
<li>The <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/False_dilemma">false dilemma</a>: Either it is attractiveness (with respect to women) or dominance (with respect to men) which is the decisive predictor for the pitch of male voices; since the latter is better than the former, it is the correct and only one. <em>But what about the innumerable other (disregarded) parameters, which might predict even better the frequency of a male’s voice?</em></li>
<li>The <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Post_hoc_ergo_propter_hoc">fallacy of causation</a>: Because men perceive other men with lower voices as more dominant (correlation), lower voices actually give an edge in competing with other men (causation). <em>But why believe that the voice is the key causal factor and not that there is some common cause influencing dominance and the pitch of the voice</em>?</li>
</ol>
<p>What a ride, through logical fallacies and a string of improbable extrapolations. But in the end we did manage to explain <em>something</em>, not that we actually know <em>what</em>. Of course, this should not stop us from pushing for a sensationalistic newspaper.<sup id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-5-back"><a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-5" class="simple-footnote" title="The paper also contains a study connecting the levels of testosterone and cortisol in men to deep voices, which is reasonably interesting in itself. However, it provides no support whatsoever for the thesis that deep voices were selected through male competition.">5</a></sup></p>
<h2>“Our ancestors were not made for monogamy”</h2>
<p>I will be succinct in analysing the second claim, since I have already wasted too much of your time pointing out the details of the adventurous path leading to the first one. </p>
<p>What should surprise you here is certainly the concept of humans being “made for” something. This type of claim is simply <em>fantastic</em>. It assumes that humans have a (biological) purpose, something that is usually called <em><a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Teleology">teleology</a></em> and which just does not make any sense in the framework of the evolution. What could be the purpose of a species that is evolving into another one? Is it to behave like its <em>ancestors did</em>, like its <em>successors will</em> or just <em>like it currently does</em>?<sup id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-6-back"><a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-6" class="simple-footnote" title="In this case, it would simply be a descriptive concept, and as such humans would be made for monogamy simply if they are monogamous.">6</a></sup> It should be quite clear that the question can have no meaningful answer and therefore should not be have been asked in the first place.</p>
<p>Leaving this insoluble issue aside, let us turn to the data behind the claim that humans were not “made” for monogamy. It is simply a correlation graph between the ratio of the male voice’s frequency to the female voice’s frequency (lower numbers indicating a relatively deeper male voice) and the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Animal_sexual_behaviour">mating system</a> (<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Polygyny_in_animals">polygynous</a>, <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Promiscuity#Other_animals">promiscuous</a>, <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Monogamy_in_animals">monogamous</a>), for 23 primate species. You can judge the spread of the results for yourself:
<img alt="Ratio of the male voice's frequency to the female voice's frequency compared to the mating system for 23 primate species." src="https://noctulog.net/images/frequency-mating.png"></p>
<p>Since obviously little can be derived from this data, the authors chose to <em>simply exclude the category of promiscuous primates</em> and plot an “adjusted” (for body mass) frequency ratio against some sort of unclearly quantified mating system. After an adventurous fit, humans finally appear the polygynous side of the graph.<sup id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-7-back"><a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-7" class="simple-footnote" title="Although it is not clear why humans are not exactly on the fit line itself, since there is no independent data for their mating system.">7</a></sup> If we now simply extrapolate the current frequency ratio back to “the” past, and we are done.</p>
<p><img alt="Ratio of the male voice's frequency to the female voice's, “adjusted” and fitted to an “adjusted” quantification of mating system." src="https://noctulog.net/images/frequency-mating-adjusted.png"></p>
<p>But are we really? The inconvenient thing about this reasoning is that there <em>is</em> actual independent data about humans’ mating system, and it is <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Mating_system#In_humans">very far from being consistently polygynous</a>. So the dodgy correlation with the pitch of the male voice, which predicted that humans are likely to be polygynous, <em>simply failed</em>. Hence, it would be wise to avoid the fallacy of exhaustive hypotheses and to consider the many other factors that seem at least as relevant in revealing the mating system.<sup id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-8-back"><a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-8" class="simple-footnote" title="To name only two of them: social structure or gestation period.">8</a></sup></p>
<p>However, the authors—not the least preoccupied by this setback—affirm that the correlation <em>must</em> have been correct <em>at some point</em> in the past, concluding that our ancestors<sup id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-9-back"><a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-9" class="simple-footnote" title="Again, we do not really know which ancestors of humans are supposed to be polygynous, but at this point—who cares?">9</a></sup> practised (and therefore humans are “made for”) polygyny.</p>
<h2>The fascination with evolutionary anthropology</h2>
<p>One question remains: Why are such misleading articles published and why do they receive significant—and even more misleading—media attention?<sup id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-10-back"><a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-10" class="simple-footnote" title="If I had to find some positive aspect in this parody of science communication, it could only be that physics does not yet go as far as biology in bullsh deceiving the public.">10</a></sup> I think it is because they purport to answer the age-old philosophical questions: <em>Who are we?</em> How does our elaborated social system (<em>culture</em>) relate to the way other animals and plants interact (<em>nature</em>)?</p>
<p>Evolutionary anthropology often seeks to give an answer by <em>reducing</em> culture to <em>purely biological</em> characteristics that also exist for other animals (like the frequency of the male voice in the study at hand). The idea is to look for the “real”, animal nature of humans, <em>stripped of its complex cultural components</em>.</p>
<p>This is clearly a terrible idea, since the unique social abilities<sup id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-11-back"><a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-11" class="simple-footnote" title="Which themselves, of course, result from our biological characteristics as highly adaptable animals, capable of a multitude of social interactions.">11</a></sup> of humans are an essential part of their nature, and itself a key driving force behind their (past and present) evolution. It would be silly to study the “real” nature of an ant, isolating it from the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Ant_colony">ant colony</a>; how much sillier is it to study the “real” human nature isolated from our unique social structures!</p>
<p>If evolution is to be taken seriously, the complex human interactions which have emerged over the last thousands of years have to be considered <em>as one of its elementary constituents</em>.<sup id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-12-back"><a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-12" class="simple-footnote" title="The field of sociobiology follows this precept, but usually fails to acknowledge the relevance of non-genetic inheritance and selection (which is quite obvious for techniques such as reading and writing) of social traits.">12</a></sup> Some human features just cannot be reduced to genetic characteristics (reading and writing, religion, sports, etc.), yet they way they are inherited and selected is very much the same as for individual genetic traits.</p>
<p>The question: “are humans made for <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Social_monogamy_in_mammalian_species">(social) monogamy</a>?” can only be answered in the same way as: “are humans made for reading and writing?” On a genetic level, <em>they have demonstrated the potential for both</em>, on a social level, most of humanity <em>has evolved to adopt both</em>. And, of course, the status of these cultural practices is not set in stone—evolution never rests. In any case, I hope that our current fascination with useless science is not evolution’s last word.</p>
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</script><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-1">A striking example in recent history is the article <a href="http://www.independent.co.uk/news/science/humans-evolved-monogamous-relationships-to-stop-men-killing-rivals-babies-says-study-8737095.html">“Humans evolved monogamous relationships to stop men killing rivals’ babies, says study”</a>. The lead author (quite seriously) claims to have <em>definitively explained</em> the appearance of monogamy in humans “This is the first time that the theories for the evolution of monogamy have been systematically tested, conclusively showing that infanticide is the driver of monogamy. This brings to a close the long-running debate about the origin of monogamy in primates.” At the same time, he is unsure <em>when</em> it actually appeared: “We know that human monogamy <em>most probably</em> evolved since the last common ancestor with chimps” (my emphasis). We will meet the miracle of a <em>final explanation</em> for a <em>yet unknown phenomenon</em> again in this post. <a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-2">Puts, David A. et al., <a href="http://rspb.royalsocietypublishing.org/content/283/1829/20152830.full">Sexual selection on male vocal fundamental frequency in humans and other anthropoids</a>, Proc. R. Soc. B 283.1829 (2016). <a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-3">For instance, it makes a big difference whether humans evolved from a preceding species with comparatively (i) equally deep male voices, (ii) deeper male voices or (iii) higher male voices. Only in the last case does it make sense to look for cause of men’s “deep” voices; otherwise we should rather look for the cause of men’s “high” voices! <a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-4">To be specific: “Two hundred and fifty-eight female (mean age<span class="math">\(\pm\)</span>s.d. 20.0<span class="math">\(\pm\)</span>1.6 years) and 175 male (20.1<span class="math">\(\pm\)</span>1.7 years) students from Michigan State University” were recorded and subsequently “rated by 558 female (19.1<span class="math">\(\pm\)</span>2.4 years) and 568 male (19.4<span class="math">\(\pm\)</span>1.8 years) students from Pennsylvania State University.” To be fair, the sample could have been even less representative: both groups could have been chosen from the same university. <a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-5">The paper also contains a study connecting the levels of <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Testosterone">testosterone</a> and <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Cortisol">cortisol</a> in men to deep voices, which is reasonably interesting in itself. However, it provides no support whatsoever for the thesis that deep voices were selected through male competition. <a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-6">In this case, it would simply be a <em>descriptive</em> concept, and as such humans would be <em>made for</em> monogamy simply if they <em>are</em> monogamous. <a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-7">Although it is not clear why humans are not exactly <em>on the fit line itself</em>, since there is no independent data for their mating system. <a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-7-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-8">To name only two of them: social structure or <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Gestation_period">gestation period</a>. <a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-8-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-9">Again, we do not really know <em>which</em> ancestors of humans are supposed to be polygynous, but at this point—who cares? <a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-9-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-10">If I had to find some positive aspect in this parody of science communication, it could only be that physics does not yet go as far as biology in <s>bullsh</s> deceiving the public. <a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-10-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-11">Which themselves, of course, result from our biological characteristics as highly adaptable animals, capable of a multitude of social interactions. <a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-11-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-12">The field of <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Sociobiology">sociobiology</a> follows this precept, but usually fails to acknowledge the relevance of <em>non-genetic inheritance and selection</em> (which is quite obvious for techniques such as reading and writing) of social traits. <a href="#sf-why-humans-evolved-to-produce-and-spread-bad-science-12-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Assessing science: apples, oranges and the necessary evil of comparing them2016-04-18T00:00:00+02:002016-04-18T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2016-04-18:/assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-en.html<p>There is a growing consensus that bibliometry in general and the value given to “high impact journals” in particular has a deleterious influence on physics. While I agree with this appraisal, I contend that the origin of the problem lies deeper than usually acknowledged: in the necessity for society to assess the value of scientific contributions from different fields. I argue that this task has no satisfactory solution, and inevitably introduces a waste of scientific resources.</p><p>The dominant paradigm of assessing (natural) sciences, and in particular physics, is simple and seemingly adequate. It is based upon the successful dissemination of scientific contributions <em>in the relevant scientific community</em>. The more other experts care about a <em>result</em> (by reviewing and accepting it, citing it, etc.) the more value it is assigned to. The “scientific value” of a given <em>scientist</em> is then calculated by taking all of his or her results into account.</p>
<p>This approach makes a lot of sense. In particular, it eliminates sources of prejudice by judging the <em>results</em> and not the <em>author</em> first. However, a number of issues with the process have appeared and increasingly gained virulence over the last decades. </p>
<h2>What is wrong in physics: a consensus</h2>
<p>The problems are perfectly summarised in a <a href="http://www.iqoqi-vienna.at/why-we-should-not-think-of-prl-and-nature-as-the-top-journals-in-physics/">recent blog post by Reinhard F. Werner</a> and a slightly <a href="[http://www.aps.org/publications/apsnews/201411/backpage.cfm]">older article by Carlton M. Caves</a>. Their three main points are:</p>
<ol>
<li>Using the <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Impact_factor">average impact factor of the journal</a> to assess a paper (and its authors) makes no sense. </li>
<li>The time and money spent on publishing in “high impact journals” and bibliometry-optimisation in general does nothing for science, but it is rewarded by funding and status. </li>
<li>Although the cost of publishing is entirely borne by public funds (through subscriptions, article fees and free peer review), the large profits are often privatised (by giant companies such as <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Elsevier">Elsevier</a> and <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Springer_Nature">Springer Nature</a>)</li>
</ol>
<p>These ideas are now commonplace throughout the echelons of the scientific community and I find myself wholeheartedly agreeing with them. </p>
<p>I believe that the last point has a special status in that it <em>is relatively easily addressed</em>. New publishers (owned by (semi)governmental or non-profit organisations), preprint repositories and <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Open-access_mandate">mandatory open-access policies</a> for publicly funded science can realistically contribute to a breakdown of the publishing oligopoly and its <a href="https://libraries.mit.edu/scholarly/mit-open-access/open-access-at-mit/mit-open-access-policy/publishers-and-the-mit-faculty-open-access-policy/elsevier-fact-sheet/">indecent profit margins</a>. I am quite optimistic that this will happen within the next decades.</p>
<p>However, why is no change in sight regarding the first two points? I will contend that they are the consequences of a problem running much deeper than usually recognised and which will inevitably persist, in some form or other.</p>
<h2>The underlying problem: allocating resources</h2>
<p>The very nature of science makes it unintelligible to an overwhelming majority of people—even scientists are knowledgeable about only a single field. Yet, it is usually provided for by public institutions.<sup id="sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-1-back"><a href="#sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-1" class="simple-footnote" title="Which makes sense, since scientific knowledge is a public good, which is all but impossible to produce and allocate using a market mechanism.">1</a></sup> This leads to the <em>basic dilemma of science politics</em>: why, and more importantly, <em>how</em> should subjects that nobody understands be funded? </p>
<blockquote>
<p>The basic dilemma of science politics: how can a field that nobody understands be funded?</p>
</blockquote>
<p>Let us assume that a more or less fixed <em>global budget</em> for science has already been decided upon (which is a problem in itself). Then the question breaks down into two components:</p>
<ol>
<li>How can <em>quality control</em> be enforced? How to make sure that money is not wasted on outdated science and pseudoscience?</li>
<li>What should <em>allocation of resources</em> be? Which fields should be awarded more, which ones less money?</li>
</ol>
<p>Let me begin with quality control—the assessment of the quality of scientists <em>within a field</em>. For this task, one can use those scientists within the field <em>who are not being assessed</em> (and who ideally have no interest in the outcome of the evaluation other than the advancement of science). This is usually done by internationalising local and national quality control, for instance through an <em>internationalisation of publishing</em> and some form or other of <em>intra-field bibliometry</em> (with respect to these international journals) to assess scientific quality. Another policy associated with intra-field quality control is <em>forced mobility</em>, which ensures that the local scientific level is in tune with the global standard. There would be a number of problems to discuss in this context, but they do not directly relate to the issues Werner addresses. </p>
<p>This brings me to the issue of resource allocation <em>between fields</em>, which I believe is even more important to understand the status of bibliometry in evaluating contemporary science. Funding bodies are forced to compare different fields with no common language nor common standards. Crucially, they <em>cannot trust experts anymore</em>, because any expert would inevitably be biased towards his or her own field.<sup id="sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-2-back"><a href="#sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-2" class="simple-footnote" title="A recent example of this phenomenon is the “Quantum Manifesto”. This shameless lobbying operation to promote funding for quantum information shows how little objectivity can be expected from scientists when their own funding is at stake.">2</a></sup> Therefore, there has to be some sort of <em>global benchmark</em>, which is currently provided for by <em>multidisciplinary journals</em> (Nature, Science, <span class="caps">PNAS</span>, but on another level also <span class="caps">PRL</span> or Nature Physics), opening the door to <em>interdisciplinary bibliometry</em> including rating criteria such as the dreaded journal impact factor.</p>
<blockquote>
<p>How to decide whether to invest money in developing, say, quantum computers or drugs on cancer? Any tentatively objective benchmark to answer this question can only be highly imperfect, and will tend to result in a waste of scientific resources.</p>
</blockquote>
<p>Werner clearly shows why, <em>from the point of view of each scientific field</em>, assessing scientists using these external benchmarks appears ridiculous. However, this is the case for <em>any</em> exogenous benchmark! Apples simply cannot properly be compared to oranges; neither can the prospect of a functioning quantum computer be compared to the prospect of a cure for cancer. These are <em>value judgements</em>.</p>
<p>Multidisciplinary journals embody some form of value judgement that is highly imperfect and objective only in appearance. Yet, since resources allocated to science are limited, such judgements <em>have to be made</em>. They inevitably come at the cost of terms of misallocating scientific resources, since they impose the same <em>uniform, ill adapted standards</em> on each field.<sup id="sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-3-back"><a href="#sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-3" class="simple-footnote" title="Werner summarised the influence of these criteria on science forcefully: “When we believe that we will be judged by silly criteria we will adapt and behave in silly ways.” Unfortunately, I see no way to eliminate the criteria’s “silliness” altogether.">3</a></sup></p>
<h2>Is there really no way out?</h2>
<p>I would personally advocate to just put up with the fact that the organisation of any scientific field necessarily depends on exogenous factors, which in turn leads to irrational behaviour and a waste of resources.</p>
<p>This being said, I also believe that the deleterious effects of resource allocation can at least be <em>contained</em>. One possibility would be to reduce the level of competition in and between fields, by <em>increasing science funding as a whole</em>. For instance, the more physicists have a stable position and funding, the more will probably spend time on doing actual physics rather than on marketing for high impact journals. If there has to be some sort of “science lobbying”, I would therefore support lobbying not for one’s own field but rather for science funding in general.<sup id="sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-4-back"><a href="#sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-4" class="simple-footnote" title="I am well aware that there is no general and sharp criterion to determine what “science” is, but this is another issue altogether.">4</a></sup></p>
<p>Conversely, <em>reducing the number scientists in a field</em>, while maintaining its budget constant, would have a similar effect: less competition for funds and prestige, resulting in an alleviated pressure. Maybe—to conclude on a slightly controversial note—such a downsizing would even result in an <em>overall increase</em> of scientific output. More scientists do not always make for better science…</p>
<p><strong>Addendum 1 (April 19, 2016):</strong> I would like to thank <a href="https://pienaarspace.wordpress.com/">Jacques Pienaar</a> for reading and commenting on a draft of this post. He suggested that resources should be allocated by a government think thank including experts in philosophy of science, politics, economics, etc. I agree that this would constitute an improvement over the current situation, in particular because it would highlight that science funding is in essence a <em>matter of policy choices</em>. However, the criteria used by such a body would still be <em>exogenous</em> to each field and induce wasteful behaviour akin to what we presently witness.<sup id="sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-5-back"><a href="#sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-5" class="simple-footnote" title="For example, suppose that a funding body would like to fund scientific contributions according to their potential, long-term, “benefits for society” (which is really the case in Australia, as Miguel Navascués pointed out to me). It is easy to imagine how such a constraint would undermine the quality of research in foundational physics.">5</a></sup></p>
<p><strong>Addendum 2 (April 21, 2016):</strong> I might not have been very clear about two points. First, I use “field” to refer to an area of scientific research that is (reasonably well) independent from other areas. As such, I would consider physics as a <em>collection of fields</em> such as quantum information, mathematical physics, computational physics, aerosol physics, and so on.<sup id="sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-6-back"><a href="#sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-6" class="simple-footnote" title="This is also why I would consider PRL to be a multidisciplinary journal.">6</a></sup> Second, I do not argue that multidisciplinary journals are the <em>only</em> tool used to allocate funds, nor that they are particularly good at informing funding choices. I merely pointed out that they are <em>essential</em> to understand how science funding (to name just a few examples: the <span class="caps">ERC</span>; Horizon 2020; the way faculty positions are created and awarded) presently works and that replacing them with something else will not get rid of the underlying competition for resources.</p>
<p><strong>Addendum 3 (August 31, 2016):</strong> I recently stumbled upon an interesting example of how important interdisciplinary journals are in the media and politics: The <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Academic_Ranking_of_World_Universities">“Shanghai ranking”</a>, which is one of the most ridiculous assessments of universities that can possibly be conceived, and yet receives massive—and uncritical—coverage. It relies, for 20% of the score, on the <em>number (!) of papers published in Nature or Science</em>. Sadly, this is not even the most inane criterion used for the ranking.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-1">Which makes sense, since scientific knowledge is a <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Public_good">public good</a>, which is all but impossible to produce and allocate using a market mechanism. <a href="#sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-2">A recent example of this phenomenon is the “<a href="http://qurope.eu/manifesto">Quantum Manifesto</a>”. This shameless lobbying operation to promote funding for <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Quantum_information">quantum information</a> shows how little objectivity can be expected from scientists when their own funding is at stake. <a href="#sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-3">Werner <a href="http://www.nature.com/news/the-focus-on-bibliometrics-makes-papers-less-useful-1.16706">summarised the influence of these criteria on science forcefully</a>: “When we believe that we will be judged by silly criteria we will adapt and behave in silly ways.” Unfortunately, I see no way to eliminate the criteria’s “silliness” altogether. <a href="#sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-4">I am well aware that there is no general and sharp criterion to determine what “science” is, but this is another issue altogether. <a href="#sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-5">For example, suppose that a funding body would like to fund scientific contributions according to their potential, long-term, “benefits for society” (which is really the case in <a href="http://www.arc.gov.au/future-fellowships">Australia</a>, as Miguel Navascués pointed out to me). It is easy to imagine how such a constraint would undermine the quality of research in foundational physics. <a href="#sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-6">This is also why I would consider <span class="caps">PRL</span> to be a multidisciplinary journal. <a href="#sf-assessing-science-apples-oranges-and-the-necessary-evil-of-comparing-them-6-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>„Brüssel“ – ein externer Monolith?2016-03-01T00:00:00+01:002016-03-01T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2016-03-01:/posts/2016/03/01/bruessel-ein-externer-monolith/<p>Die Kritik der Europäischen Kommission an Österreichs Flüchtlingspolitik wurde – auch von der „Qualitätspresse“ – zum Match „Österreich vs. <span class="caps">EU</span>“ stilisiert. Die fehlgeleitete Wahrnehmung der <span class="caps">EU</span> als externer, omnipotenter Monolith wird dadurch verschärft.</p><p>Die letzten Wochen waren für Österreichs Europapolitik recht turbulent. Nach dem abrupten <a href="http://derstandard.at/2000029367898/60-000-Asylantraege-aus-dem-Vorjahr-noch-unbearbeitet">Kurswechsel der Regierung in Richtung „Obergrenze“ für Flüchtlinge</a> sorgte die Durchsetzung dieses Beschlusses für Wortgefechte mit europäischen Institutionen und anderen Ländern. Die medial zur mittleren Tragödie stilisierte Kritik an Österreich von Teilen der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Kommission"><span class="caps">EU</span>-Kommission</a> zeigt die Unzulänglichkeiten der <span class="caps">EU</span>-Berichterstattung der österreichischen Medienlandschaft wieder besonders deutlich auf.</p>
<p>Das Problem ist nicht nur, dass „die <span class="caps">EU</span>“ oder „Brüssel“ als Oberbegriff für alle Organisationen und Personen, die auf <span class="caps">EU</span>-Ebene agieren, verwendet wird, wodurch das institutionelle Gefüge der <span class="caps">EU</span> ausblendet wird. Erschwerend kommt hinzu, dass die – in diesem Fall inexistenten – Konsequenzen des „<span class="caps">EU</span>-Briefs“ (und dessen <em>rechtlicher Status</em>) komplett verschleiert werden.</p>
<p>Von der <a href="http://www.heute.at/news/politik/Asyl-Obergrenze-Oesterreich-verstoesst-gegen-EU-Recht;art23660,1259758">Boulevard-</a> und <a href="http://www.oe24.at/oesterreich/politik/EU-will-uns-Obergrenze-verbieten/224775150">Subboulevardpresse</a> ist nicht mehr zu erwarten; an die österreichische „Qualitätspresse“ würde man derartige Ansprüche noch gerne richten. Leider konnte man nach der Kritik des <span class="caps">EU</span>-Migrationskommissars <a href="http://ec.europa.eu/commission/2014-2019/avramopoulos_en">Avramopoulos</a> in der <em>Presse</em> lesen „<a href="http://diepresse.com/home/politik/eu/4928557/EU_Osterreich-bricht-mit-Obergrenzen-Recht"><span class="caps">EU</span>: Österreich bricht mit Obergrenzen Recht</a>“; im <em>Standard</em> gar „<span class="caps">EU</span> zerlegt Österreichs Obergrenze“.<sup id="sf-bruessel-ein-externer-monolith-1-back"><a href="#sf-bruessel-ein-externer-monolith-1" class="simple-footnote" title="Vgl. Der Standard, 19.02.2016, S. 4.">1</a></sup></p>
<blockquote>
<p>Es wird der Eindruck vermittelt, die Obergrenze sei vom Europäischen Gerichtshof zurückgewiesen worden. </p>
</blockquote>
<p>Unbedarfte (Schlagzeilen)Leser (diese sind, was <span class="caps">EU</span>-Politik betrifft, deutlich in der Mehrheit) bekommen den Eindruck, es handle sich um einen Österreich unmittelbar betreffenden Beschluss, und nicht um den <em>absolut unverbindlichen</em> Standpunkt eines „<span class="caps">EU</span>-Regierungsmitglieds“. Auch wer mit der institutionellen Struktur der <span class="caps">EU</span> vertraut ist, würde zunächst vermuten, es handle sich um eine <em>rechtlich bindende</em> Entscheidung – die Obergrenze sei vom <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ischer_Gerichtshof">Europäischen Gerichtshof</a> zurückgewiesen oder zumindest ein <a href="http://ec.europa.eu/atwork/applying-eu-law/infringements-proceedings/index_de.htm">Verfahren für Vertragsverletzung</a> von der Kommission eingeleitet worden. Jedoch trifft auch das nicht zu.<sup id="sf-bruessel-ein-externer-monolith-2-back"><a href="#sf-bruessel-ein-externer-monolith-2" class="simple-footnote" title="Der erste Schritt eines solchen Verfahrens, das „Aufforderungsschreiben“ wurde zum Beispiel gegen Deutschland wegen des Mindestlohns im Verkehrssektor eingeleitet. Er wird auch offiziell verlautbart.">2</a></sup></p>
<p>Eine derartige Vereinfachung und Verzerrung ist keinesfalls durch die notwendige Prägnanz zu rechtfertigen. Die einfache Schlagzeile: „<span class="caps">EU</span>-Kommissar hält Obergrenze für illegal“ hätte die Sache korrekt auf den Punkt gebracht. Es ist auch unwahrscheinlich, dass sie auf die Ignoranz der jeweiligen <span class="caps">EU</span>-Korrespondenten zurückzuführen sei. Vielmehr scheint es sich um eine bewusst in Kauf genommene <em>mediale Zuspitzung</em> zu handeln. Der implizierte Schlagabtausch „Österreich vs. <span class="caps">EU</span>“ (die <em>Presse</em> hier wohl aufseiten Österreichs, der <em>Standard</em> aufseiten der <span class="caps">EU</span>) bringt sicherlich mehr Klicks und Werbeeinnahmen als „<span class="caps">EU</span>-Kommissar mit österreichischer Regierung unzufrieden“.</p>
<blockquote>
<p>Die <span class="caps">EU</span> wird als externer Monolith unbegrenzter Macht dargestellt, der den Nationalstaaten gegenüber steht. Daraus ergibt sich das falsche Dilemma „Österreich oder <span class="caps">EU</span>?“.</p>
</blockquote>
<p>Die perversen Folgen dieser <span class="caps">EU</span>-Berichterstattung sind nicht zu unterschätzen. Sie kultiviert das Bild eines einheitlichen, externen Akteurs mit scheinbar <em>unbegrenzter Macht</em>, der den Nationalstaaten gegenüber steht. Unterstützer der Obergrenze werden einen externen Angriff aus „Brüssel“ vernehmen, dem das <em>kleine Österreich</em> möglichst „standhaft“ gegenüberstehen soll – wenn nötig mit dem <span class="caps">EU</span>-Austritt. Kritiker der Obergrenze werden den – ebenso unbegründeten – Eindruck bekommen, dass nur ein äußerer Eingriff die liberale Rechtsstaatlichkeit Österreichs noch garantieren kann.</p>
<p>In der Realität ist die <span class="caps">EU</span> – sie war es schon zum Zeitpunkt des Beitritts 1995 – eine (komplexe) zusätzliche politische Ebene wie es schon Bund, Länder und Gemeinden in Österreich sind. Die Innenpolitik ist mit der <span class="caps">EU</span>-Politik ebenso verzahnt wie die Landespolitik mit der Bundespolitik; die nationale Rechtsprechung nicht mehr gesondert von der <span class="caps">EU</span>-Judikatur zu verstehen. </p>
<p>Genauso wie es auf Bundesebene möglich und üblich ist, Standpunkte <em>einzelnen Politikern</em> (und nicht bloß „Wien“) zuzuordnen, sollte es deshalb auch auf <span class="caps">EU</span>-Ebene selbstverständlich sein, <em>einzelnen Akteuren</em> beizupflichten und zu kritisieren.</p>
<blockquote>
<p>Ganz gleich welchen Standpunkt das österreichische Volk zur <span class="caps">EU</span> einnehmen möchte – bedingungslose Zufriedenheit, konstruktive Kritik oder grundlegende Ablehnung – er sollte nicht Ausdruck bloßen Unwissens sein.</p>
</blockquote>
<p>Durch die Einhaltung <em>grundlegender Qualitätsstandards</em> – in dem das institutionelle Gefüge der <span class="caps">EU</span> nicht als mysteriöser Hegemon karikiert wird – können Medien diese Auseinandersetzung unterstützen. Ganz gleich welchen Standpunkt das österreichische Volk zur <span class="caps">EU</span>-Mitgliedschaft einnehmen möchte – bedingungslose Zufriedenheit, konstruktive Kritik und grundlegende Ablehnung sind <em>alle vertretbar</em> – er sollte nicht Ausdruck bloßen Unwissens sein. Das viel zitierte <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratiedefizit_der_Europ%C3%A4ischen_Union">Demokratiedefizit der <span class="caps">EU</span></a> wird sonst nur unnötig verschärft.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-bruessel-ein-externer-monolith-1">Vgl. <em>Der Standard</em>, 19.02.2016, S. 4. <a href="#sf-bruessel-ein-externer-monolith-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-bruessel-ein-externer-monolith-2">Der <em>erste Schritt</em> eines solchen Verfahrens, das „Aufforderungsschreiben“ wurde zum Beispiel gegen Deutschland wegen des Mindestlohns im Verkehrssektor eingeleitet. Er wird auch offiziell <a href="http://europa.eu/rapid/press-release_IP-15-5003_de.htm">verlautbart</a>. <a href="#sf-bruessel-ein-externer-monolith-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Ortner: Maîtresse der Mediokrität2016-01-16T00:00:00+01:002016-01-16T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2016-01-16:/posts/2016/01/16/ortner-maitresse-der-mediokritaet/<p>Der schwierige Versuch, alle Halb- und Unwahrheiten in Christian Ortners „<a href="http://www.wienerzeitung.at/meinungen/gastkommentare/788464_Matresse-des-Terrors.html">Maîtresse des Terrors</a>“ richtigzustellen.</p><p>Christian Ortner muss, wie auch <a href="http://www.wienerzeitung.at/meinungen/gastkommentare/">andere Kolumnisten</a>, in der <em>Wiener Zeitung</em> jede Woche einen Text vorlegen, auch wenn das Material dafür augenscheinlich fehlt. Das führt natürlich zur einen oder anderen sinnfreien und rein ideologischen Kolumne. Darüber liest der geübte Leser österreichischer Tageszeitungen leicht hinweg.</p>
<p>Eine derart atemberaubende und zugleich präpotente Ignoranz, wie sie Ortner zuletzt in <a href="http://www.wienerzeitung.at/meinungen/gastkommentare/788464_Matresse-des-Terrors.html">Bezug auf französische Geschichte und Außenpolitik an den Tag gelegt hat</a>, ist dann auch für den anspruchslosesten Leser zu viel.</p>
<p>Die einzig sinnvolle Aussage am gesamten Kommentar ist die eingangs formulierte Trivialität: Frankreich pflegt enge Beziehungen zu Katar, und Katar spielt, was den <span class="caps">IS</span> anbelangt, eine nicht unbedingt positive Rolle. Leider verschweigt Ortner eine andere Banalität: Dasselbe gilt natürlich genauso für andere europäische Staaten. Auch <a href="https://www.tagesschau.de/ausland/deutsche-ruestungsexporte-saudi-arabien-101.html">Deutschlands</a> und <a href="http://www.independent.co.uk/news/uk/politics/uk-has-sold-56bn-of-military-hardware-to-saudi-arabia-under-david-cameron-research-reveals-a6797861.html">Großbritanniens</a> Rüstungsindustrien (um nur die zwei wichtigsten zu nennen) hängen maßgeblich von den Waffenimporten der Golfstaaten ab (wie der „Junkie vom Dealer“ in der poetischen Ortner’schen Diktion) – von den <span class="caps">USA</span> und deren enger Beziehung mit Saudi Arabien natürlich ganz zu schweigen.</p>
<p>Doch dieser unredliche Trick ist nur der Anfang einer Aneinanderreihung an blankem Unwissen, die Frankreich als tatkräftigen Unterstützer sämtlicher national-arabischer und islamistischer Terrorbewegungen der letzten 40 Jahre darstellt. Gehen wir sie Punkt für Punkt durch. </p>
<h2>Palästinensische Befreiungsorganisation</h2>
<p>Seit 1974 erkennt die <span class="caps">UNO</span> (<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/United_Nations_General_Assembly_Resolution_3236">Resolution 3236</a>) den Status der <span class="caps">PLO</span> als Repräsentation Palästinas an – nur die <span class="caps">USA</span>, Israel, Bolivien, Chile, Costa Rica, Island, Nicaragua und Norwegen stimmten dagegen. Das demokratische Westeuropa, Frankreich, Italien, Deutschland, Großbritannien, Österreich inklusive, <em>enthhielten sich ihrer Stimme</em>. </p>
<p>Es folgte, etwas verkürzt dargestellt, die Etablierung von diplomatischen Vertretungen der <span class="caps">PLO</span> in verschiedenen Ländern, wie Spanien, Portugal, Österreich, <a href="http://archiviostorico.corriere.it/1993/agosto/26/crisi_sfratta_OLP_Roma_co_0_9308265749.shtml">Italien (1974)</a>, Frankreich (1975) und Griechenland. </p>
<p>Es ist auch bekannt, dass Österreich und <a href="http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2009_2_2_dahlke.pdf">Deutschland</a> ebenso wie <a href="http://www.corriere.it/cronache/08_agosto_14/lodo_moro_sharif_a89227b4-69d2-11dd-af27-00144f02aabc.shtml">Italien</a> Ende der 1970er Jahre mit der <span class="caps">PLO</span> geheime Abkommen trafen, um terroristische Angriffe auf ihrem Boden zu vermeiden. </p>
<p>Für Frankreich ist derartiges natürlich vorstellbar, aber zumindest nicht belegt; selbst wenn es solche Übereinkommen mit der <span class="caps">PLO</span> gegeben haben sollte, wäre es jedenfalls nichts Besonderes im Europa der 1970er Jahre. Wenn Frankreich Terrorkollaborateur war, dann war es auch halb Europa.</p>
<h2>Khomeini</h2>
<p>Ortner schreibt von Khomeini, 1978-9 und Terrorismus. Man glaubt, etwas überlesen zu haben, fängt noch einmal an. Doch, so steht es wirklich da. Man möchte dem Verfasser ein Wörterbuch schenken, mit der Empfehlung den Begriff nachzuschlagen, auf der Seite <span class="caps">TEL</span>–<span class="caps">TES</span>.</p>
<p>Ungeachtet der Persönlichkeit Khomeinis, seine Aktivität vor, in und nach Frankreich als „Terrorismus“ zu bezeichnen ist absurd und unsinnig. Sicherlich war es massive und medial geschickte <em>Propaganda</em>, eine Befeuerung der – ohnehin schon weit fortgeschrittenen – Revolution aus der Entfernung, aber <em>Terrorismus</em> beim besten Willen nicht.</p>
<p>Die Einschätzung von Khomeini war im Übrigen <em>in der gesamten westlichen Welt</em> während des Pariser Exils recht ähnlich. Überall herrschte große Neugier, zum Teil auch eine gewisse Achtung für den asketischen Geistigen, der zu dem Zeitpunkt noch von Liberalen (wie Banisadr) geduldet war und als stärkste Figur gegen ein diktatorisches und weitgehend verhasstes Regime auftrat.<sup id="sf-ortner-maitresse-der-mediokritaet-1-back"><a href="#sf-ortner-maitresse-der-mediokritaet-1" class="simple-footnote" title="Vgl. z. B. die Dokumentation Les 112 jours de Khomeiny ein France, oder einige Zeitungsartikel der ZEIT, Ende 1978: Der Schah kämpft gegen die Zeit , Streiks und Straßenkämpfe oder Khomeini bleibt im Hintergrund.">1</a></sup></p>
<p>Noch etwas Hintergrundwissen zu Frankreich und der Islamischen Revolution im Iran: Erstens war die Beziehung zwischen Giscard d’Estaing und dem Schah während des französischen Exils Khomeinis in Frankreich bei weitem keine schlechte; ja <em>der Schah selbst</em> hatte das Exil Khomeinis aufgrund der anhaltenden Unruhen <a href="http://www.zeit.de/1978/41/streiks-und-strassenkaempfe">im Oktober 1978 schon aufgehoben</a>! </p>
<p>Zweitens war die Rolle Frankreichs im Iran zur Zeit der Revolution (und davor) generell im Vergleich mit der britischen und amerikanischen <em>absolut marginal</em>. Man erinnere zum Beispiel an den <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/1953_Iranian_coup_d'%C3%A9tat">Staatsstreich 1953</a>, oder den historischen <a href="http://www.open.ac.uk/socialsciences/diasporas/conference/pdf/history_of_bbc_persian_service.pdf">persischsprachigen Sender der <span class="caps">BBC</span></a>, der neben den Kassetten unfreiwillig zu Khomeinis Sprachrohr im Exil wurde.</p>
<p>Drittens hat Frankreich <em>unmittelbar nach der Revolution</em> (also noch unter Giscard d’Estaing) verschiedenen hochrangigen Regimekritikern wie Bakhtiar und Banisadr – sehr zum Unmut der islamischen Republik – politisches Asyl gewährt und sich generell deutlich gegen die Islamische Republik gewandt. Eine Haltung, die bis in die Gegenwart <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/France%E2%80%93Iran_relations">weitergeführt wurde</a>.</p>
<h2>Hisbollah</h2>
<p>Bei der Hisbollah kulminiert die kreative Geschichtsschreibung Ortners in noch unerwarteteren Höhen. Er schreibt: „dass Frankreich sich lange und erfolgreich gewehrt hatte, die mörderische schiitische Terrororganisation Hisbollah in die offizielle <span class="caps">UNO</span>-Liste der Terrorgruppen aufzunehmen“.</p>
<p>So dreist Ortner auch ist, die Fakten bleiben hartnäckig: Es gibt einfach keine „offizielle <span class="caps">UNO</span>-Liste der Terrorgruppen“. Sehr wohl gibt es eine Liste, die spezifisch für die Taliban und Al-Kaida<sup id="sf-ortner-maitresse-der-mediokritaet-2-back"><a href="#sf-ortner-maitresse-der-mediokritaet-2" class="simple-footnote" title="Über die Resolutionen 1267, 1333, 1390 (1999–2002).">2</a></sup> geschaffen wurde. Und selbstverständlich ist die Hisbollah <em><a href="https://www.un.org/sc/suborg/sites/www.un.org.sc.suborg/files/consolidated.pdf">bis jetzt nicht darauf vertreten</a></em>! Es gab noch nicht einmal <em>Bestrebungen</em>, die Hisbollah auf diese Liste zu setzen.</p>
<p>Eindeutig belegbar ist hingegen, dass Frankreich federführend bei der Aufnahme des militärischen Arms der Hisbollah in die <span class="caps">EU</span>-Liste von Terrororganisationen war.<sup id="sf-ortner-maitresse-der-mediokritaet-3-back"><a href="#sf-ortner-maitresse-der-mediokritaet-3" class="simple-footnote" title="Vgl. z. B. einen israelischen Kommentar.">3</a></sup> </p>
<p>Festzustellen, dass Frankreich historisch bedingt kein Freund der Hisbollah ist, wäre noch eine Untertreibung: Bei einem <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_auf_den_US-St%C3%BCtzpunkt_in_Beirut_1983">Bombenangriff 1983</a> im Libanon kamen 58 französische Soldaten ums Leben, die schwersten Verluste der französischen Armee im Ausland und ein nachhaltiger psychologischer Schock für die Nation. Die grenzenlose Idiotie des Begriffs Politik des „Appeasement“ in diesem Kontext wird wohl nur von seiner Geschmacklosigkeit übertroffen.</p>
<h2>Zynismus und Mediokrität</h2>
<p>Ortner könnte sich auch eine <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Terrorism_in_the_European_Union">Zusammenfassung der terroristischen Attentate in Europa</a> zu Gemüte führen und sich dabei vergewissern, welches Land in Europa am meisten von islamistischen und arabisch-nationalistischen Terroristen angegriffen wurde. Und sich dann noch einmal den Zynismus des Begriffs „Politik des Appeasement“ durch den Kopf gehen lassen.</p>
<p>Vielleicht nähme er sich dann auch die Zeit zu überlegen, warum nicht Deutschland, Italien, Spanien oder Großbritannien – auch nicht Belgien (obwohl die Attentäter dort besser vernetzt waren) ins Visier des <span class="caps">IS</span> gekommen sind. </p>
<p>Vielleicht, weil Frankreich schon länger als einziger europäischer Staat Luftangriffe gegen den <span class="caps">IS</span> in Syrien fliegt (was in Ortners Welt wohl auch zur „Politik des Appeasement“ gehört).</p>
<p>Vielleicht, weil Frankreich im Gegensatz zu, z. B. Großbritannien, gewisse vom <span class="caps">IS</span> verabscheute Werte wie Laizität (<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Verschleierungsverbot">Burkaverbot</a>) und auch für politisch inkorrekte Inhalte Pressefreiheit (<em>Charlie Hebdo</em>) verkörpert.</p>
<p>Vielleicht, weil es, im Gegensatz zu Deutschland, Österreich oder Belgien, für die restliche Welt <em>überhaupt</em> westliche Werte – die über materiellen Wohlstand hinausgehen – verkörpert.</p>
<p>Es steht Ortner frei, den illiberalen französischen ökonomischen Weg zu verachten und zu verdammen, den französischen Untergang <a href="http://www.ortneronline.at/?tag=frankreich">periodisch zu prophezeien</a> und brennend herbeizusehnen. Daraus ein geopolitisches Narrativ zu konstruieren, das völlig aus der Luft gegriffen ist, beleidigt jedoch den Intellekt der Leser. Die ideologische Verblendung macht macht Ortner offensichtlich zur <em>Maîtresse der Mediokrität</em>.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-ortner-maitresse-der-mediokritaet-1">Vgl. z. B. die Dokumentation <a href="https://www.youtube.com/watch?v=l047n4WSRlo">Les 112 jours de Khomeiny ein France</a>, oder einige Zeitungsartikel der <span class="caps">ZEIT</span>, Ende 1978: <a href="http://www.zeit.de/1978/39/der-schah-kaempft-gegen-die-zeit">Der Schah kämpft gegen die Zeit </a>, <a href="http://www.zeit.de/1978/41/streiks-und-strassenkaempfe">Streiks und Straßenkämpfe</a> oder <a href="http://www.zeit.de/1978/42/khomeini-bleibt-im-hintergrund">Khomeini bleibt im Hintergrund</a>. <a href="#sf-ortner-maitresse-der-mediokritaet-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-ortner-maitresse-der-mediokritaet-2">Über die Resolutionen 1267, 1333, 1390 (1999–2002). <a href="#sf-ortner-maitresse-der-mediokritaet-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-ortner-maitresse-der-mediokritaet-3">Vgl. z. B. <a href="https://www.idfblog.com/hezbollah/2013/06/11/how-does-the-world-classify-hezbollah/">einen israelischen Kommentar</a>. <a href="#sf-ortner-maitresse-der-mediokritaet-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Beamte: Ein Plädoyer für Privilegien2015-12-24T00:00:00+01:002015-12-24T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2015-12-24:/posts/2015/12/24/beamte-plaedoyer-fuer-privilegien/<p>Warum sollten Beamte eigentlich nicht privilegiert sein? Die Bedeutung ihrer Stellung für die Stabilität der Gesellschaft kann meines Erachtens kaum überschätzt werden. Sie rechtfertigt das Bestehen gewisser Privilegien.</p><h2>Beamtenprivilegien: Sein und Sollen</h2>
<p>Durchaus verspätet möchte ich die am 19.4 erschienene <span class="caps">KURIER</span>-Titelseite „<a href="http://kurier.at/politik/inland/staatsdiener-die-langsame-vertreibung-aus-dem-paradies/125.882.607">Staatsdiener: Die Vertreibung aus dem Paradies</a>” zum Anlass nehmen, die Stellung der Beamten in der Gesellschaft zu hinterfragen. Gleich eingangs wird die Kernthese des Artikels präsentiert:</p>
<blockquote>
<p>„Ist der Staatsdienst noch immer ein Privilegien-Paradies, aus dem es viel zu holen gibt? „Im Vergleich zum Privatsektor ganz sicher”, sagt der Experte Bernd Marin” (<span class="caps">KURIER</span>, 19.4)</p>
</blockquote>
<p>Sie lässt sich in <em>deskriptive</em> und <em>normative</em> Komponenten zerlegen:</p>
<ol>
<li>Beamte <em>sind</em> gegenüber Privatangestellten privilegiert;</li>
<li>Beamte <em>sollten</em> gegenüber Privatangestellten nicht privilegiert sein.</li>
</ol>
<p>Üblicherweise wird Kritik nur gegen den ersten Teil gerichtet<sup id="sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-1-back"><a href="#sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-1" class="simple-footnote" title="Vgl. z. B. FCg-Gemeindebedienstete: Beamten-Bashing der Kurier-Kopieranstalt.">1</a></sup> – die zweite, normative Komponente der These wird hingegen weitgehend als selbstverständlich anerkannt.<sup id="sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-2-back"><a href="#sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-2" class="simple-footnote" title="Mit wenigen Ausnahmen, wie zum Beispiel der Anerkennung der Notwendigkeit von Pragmatisierungen in gewissen Bereichen, wie in der Exekutive oder Judikative.">2</a></sup></p>
<p>Ich möchte zunächst die tatsächlichen Privilegien der <em>eigentlichen Beamten</em> in Österreich kurz in Erinnerung rufen, um dann die normative These zu zu kritisieren und für Verteidigung und Ausbau dieser Privilegien zu argumentieren.</p>
<h2>Sein</h2>
<p>Eigentliche Beamte,<sup id="sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-3-back"><a href="#sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-3" class="simple-footnote" title="Auf die Situation der Vertragsbediensteten, welche im Wesentlichen nach demselben Recht wie Privatangestellte beschäftigt werden, möchte ich hier nicht näher eingehen. Prinzipiell trifft die normative Argumentation auch auf sie zu, wenn sie mit für den Staat essentiellen Aufgaben betraut sind.">3</a></sup> die nach dem <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Beamten-Dienstrechtsgesetz_1979">Beamten-Dienstgesetz von 1979</a> berufen wurden, haben ein spezifisches Dienst- und Pensionsrecht. Der wesentlichste Unterschied – im Vergleich zu Privatangestellten – ist die Schwierigkeit der Auflösung des Dienstverhältnisses: Nur durch eine Entlassung, eine rechtskräftige Verurteilung oder den Verlust der Staatsbürgerschaft<sup id="sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-4-back"><a href="#sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-4" class="simple-footnote" title="Vgl. § 20 Beamten-Dienstgesetz.">4</a></sup> kann sie erfolgen. </p>
<p>Es ist aber anzumerken, dass eine Entlassung nicht nur als Disziplinarmaßnahme, sondern sehr wohl auch wegen „mangelnden Arbeitserfolges”<sup id="sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-5-back"><a href="#sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-5" class="simple-footnote" title="Vgl. § 22 Beamten-Dienstgesetz">5</a></sup> möglich ist, Beamte also nicht wie allgemein angenommen „unkündbar” sind. </p>
<p>Dazu kommen noch ein gesichertes Entlohnungsschema und eine gesonderte <a href="https://www.oeffentlicherdienst.gv.at/moderner_arbeitgeber/pensionsanstritt/index_.html">Form der Pension</a> für Beamte, die vor 1976 geboren wurden und im Vergleich zu der Pension nach dem <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeines_Sozialversicherungsgesetz">Allgemeinem Versicherungsgesetz 1956</a> gewisse Vorteile bringt. </p>
<h2>Sollen</h2>
<p>Ich möchte nun zum normativen Aspekt kommen und argumentieren, dass diese Privilegien für Beamte (und für viele Vertragsbedienstete) durchaus gerechtfertigt sind (oder wären). Ich gehe zunächst von der trivialen Feststellung aus, dass der Staat eine besondere Entität ist, die weder mit einem Unternehmen noch einem Privatverein zu vergleichen ist und eine spezifische Rolle für die Gesellschaft spielt. </p>
<p>Die Bürger <em>sind</em> zwar nicht der Staat, doch bezieht er seine Legitimität im demokratischen System aus dem Bedürfnis nach Sicherheit, Freiheit und Wohlergehen aller Bürger. Diese akzeptieren (zumindest idealerweise) <em>wegen dieser Legitimation</em> dessen Autorität in weiten Bereichen ihres Lebens. </p>
<p>Beamte sind <em>Staatsdiener</em>. Das ist keine bloße Floskel, sondern der Ausdruck einer doppelten, kaum zu überschätzenden Verantwortung. Erstens, dem Staat als Dienstgeber, als legitimer Autorität gegenüber; zweitens sind sie dem Volk, das die staatliche Autorität legitimiert und sich nur der Autorität eines legitimen Staats beugt, verantwortlich. Eine Polizistin, ein Lehrer oder eine Finanzbeamte – sie alle verkörpern den Staat. Dieser kann umgekehrt nur so viel Vertrauen von der Bevölkerung genießen, wie den Beamten zuteil wird.</p>
<p>So absurd es zunächst scheinen mag, der Eindruck der Inkompetenz, der Parteilichkeit, ja sogar der offensichtlichen Korrumpierung kann bei <em>Politikern</em> viel eher verkraftet werden als bei Beamten. Kein Bürger hielte die ständige Konfrontation mit Ungerechtigkeit und Willkür (in Finanzamt, Schule oder Krankenhaus) auf Dauer aus, ohne das Vertrauen in und den Respekt dem Staat gegenüber vollends zu verlieren, ohne die umfassende Verwesung des Gemeinwesens unwillkürlich zu verinnerlichen und voranzutreiben.</p>
<p>Revolutionen fangen deshalb immer <em>im Kleinen</em> an, und die schamloseste Bereicherung auf der höchsten politischen Ebene ist nicht halb so gefährlich wie eine durchgängige Bestechlichkeit der Verkehrspolizei.</p>
<p>Deshalb ist es für eine nach Stabilität trachtende Gesellschaft kein Luxus, sondern eine absolute <em>Notwendigkeit</em>, die Träger der Staatsautorität mit besonderer Sorgfalt auszuwählen und ihre unbedingte Loyalität und Unparteilichkeit in der Ausübung ihrer Funktion sicherzustellen – weit mehr, als sie je von Privatangestellten erwartet werden könnte. Dieses Ziel kann natürlich nur erreicht werden, wenn das Beamtentum mit gewissen Vorteilen, also <em>Privilegien</em> (Prestige, gesicherte Arbeitsbedingungen oder ein großzügiges Gehalt) gegenüber anderen Berufen ausgestattet ist.</p>
<p>Um keinen Neid aufkommen zu lassen, sollten diese Vorteile natürlich nur aufgrund von entsprechender Fähigkeit und Integrität vergeben werden; die Missgunst hängt nämlich nicht sosehr von Privilegien selbst, als von der (zumindest empfundenen) Ungerechtigkeit in der Auswahl der Privilegierten ab.</p>
<blockquote>
<p>Wem an der Gewährleistung der Stabilität des Staates etwas gelegen ist, sollte den Ausbau der Privilegien und eine selektivere Auswahl der Beamten und nicht deren Degradierung und die damit einhergehende Mediokrität befürworten.</p>
</blockquote>
<p>Abschließend möchte ich noch anmerken, dass die Privilegierung der Beamten und die <em>Größe</em> des Staatsapparats zwei komplett unabhängige Dinge sind. Es ist vorstellbar (und in gewissen Bereichen sinnvoll), die Anzahl der Beamten zu reduzieren, ohne zugleich ihre Privilegien anzutasten.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-1">Vgl. z. B. <a href="http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20150420_OTS0180/fcg-gemeindebedienstete-beamten-bashing-der-kurier-kopieranstalt">FCg-Gemeindebedienstete: Beamten-Bashing der Kurier-Kopieranstalt</a>. <a href="#sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-2">Mit wenigen Ausnahmen, wie zum Beispiel der Anerkennung der Notwendigkeit von Pragmatisierungen in gewissen Bereichen, wie in der Exekutive oder Judikative. <a href="#sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-3">Auf die Situation der Vertragsbediensteten, welche im Wesentlichen nach demselben Recht wie Privatangestellte beschäftigt werden, möchte ich hier nicht näher eingehen. Prinzipiell trifft die normative Argumentation auch auf sie zu, wenn sie mit für den Staat essentiellen Aufgaben betraut sind. <a href="#sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-4">Vgl. <a href="https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10008470">§ 20 Beamten-Dienstgesetz</a>. <a href="#sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-5">Vgl. <a href="https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10008470">§ 22 Beamten-Dienstgesetz</a> <a href="#sf-beamte-plaedoyer-fuer-privilegien-5-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>Attentats de Paris: trois fragments de réflexion2015-11-15T00:00:00+01:002015-11-15T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2015-11-15:/attentats-de-paris-trois-fragments-fr.html<p>L’hypocrisie des « expressions de solidarité » du monde entier et ma propre vulnérabilité à cette illusion m’ont frappé en premier. Ensuite est venue l’évidence de l’historicité des événements et finalement, une réflexion sur la nature intérieure du mal terroriste.</p><h2>Quand l’incrédulité se voudrait solidarité</h2>
<p>Deux jours après les ignobles attentats de Paris, les « expressions de solidarité à travers le monde », pour reprendre l’expression consacrée, battent leur plein. J’ose espérer que le point culminant a été atteint avec la possibilité de draper sa photo de profil <em>Facebook</em> de bleu-blanc-rouge d’un clic, parfaite symbiose entre marketing commercial et marketing personnel.</p>
<p>La solidarité et, à plus forte raison, le « soutien » mondial aux victimes, à la France, ne sont évidemment qu’un leurre, un glissement sémantique étrange dont chacun, y compris les journalistes qui en abusent, sait qu’il ne fait aucun sens. On devrait parler de « condoléances », d’expressions « d’incrédulité », à la limite d’expressions de « sympathie », qui font partie d’une vauge politesse internationale. Cela n’a rien de choquant: le monde entier ne <em>peut pas</em> être solidaire de la France, car il lui faudrait être prêt à payer un prix, à faire un sacrifice pour cette solidarité. Il est hypocrite de vouloir faire passer un vague sentiment de désapprobation et de surprise pour une profonde émotion et une touchante preuve de solidarité. </p>
<p>L’expatriation me rend particulièrement vulnérable à ce type de d’illusion. Après les attentats, l’attachement fantasmé s’est heurté, avec une force inattendue, au détachement réel. À l’étranger, il manque la perception totale, l’omniprésence de l’attaque (à la télévision, la radio, dans les rues, dans les conversations des passants), qui rend la peur, la compassion, la rage, peut-être, naturelle à ceux qui sont au plus près de l’événement. On essaye alors insidieusement de compenser l’aliénation, de se prouver la sincérité de son attachement à la Nation, alors même que l’impuissance de participer à sa fragile reconvalescence est flagrante. En réalité, on est tout simplement absent du <em>véritable</em> élan de solidarité, des policiers, médecins, riverains, simples citoyens, qui ont dû (et sû) faire face en pensant d’abord aux autres (que ce soit en secourant des blessés ou simplement en réconfortant un enfant cauchemardant après les attentats). Il faudra que je m’y fasse. </p>
<h2>Un bouleversement</h2>
<p>L’absence, le regard extérieur, permet peut-être aussi une plus grande lucidité. Si l’avenir est incertain, il n’en reste pas moins évident que ces attentats marqueront un bouleversement historique (au sens propre du terme) de la France et de l’idée que les Francais s’en font, incomparable avec les attentats des dernières années.</p>
<p>La réaction politique actuelle est naturellement dominée par l’empressement, la nécessité d’apporter des réponses immédiates. Ce qui est nouveau, c’est que le sentiment d’urgence va bien au-delà de l’impératif sécuritaire et judiciaire concernant la traque des responsables ; la portée des mesures mises en place ou proposées est hors du commun. Pour ne citer que quelques exemples: la déclaration de l’état d’urgence, dont la prolongation pour plusieurs <em>mois</em> est <a href="http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2015/11/15/97001-20151115FILWWW00114-hollande-va-reclamer-la-prolongation-de-l8217etat-d8217urgence-pour-trois-mois.php">déjà examinée</a>, le rassemblement du Parlement en <a href="http://www.elysee.fr/communiques-de-presse/article/reunion-du-congres-a-versailles/">Congrès à Versailles</a> ou l’apparition de propositions stupéfiantes comme celle d’<a href="https://twitter.com/laurentwauquiez/status/665450009270292481">enfermer toute personne fichée comme islamiste</a> ou qui <a href="http://www.liberation.fr/france/2015/11/15/sarkozy-repart-en-campagne-et-enterre-l-union-nationale_1413556">consulterait des sites internet islamistes</a>.</p>
<p>Des questions fondamentales, concernant l’équilibre entre liberté et sécurité, entre laïcité positive (en tant que liberté <em>de</em> religion) et négative (en tant que liberté <em>de la</em> religion), les relations avec l’Europe et le Proche-Orient se joueront non pas dans les prochaines années, mais <em>dans les prochaines semaines</em>. Le conservatisme politique Français s’est mué en un « hyperréformisme » inattendu et inquiétant.</p>
<h2>Le défi intérieur</h2>
<p>Le véritable défi est autrement plus fondamental que l’organisation des services de renseignement ou la réponse militaire adéquate aux attentats et il était connu bien avant ceux-ci. C’est la présence d’une <em>importante et diverse filière islamiste nationale</em>, trop large pour être surveillée et contenue, qui se nourrit d’une radicalisation islamiste d’une partie (pas nécessairement la plus démunie) de la jeunesse. On peut déclarer la guerre à <a href="https://fr.wikipedia.org/wiki/%C3%89tat_islamique_%28organisation%29"><em>Daech</em></a>, probablement même l’anéantir (au prix d’efforts importants), mais on ne peut pas faire la guerre dans son propre pays. C’est en cela que la différence avec le 11 septembre 2001, avec un terrorisme purement extérieur, est essentielle.</p>
<p>La réponse intérieure aux attentats prendra, au mieux, une décennie, au cours de laquelle d’autres attentats semblent inévitables. Elle devra passer par une élimination de l’Islam radical en conjuguant la création d’un réel Islam de France (jusque-là serpent de mer de la politique d’intégration française), totalement indépendant d’influences (<a href="http://leplus.nouvelobs.com/contribution/649450-le-qatar-et-les-banlieues-une-tactique-pour-etendre-le-neo-wahhabisme.html">financières et idéologiques</a>) étrangères, à un développement substantiel des <em>moyens humains</em> dédiés à la répression du terrorisme et l’islamisme en général ; il faut que les services de renseignement, de police et de justice ne soient plus <a href="http://www.parismatch.com/Actu/Societe/La-France-est-l-ennemi-numero-un-de-l-Etat-islamique-837513">débordés par la vague de retours de Syrie et d’Irak</a>. Je ne vois, en revanche, ni la nécessité ni l’opportunité de nouvelles lois restreignant davantage les libertés individuelles.</p>
<p>Le plus compliqué sera de fondre cette réponse dans un nouveau pacte social, soutenu par le peuple uni, et qui rendra ces mesures acceptables pour ceux qui crient au laxisme d’un côté et pour ceux qui crient à l’islamophobie de l’autre. C’est à ce projet qu’il est impératif d’oeuvrer, ensemble et avec patience, pour sauver la cohésion de la République et la fidélité à ses principes. </p>A Girl Walks Home Alone At Night: pretentious and tedious, but beautifully dilemmatic2015-04-18T00:00:00+02:002015-04-18T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2015-04-18:/a-girl-walks-home-alone-at-night-en.html<p>Weak dialogue, overlong pointless shots and wilfully unintelligible allusions are the main failures of <em>A Girl Walks Home Alone At Night</em>. Nevertheless, when it avoids such idiosyncrasies, the beautiful images and soundtrack aptly set the stage for a simple, yet challenging story, which has not been appreciated in most reviews. Besides this aesthetic achievement, it also forges some novel concepts that will probably be reused in the future.</p><h2>Weaknesses</h2>
<p><a href="http://www.imdb.com/title/tt2326554/"><em>A Girl Walks Home Alone At Night</em></a> is, in various ways, an annoying movie. Not as much as its promotion (“<a href="http://films.vice.com/a-girl-walks-home/">first Iranian vampire Western ever made</a>”), led by director Ana Lily Amirpour—or rather her media persona—who impersonates the age of social-media-driven image cultivation (including obligatory inane tweets<sup id="sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-1-back"><a href="#sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-1" class="simple-footnote" title="I cannot refrain from citing “what i’m really like on the inside is bones and blood and meat and organs and slime”, although I definitely should not.">1</a></sup>) to the edge of vulgarity, but annoying nonetheless.</p>
<p>Having watched the movie with a native speaker of Farsi, and reading similar comments, it appears that the characters have a strong accent and an unnatural, forced way of talking, which might explain the aridity of the dialogue. I am aware that this might have been intentional—maybe even a self-ironical take on the emigrated Iranian community’s quest for authenticity. Even so, it fails, merely resulting in irritation for native speakers and being completely lost on the non-Farsi-speaking audience, for which the movie was really made.</p>
<p>Besides this, <em>A Girl Walks Home Alone</em> becomes silly when it tries to outsmart its viewers, which happens on numerous occasions. The <span class="caps">TV</span> spots during the first half hour, the pictures of an ominous leader or Farsi graffiti on the walls hint at a message, a concept, which the movie is too pretentious (or too lazy) to reveal to the target audience. This might well be part of intentionally deriding an overly intellectual audience, but it falls flat by leading nowhere. Being more brilliant than the audience is a safe, but cheap trick. Engaging with it—if possible in a meaningful way—is much more difficult; it should nonetheless be the goal of any artistic endeavour.</p>
<p>The length of certain scenes is another issue. A movie cannot, even in principle, capture the chronology of human interactions realistically. Instead, time has to be compressed, the pace of the action increased, while preserving some illusion of realism. Amirpour opts for very little compression, very long scenes, but without trading the tediousness for even a little realism. The last scene, for instance, is pointlessly slow and could well be cut down to half its length.</p>
<p>However, these inadequacies do not make <em>A Girl Walks Home Alone</em> a worthless movie. Quite the contrary: they point to a sincere artistic <em>ambition</em>. And luckily, directors need not be particularly thoughtful or likeable in their self-display to create valuable movies. I will start by identifying aspects where Amirpour did actually succeed artistically, and then try to point out how the movie can be useful beyond the aesthetic context.</p>
<h2>Aesthetic value</h2>
<p>The image composition, lighting and texture are very good, not only through their graphic beauty, but because they are successful in conveying a detached, neutral mood (aided by the very aptly devised soundtrack), curiously contrasting with the disgust that they <em>should</em> elicit. I am not certain that Amirpour’s intention was to convey <em>this</em> atmosphere, but in any case it is convincing and immersive.</p>
<p>In some cases, when the irony successfully surfaces, the movie becomes genuinely funny. The pimp, for instance, is a deliciously grotesque conglomerate of stereotypes about movie villains, updated to reflect contemporary fashion trends (in particular the obsession with tattoos). </p>
<p>The story has been much criticised for being trivial or even non-existent<sup id="sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-2-back"><a href="#sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-2" class="simple-footnote" title="Cf., for example, this review.">2</a></sup>, when it is really the movie’s most valuable element. One should first note that it succeeds in <em>not being</em> a trite “feminist” story about an emancipated vampiress avenging oppressed Iranian women—it is not at all obvious that the girl specifically targets (misogynous) men, or even that she has any desire for vengeance.</p>
<p>More importantly, the girl’s character is, at best, morally neutral, at worst, plainly base. <em>A Girl Walks Home Alone</em> does not show two lovers struggling against a desolate, rotten town but rather two <em>rotten</em> lovers, <em>participating</em> in the constitution of a desolate, rotten town. Arash starts off as a fairly likeable James-Dean-wannabe and ends up as a drug dealer who sends his addicted father out on the street. The girl, who appears and kills almost exclusively in connection with drugs (one might want to think of her as the drug’s personification) seems to surreptitiously <em>pervert</em> Arash, who eventually gives up his father for his own comfort.</p>
<p>Nonetheless, Arash and the girl are the only characters who display some sort of affection for something besides money or drugs. The viewer is henceforth drawn into a dilemma. Should she identify herself with them, while accepting their moral ambiguity or rather resist this longing (which, given the beauty of the shots and the well conveyed innocence of both characters, turns out to be very difficult), choosing to condemn the inhabitants of “Bad city” without exception?</p>
<h2>Instrumental value</h2>
<p>In addition to the intrinsic, aesthetic value, the movie is also “<a href="http://lpql.net/posts/2014/05/30/begriffsbildung-und-der-instrumentelle-wert-der-kunst/">instrumentally valuable</a>”, because it <em>forges concepts</em>, which can be used in everyday language, philosophy and even science<sup id="sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-3-back"><a href="#sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-3" class="simple-footnote" title="One, if not the best, example is the “Quantum Zeno effect”, where a philosophical concept illustrates a physical effect.">3</a></sup>.</p>
<p><em>A Girl Walks Home Alone</em> forms many such concepts: first and foremost, the <em>skateboarding adolescent hipster vampire</em>, both fragile and godlike, which can and will be referenced in the future. It captures and transforms the contemporary iconic imagery to create a new, original and momentous symbol. While this is not in itself an aesthetic achievement, it could still prove to be a convenient unit for other works to build upon. To a lesser extent, this is also the case for Arash and the pimp.</p>
<p>The movie might also participate in remodeling the perception of Iranian culture in the “Western” world and in particular in the United States. While very obviously not authentically depicting Iran (besides just as obviously not having been shot there), it does convey the culture and references of the Iranian diaspora in the <span class="caps">US</span>, including the importance given to speaking Farsi. I have already contended that using Farsi is an <em>aesthetic mistake</em>, leading to unnatural dialogue and a confused message; on the other hand, the awkwardness might prove helpful in understanding the tensions that the emigrated Persian community faces<sup id="sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-4-back"><a href="#sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-4" class="simple-footnote" title="Which in turn could be useful to understand Iran itself, not only because of the similarities but even more so through the dissimilarities with Persian culture.">4</a></sup>.</p><ol class="simple-footnotes"><li id="sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-1">I cannot refrain from citing <a href="https://twitter.com/Lilyinapad/status/582748801946943488">“what i’m really like on the inside is bones and blood and meat and organs and slime”</a>, although I definitely should not. <a href="#sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-1-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-2">Cf., for example, <a href="http://www.the-filmreel.com/2015/01/23/review-a-girl-walks-home-alone-at-night-2014/">this review</a>. <a href="#sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-2-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-3">One, if not the best, example is the “<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Quantum_Zeno_effect">Quantum Zeno effect</a>”, where a philosophical concept illustrates a physical effect. <a href="#sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-3-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li><li id="sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-4">Which in turn could be useful to understand Iran itself, not only because of the similarities but even more so through the <em>dissimilarities</em> with Persian culture. <a href="#sf-a-girl-walks-home-alone-at-night-4-back" class="simple-footnote-back">↩</a></li></ol>The other limit of science: self-reference2015-02-23T00:00:00+01:002015-02-23T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2015-02-23:/the-other-limit-of-science-self-reference-en.html<p>I argue that science is limited by the necessity to avoid logical paradoxes. Such paradoxes can arise in situations when the scientist attempts to apply the scientific method to herself. Science should therefore avoid self-reference.</p><p>„Science has limits“. This is a well-established truism—a Web search for „limits science“ leads to what science is obviously <em>not</em> meant to deal with: moral values, aesthetic values, religion and so on<sup id="fnref:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup>. In this article, I will try to describe <em>another limit of science</em>, connected to logical paradoxes of self-reference and which has not received sufficient attention in my opinion.</p>
<h2>The scientific worldview</h2>
<p>Science seeks to explain to world, which means that (a) observed phenomena can be classified using a compelling and efficient structure and (b) a <em>single</em> structure provides the means to make useful predictions for the occurrence of future phenomena. Less verbosely: <em>science both explains and predicts empirical phenomena</em>.</p>
<p>To build such a structure, one has to start from two assumptions—one might call them „axioms of the scientific worldview“<sup id="fnref:2"><a class="footnote-ref" href="#fn:2">2</a></sup>:</p>
<ol>
<li>Empirical phenomena we observe exhibit some regularity.</li>
<li>These regularities can in principle be unveiled by human enquiry.</li>
</ol>
<p>I will also assume that these two principles imply that the scientific inquiry should be <em>logically consistent</em>, i.e., no inconsistencies should appear in the structure it uncovers.</p>
<h2>Paradoxes of self-reference</h2>
<p>What if the human mind itself is a subject of scientific scrutiny, which happens for example in psychology or neurobiology? Even more specifically, what if the <em>scientific enquiry</em> itself is scientifically analysed? I will show how paradoxes can appear when this is the case.</p>
<p>Imagine a community of neuroscientists in a distant future with an excellent model of the human brain, able to predict a great deal of human behaviour—the various explanatory and predictive success of this theory give them very strong belief in the validity of the theory. A little boisterous, they finally turn to explain their <em>own scientific research</em> with this very model.</p>
<p>Which type of answer can they expect? What if their model predicts that they should (or even <em>could</em>) not have come up with the model in the first place? What if it tells them that they will soon reject the model and adopt a radically different one? What if this different model predicts that they will go back to the first model? If the model is <em>right, it is wrong</em> and the same holds for the alternative model. When agents apply a scientific theory to themselves, logical paradoxes (can) appear.</p>
<blockquote>
<p>The potential for logical paradoxes should be eliminated from science. As a consequence, scientific self-reference has to be excluded; at least one of the axioms of the scientific worldview does not apply to the scientist herself—either the scientist exhibits no regularities or (more reasonably) these regularities cannot be completely uncovered.</p>
</blockquote>
<p>The limit of science thereby established is <em>relative</em>: its exact form depends on the field of enquiry and social scientists will face paradoxes differing from the ones of biologists or physicists when they delve into self-referential terrain. Nevertheless, the limit is still <em>a priori</em> in the sense that it will in principle appear at some point. I hope to clarify this by showing how the same problem appears in the formal sciences.</p>
<h2>Connection to mathematics</h2>
<p>The problem is not distinctive of empirical sciences—surprisingly, it also appears in mathematics and pure logic<sup id="fnref:3"><a class="footnote-ref" href="#fn:3">3</a></sup>. The self-referential proposition „I am a liar“ cannot be consistently evaluated to true or false; Russell’s paradox concerns similar paradoxical self-referential proposition about a sets.</p>
<p>More generally, Gödel’s two <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/G%C3%B6del%27s_incompleteness_theorems">incompleteness theorems</a> show that <em>no sufficiently complex mathematical structure can be both consistent and complete</em>. Some true statements cannot be proved within this theory. From this, one can construct propositions whose truth value cannot be assessed (and which are self-referential). </p>
<p>An example in computer science is the „<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Halting_problem">halting problem</a>“: will a <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Turing_machine">Turing machine</a> executing a given program halt or not? This question cannot be answered within the theory of Turing machines, because constructing an algorithm that answers would also allow for an algorithm that both halts and does not halt to be constructed<sup id="fnref:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup>! The Turing machine whose program might halt or not is similar to the neuroscientists above, who are asked if their self-referential inquiry will give rise to a contradiction or not. Since they can never know whether a contradiction will be encountered (which corresponds to halting for the Turing machine) or not, they also face a similar form of the halting problem<sup id="fnref:5"><a class="footnote-ref" href="#fn:5">5</a></sup>.</p>
<p>A way out is essentially to distinguish different levels of propositions. Expressing a proposition about the truth of a proposition cannot be subject to the same truth predicate, but only to a higher-level one. This essentially amounts to eliminating self-referential propositions and replacing them by an infinite sequence of meta-propositions. The <em>limit</em> I described in the previous section corresponds to the one between the first and the second level of such a hierarchy.</p>
<p><strong>Addendum (March 6, 2015):</strong> It was rightly pointed out to me that my description of the halting problem was not entirely accurate. I modified the description and added a reference to correct this. Furthermore, it should be stressed that <em>self-referential statements have the potential for logical inconsistencies</em>—not that they will <em>always produce inconsistencies</em>. If one is happy to live with the mere <em>potential</em> for inconsistency, then self-reference cannot (from this argument alone) be excluded from scientific practice.</p>
<div class="footnote">
<hr>
<ol>
<li id="fn:1">
<p>Of course, there is always the tendency in the scientific endeavour to be „imperialistic“ to the point of providing explanations and guidance even for questions of value or of belief. For instance, <a href="http://plato.stanford.edu/entries/morality-biology/">normative evolutionary ethics</a> seeks to provide a scientific justification of moral precepts. I think such approaches are deeply misguided simply because norms cannot (and certainly <em>should</em> not) be inferred from empirical state of affairs. <a class="footnote-backref" href="#fnref:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:2">
<p>Here <em>worldview</em> is loosely related to Wittgenstein’s terminology in <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/On_Certainty"><em>On Certainty</em></a>, which is certainly worth a read in the context of the foundations of science. <a class="footnote-backref" href="#fnref:2" title="Jump back to footnote 2 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:3">
<p>Most logical paradoxes similarly arise in the context of <a href="http://plato.stanford.edu/entries/self-reference">self-reference</a>. <a class="footnote-backref" href="#fnref:3" title="Jump back to footnote 3 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:4">
<p>See, for example Poonen (2012): <a href="http://arxiv.org/abs/1204.0299">Undecidable problems: a sampler</a>. <a class="footnote-backref" href="#fnref:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:5">
<p>This shows why the restriction is very general and does not depend on the actual agents conducting the scientific inquiry. Neither humans nor aliens nor Turing machines nor black holes can escape the issue of self-referential paradoxes. <a class="footnote-backref" href="#fnref:5" title="Jump back to footnote 5 in the text">↩</a></p>
</li>
</ol>
</div>Gleichberechtigung für alle Einkommen!2015-02-15T00:00:00+01:002015-02-15T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2015-02-15:/posts/2015/02/15/gleichberechtigung-fuer-alle-einkommen/<p>Die Unantastbarkeit von Vermögen begründet kein Recht auf Vermögens<em>vermehrung</em>. Vielmehr ist eine Beschränkung der Akkumulation von Vermögen nur über Vermögens<em>zuwachs</em>steuern möglich. Ansammlung von unproduktives Vermögen ist ab geringeren Beträgen zu unterbinden als die Konzentration von produktivem Eigentum (Kapital), die wirtschaftlich notwendig ist. Als Konsequenz werden – ideologisch neutrale – Grundregeln zur Besteuerung von Vermögenszuwachs unproduktiven Vermögens abgeleitet, die auf eine <em>einheitliche</em> und <em>progressive</em> Besteuerung aller Formen von unproduktivem Vermögenszuwachs hinauslaufen.</p><h2>Recht auf Vermögen – Recht auf Vermögens<em>vermehrung</em>?</h2>
<p>Das <em>Recht auf Eigentum</em> ist eine wesentlicher Grundpfeiler der Moderne, der vielerorts im Grundrecht verankert ist. Im österreichischen Staatsgrundgesetz steht zum Beispiel: „Das Eigenthum ist unverletzlich. Eine Enteignung gegen den Willen des Eigenthümers kann nur in den Fällen und in der Art eintreten, welche das Gesetz bestimmt.“<sup id="fnref:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup> Eine Enteignung hat also nur in besonderen Ausnahmen zu erfolgen, unter Schadloshaltung der Betroffenen.</p>
<p>Es gibt zugleich auch viele gewichtige Gründe, die für eine Beschränkung des Eigentums, sowohl <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Rechtsf%C3%A4higkeit_%28%C3%96sterreich%29">natürlicher als auch juristischer Personen</a> sprechen. Zum einen soll die Einflussnahme von konzentriertem Vermögen auf das freie demokratische Geschehen (z. B. durch massive Werbung, durch Stimmenkauf, etc.) unterbunden werden. Zum anderen führt ein allzu markantes Ungleichgewicht der Vermögensverteilung oftmals zu sozialer und politischer Instabilität, die es ebenfalls zu vermeiden gilt.</p>
<p>Glücklicherweise gibt es einen Weg, das übermäßige Akkumulieren von Wohlstand zu verhindern und dabei öffentliche Ausgaben zu finanzieren – ohne die „Unverletzlichkeit“ des Eigentums anzutasten. Aus dieser folgt nämlich nicht, dass auch die Eigentums<em>vermehrung</em> unantastbar sei – im Übrigen auch nicht, dass überhaupt alle Güter zum Privateigentum werden können.<sup id="fnref:2"><a class="footnote-ref" href="#fn:2">2</a></sup></p>
<blockquote>
<p>Weil die Konzentration von Vermögen im liberalen Staat nicht durch Enteignung reguliert werden darf, kann sie <em>nur</em> sie durch eine Hemmung des Vermögens<em>zuwachses</em> erreicht werden. Es gibt deshalb kein Recht auf Vermögensvermehrung.</p>
</blockquote>
<h2>Kapital und unproduktives Eigentum – unterschiedliche Maßstäbe</h2>
<p>Ab welchem Grad der Akkumulation der Staat eingreifen soll um eine weitere Konzentration von Eigentum zu unterbinden, hängt von der philosophischen, sozialpolitischen, aber auch wirtschaftlichen Einstellung ab. Die Unterscheidung zwischen <em>Kapital</em>, d.h. an der Erzeugung von Waren und Dienstleistungen beteiligten <em>Produktionsmitteln</em> und sonstigem, <em>unproduktivem</em> Eigentum<sup id="fnref:3"><a class="footnote-ref" href="#fn:3">3</a></sup> ist dafür relevant.</p>
<p>Produktives Eigentum, das im Besitz von Unternehmen steht, <em>muss</em> zu einem gewissen Grad akkumuliert werden, um eine effiziente Produktion zu gewährleisten. Um Flugzeuge oder Kraftwerke zu bauen, aber auch wenn es um Dienstleistungen wie Betriebssysteme oder Suchmaschinen geht, müssen gewaltige Investitionen getätigt werden. Dafür ist ein hoher Grad von Konzentration erforderlich, der, wie eingangs erwähnt, jedoch aus verschiedenen Gründen problematisch ist. Es besteht jedenfalls eine Spannung zwischen der Notwendigkeit der <em>Kapitakkumulation</em> (die z. B. durch Investition vorangetrieben wird) und der zugleich unerlässlichen Restriktion der privaten Eigentums- und damit Machtanhäufung.<sup id="fnref:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup></p>
<p>Unproduktives Eigentum (das durchaus auch aus Kapital<em>erträgen</em> kommen kann, das dem Investitionszyklus entzogen wurde) muss hingegen nicht zwingend akkumuliert werden. Die Vermehrung derartigen Vermögens (z. B. in der Form von privaten Konsumgütern wie Kleidung, Schmuck, Kunstwerken usw.) kann aus diesem Grund schon ab einem wesentlich geringeren Grad der Konzentration unterbunden werden, <em>ohne dabei der produktiven Struktur der Wirtschaft zu schaden</em>.</p>
<blockquote>
<p>Für produktives Eigentum gilt es, die Notwendigkeit der Akkumulation gegen die Vermeidung gefährlicher Konzentration abzuwägen. Die Vermehrung unproduktiven Eigentums ist ökonomisch nutzlos und kann schon bei wesentlich geringerer Konzentration unterbunden werden.</p>
</blockquote>
<h2>Kein Einkommen ist gleicher!</h2>
<p>Ich möchte nun auf privates, in erster Näherung unproduktives Vermögen<sup id="fnref2:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup> und dessen Besteuerung eingehen, unter anderem weil es in den letzten Jahren immer wieder in der österreichischen Politik instrumentalisiert wird.<sup id="fnref:5"><a class="footnote-ref" href="#fn:5">5</a></sup> Dabei werde ich versuchen, selber keinen ideologischen Standpunkt zu vertreten, sondern nur einige Trivialitäten aufzuzählen und damit Rahmen für steuerpolitische Debatten zu schaffen. </p>
<p>Unter der Annahme, dass (a) Eigentum selbst unantastbar, (b) exzessive Ansammlung von unproduktivem Eigentum verhindert werden soll und deshalb auch (c) der Staatshaushalt sich überwiegend aus Steuern zur Vermeidung solcher Akkumulation finanzieren soll, gelten folgende Prinzipien zur Besteuerung von unproduktivem Eigentum:<sup id="fnref:6"><a class="footnote-ref" href="#fn:6">6</a></sup></p>
<ol>
<li><em>Einkommen</em>, also Vermögens<em>zuwächse</em> muss besteuert werden, Vermögen selbst kann wegen (a) nicht besteuert werden. </li>
<li>Einkommen muss <em>progressiv</em> besteuert werden – je höher das Einkommen, umso höher der Steuersatz. Ein Höchststeuersatz ist zur Erreichung von (b) widersinnig.<sup id="fnref:7"><a class="footnote-ref" href="#fn:7">7</a></sup> </li>
<li>Einkommen <em>jeder Art</em> muss gleichermaßen besteuert werden, weil es gleichermaßen zum Vermögenszuwachs beiträgt. Insbesondere müssen Kapital-, Zins-, Miet- und Erbschaftseinkommen gemeinsam versteuert werden.</li>
<li>Gewisse Vermögens<em>verluste</em><sup id="fnref:8"><a class="footnote-ref" href="#fn:8">8</a></sup> müssen gegengerechnet werden können. Das impliziert zumindest einen <em>Freibetrag</em> für Vermögensverlust durch alltägliche Ausgaben (Nahrung, Unterkunft, usw.) und <em>Steuerfreiheit für Zinserträge unter der Inflation</em> weil sonst eigentlich das Vermögen selbst besteuert wird.</li>
<li>Steuersätze sollten nach (c) auf <em>realen</em> Wert abgestimmt sein und deshalb auch laufend an die Inflation angepasst werden (Abgeltung der „kalten Progression“).</li>
</ol>
<p>Ich möchte unterstreichen, dass diese Anforderungen zunächst nur auf die Besteuerung von Einkommen natürlicher Personen zutreffen und <em>inhaltlich</em> eigentlich noch unbestimmt sind. Von Kommunisten bis zu Neoliberalen sollten sich alle damit anfreunden können – „nur“ in der Steilheit der Progression und der Auslegung der berücksichtigten Verluste sollten Unterschiede auftreten.</p>
<h2>Steuerreform – Inkonsistenz von „links“ und „rechts“</h2>
<p>Die Gegenfinanzierung des Steuermodells von ÖGB/Arbeiterkammer<sup id="fnref:9"><a class="footnote-ref" href="#fn:9">9</a></sup> verstößt zunächst gegen die Unantastbarkeit von Eigentum, also auch gegen die österreichische Verfassung. Zugleich geht es nicht auf die widersinnige und derzeit bestehende ungleiche Besteuerung von Einkommen aus Arbeit, Vermietung und Verpachtung und Einkommen aus Kapitalerträgen ein,<sup id="fnref:10"><a class="footnote-ref" href="#fn:10">10</a></sup> ebensowenig wie auf die fehlende Progressivität des Grenzsteuersatzes ab einem gewissen Jahreseinkommen.</p>
<p>Die ÖVP<sup id="fnref:11"><a class="footnote-ref" href="#fn:11">11</a></sup> verschließt sich zur Gänze der Gleichbesteuerung von Arbeits- und Kapitalerträgen natürlicher Personen. Es wird zum Beispiel die Erbschaftssteuer als ungerechte, „doppelte Besteuerung“ kritisiert. Dabei sind <em>alle</em> Steuern dieser Art! Nach der Einkommenssteuer wird bei Konsum Mehrwertsteuer fällig, dann im Unternehmen ein Arbeitgeberbeitrag, dann von Angestellten wieder Einkommenssteuer, der bei Konsum abermals die Mehrwertsteuer speist, usw. <em>ad infinitum</em>.<sup id="fnref:12"><a class="footnote-ref" href="#fn:12">12</a></sup> Dass bei Schenkung oder Erbschaft auf schon versteuertes Eigentum wieder Steuern fällig werden, wäre also keine erschreckende Anomalie, sondern eine absolute Banalität.</p>
<h2>Mit der Realität umgehen – Steuerflucht und Detailfragen</h2>
<p>Die Realität ist komplex und die von mir verteidigte Besteuerung aller Einkünfte praktisch schwierig, genauso wie die Gegenrechnung aller möglichen Verluste. Darüber hinaus sind Vermögende in der Regel mobil und können hohen Grenzsteuersätzen, insbesondere auf Kapitalerträge, (sei es legal, halblegal oder illegal) leichter entgehen. Nimmt man aber z. B. grassierende Steuerflucht zum Anlass, Kapitalerträge nicht mehr progressiv zu besteuern, wie es in Österreich gemacht wurde,<sup id="fnref:13"><a class="footnote-ref" href="#fn:13">13</a></sup> dann sind es effektiv Gesetzesbrecher, welche die Grundsätze der Gesellschaft <em>bestimmen</em>, anstatt dass sie sich ihnen <em>beugen</em>. So eine Vorgangsweise halte ich in keinem Fall für angebracht.</p>
<p>Es gilt natürlich auch andere Details zu klären, wie einmalige Einkommensquellen (z. B. durch Erbschaften oder Verkauf von Immobilien) auf mehrere Jahre verteilen zu können, weil sie anders zu Vermögenswachstum führen als regelmäßiges Einkommen (wie Mieteinkünfte, Lohn, Dividenden, usw.); wie gewisse sozial nützliche Lebensformen (wie die Familie) unterstützt werden können, in dem Freibeträge und Steuersätze angepasst werden. Diese Komplikationen sind aber meines Erachtens nur technischer Natur.</p>
<p><strong>Nachtrag (24. Februar 2015)</strong>: Die SPÖ hat sich, nach der letztwöchigen <a href="http://derstandard.at/2000011918368/Steuerreform-Haeupl-fuer-Verzicht-auf-Substanzsteuern">Intervention von Michael Häupl</a>, offensichtlich von den Steuern auf Eigentum verabschiedet – sie setzt jetzt zumindest teilweise (wenngleich mit abstrusen ideologisch aufgeladenen Konstruktionen wie <a href="http://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20150221_OTS0031/faymann-beharrt-im-oesterreich-interview-auf-millionaerssteuer">„Luxusimmobiliensteuern“</a>) auf eine Erhöhung der Besteuerung von Kapitalerträgen. Die ÖVP bleibt mit ihrer <a href="http://derstandard.at/2000011972793/Mitterlehner-Das-kann-nur-die-SPOe-selbst-erklaeren">Ablehnung von Erbschafts- und Schenkungssteuern</a> bei der Bevorzugung von arbeitsfreien Einkommen.</p>
<div class="footnote">
<hr>
<ol>
<li id="fn:1">
<p><a href="https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000006">Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (1867)</a> <a class="footnote-backref" href="#fnref:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:2">
<p>Kommunistische Staaten, in denen die <em>Produktionsmittel</em> nicht zum individuellen Eigentum werden können, sind ein Beispiel dafür. Aber auch in kapitalistischen Staaten gibt es hoheitliche Aufgaben, wie Justiz, Landesverteidigung, usw., welche nicht in private Hand gelangen dürfen. <a class="footnote-backref" href="#fnref:2" title="Jump back to footnote 2 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:3">
<p>Der Kommunismus begegnet dieser Spannung dadurch, dass Kapital zwar angehäuft werden kann, in den Händen des Kollektivs bleiben muss. Der Nachteil daran liegt darin, dass eine vollständig kollektive Verwaltung der Produktionsmittel träge ist, und sich in einer durch Konsum geprägten Gesellschaft recht ineffizient verhält. <a class="footnote-backref" href="#fnref:3" title="Jump back to footnote 3 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:4">
<p>Selbstverständlich bin ich mir der Unschärfe des Übergangs bewusst – sind eine Wohnung, die teilweise vermietet wird, oder Kleidungsstück, das teilweise in der Arbeit getragen wird nun <em>Kapital</em> oder nicht? <a class="footnote-backref" href="#fnref:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref2:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:5">
<p>Vgl. z. B. den Artikel „Gerechtigkeitsmaschine oder Leistungskiller“ im Falter 4/15. <a class="footnote-backref" href="#fnref:5" title="Jump back to footnote 5 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:6">
<p>Was Kapital betrifft, also im Wesentlichen Unternehmensbesteuerung, möchte ich mich hier nicht festlegen – insbesondere ist es für Unternehmen nicht klar, ob Gewinne, insofern sie neu investiert werden, besteuert werden müssen. Es sollte jedoch zumindest die Kapitalansammlung <em>jenseits der ökonomischen Notwendigkeit</em> eingeschränkt werden, weil sie unter anderem zu übermäßiger politischer Macht und Monopolbildung führt. Eventuell könnte dies durch eine geringe aber dennoch progressive Umsatzsteuer geschehen, die extrem große Unternehmen gegenüber kleineren benachteiligt und damit wirtschaftlichen Wettbewerb begünstigt. <a class="footnote-backref" href="#fnref:6" title="Jump back to footnote 6 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:7">
<p>Ich möchte hier nicht auf die konkrete Umsetzung eingehen – ob die 90% Grenzsteuersatz schon ab einer Million Euro oder erst ab hundert Millionen Euro pro Jahr gelten sollen, ist eine <em>politische Entscheidung</em>. Dass zur Vermeidung einer für übermäßig erachteten Vermögensansammlung (auch hier ist der Betrag eine politische Entscheidung) nur monoton steigende Grenzsteuersätze fähig sind, ist aber eine einfache mathematische Tatsache. <a class="footnote-backref" href="#fnref:7" title="Jump back to footnote 7 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:8">
<p>Auch hier sind ganz verschiedene Auslegungen möglich. Vom der stark kollektivistischen, bei der nur ein geringer Freibetrag bei der Steuerberechnung abgeschrieben wird und keine anderen Kosten berücksichtigt werden, bis zum sehr liberalen, bei dem fast alle Ausgaben, unter anderem auch für Konsumgüter gegengerechnet werden können und deshalb für Vermögende auch ein höherer deutlich Abschreibungsbetrag als für Nichtvermögende zustande kommen kann. <a class="footnote-backref" href="#fnref:8" title="Jump back to footnote 8 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:9">
<p>Vgl. <a href="http://www.lohnsteuer-runter.at/downloadsneu/OEGB_LoRu_OEGBAK_Modell.pdf">lohnsteuer-runter.at</a>. <a class="footnote-backref" href="#fnref:9" title="Jump back to footnote 9 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:10">
<p>Die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Einkommensteuer_%28%C3%96sterreich%29"><em>Einkommenssteuer</em></a> ist bis zu einem gewissen Grad progressiv und betrifft nur Einkommen aus Land- und Forstwirtschaft, selbstständiger und unselbstständiger Arbeit, aus Gewerbebetrieb, aus Vermietung und Verpachtung sowie aus Spekulation. Dazu zählen nicht <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Kapitalertragsteuer#Kapitalertragsteuer_in_.C3.96sterreich"><em>Kapitalerträge</em></a>, welche pauschal, also <em>nicht-progressiv</em> mit 25% besteuert werden. <a class="footnote-backref" href="#fnref:10" title="Jump back to footnote 10 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:11">
<p>Vgl. <a href="http://www.oevp.at/down.load?file=2014_12_10_PDF_OeVP_Steuerreform_Final.pdf&so=download">das ÖVP-Programm zur Steuerreform</a>. <a class="footnote-backref" href="#fnref:11" title="Jump back to footnote 11 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:12">
<p>Dass <em>jede Form von Steuer</em> mehrmals auf „ein- und denselben Euro“ angewandt wird, ist auch eine Grundlage der makroökonomischen Berechnung, vgl. <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Multiplikator_%28Volkswirtschaft%29">Multiplikator (Volkswirtschaft)</a>. <a class="footnote-backref" href="#fnref:12" title="Jump back to footnote 12 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:13">
<p>Es war mitunter ein Grund für die Einführung der Endbesteuerung von Kapitaleinkünften 1993, weil zuvor der größte Teil der Steuern auf Kapitaleinkünfte hinterzogen wurde (vgl. <a href="http://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2003/PK0219/index.shtml">Deutsch-Österreichisches Arbeitsgespräch über Steuerfragen, 2003</a>). Hier wurde also wegen Steuerhinterziehung im großen Stil auf die progressive Besteuerung von Kapitalerträgen verzichtet, anstatt die Möglichkeit zur Steuerhinterziehung zu eliminieren – eine Kapitulation in die Prinzipienlosigkeit, die sich zum <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Abgeltungsteuer">Europäischen Standard</a> entwickelt hat. <a class="footnote-backref" href="#fnref:13" title="Jump back to footnote 13 in the text">↩</a></p>
</li>
</ol>
</div>Statistische Fakten – zwei erkenntnistheoretische Probleme2015-01-18T00:00:00+01:002015-01-18T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2015-01-18:/posts/2015/01/18/statistische-fakten-zwei-erkenntnistheoretische-probleme/<p>Es werden zwei erkenntnistheoretische Probleme bei der Erzeugung „statistischer Fakten“ erklärt. Zum einen muss gerechtfertigt werden, weshalb eine Variable überhaupt mit statistischen Methoden beschrieben werden kann und inwiefern die empirischen Daten aussagekräftig genug sind, damit statistische Daten zum statistischen Faktum werden. Zum anderen muss bei der statistischen Faktenbildung die Möglichkeit der <em>inadäquaten Reduktion</em> berücksichtigt werden: Wenn nicht genügend Variablen erhoben werden, können die erfassten Korrelationen irreführend sein.</p><p>„Jede Entscheidung soll auf Fakten beruhen“. Es wäre töricht, einen derartig tautologischen Satz anfechten zu wollen. Was „Fakten“ sind – oder vielmehr sein sollen – ist hingegen eine äußerst komplexe Frage. Ich möchte in diesem Artikel untersuchen, was <em>statistische</em> Fakten leisten können und sollen.</p>
<p>Die statistische Erhebung von Daten ist eine Möglichkeit zur Herstellung von Objektivität im Bereich der Sozialwissenschaften. Sie stellt die Grundlage für die (zurecht) geforderte objektive Rechtfertigung politischen Handelns<sup id="fnref:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup> dar. Bei der Verwendung derartiger statistischer Fakten sollten zwei wichtige erkenntnistheoretische Probleme nicht außer Acht gelassen werden: einerseits die <em>Rechtfertigung und Relevanz der statistischen Faktenbildung</em> und andererseits die <em>inadäquate Reduktion der untersuchten Variablen</em>.</p>
<p>Natürlich bestehen bei der Erhebung von Statistiken im sozialwissenschaftlichen Bereich auch vielfältige Probleme <em>praktischer Natur</em>: Wie wird eine konkrete Variable formuliert? Wie kann sichergestellt werden, dass (z. B. bei Umfragen) diese Variable dann auch tatsächlich erhoben wird und nicht eine andere? Über solche erschwerenden Komplikationen werde ich in diesem Artikel hinwegsehen.</p>
<h2>Rechtfertigung und Aussagekraft statistischer Faktenbildung</h2>
<p>Ersteres (zumindest Statistikern relativ bekanntes) Problem ist der statistischen Methode eigentümlich. Eine Variable kann nur dann statistisch modelliert werden, wenn davon ausgegangen werden kann, dass sie gewisse Eigenschaften besitzt, wie z. B. einen wohldefinierten Mittelwert und Varianz. Nicht jede Variable ist dieser Natur und die statistische Behandlung muss (obwohl es nur in den seltensten Fällen passiert) aus diesem Grund mithilfe von <em>Zusatzannahmen</em> gerechtfertigt werden.<sup id="fnref:2"><a class="footnote-ref" href="#fn:2">2</a></sup> </p>
<p>Weil statistische Daten auf endlichen Stichproben beruhen, muss darüber hinaus auch die Frage der <em>Aussagekraft</em> geklärt werden. Wie viele Personen müssen zum Beispiel zu ihrer politischen Präferenz befragt werden, um die reale Variable – ein Wahlergebnis – zuverlässig vorherzusagen? Um diese Frage zu beantworten bedarf es zusätzlicher mathematischer Annahmen über die Variable (welche Verteilung liegt ihr zugrunde?), aber auch einer <em>normativen Entscheidung</em>: Wieviel Unsicherheit wird akzeptiert? Ist eine Aussage, die mit 80% Wahrscheinlichkeit richtig ist, schon ein „Faktum“, oder doch erst wenn sie mit 95%, 99% oder gar 99.9% Wahrscheinlichkeit zutrifft? Um diese Frage zu entscheiden, <em>müssen</em> Normen herangezogen werden, die mit dem <em>Zweck</em> der Statistik zusammenhängen.<sup id="fnref:3"><a class="footnote-ref" href="#fn:3">3</a></sup></p>
<blockquote>
<p><em>Statistische Fakten</em> sind in zweifacher Art mehr als reine empirische Daten. Erstens muss gerechtfertigt werden, weshalb die zu beschreibende Variable überhaupt mithilfe statistischer Methoden untersucht werden kann und zweitens inwiefern die empirischen Daten aussagekräftig genug sind, um zu einem Faktum zu werden.</p>
</blockquote>
<h2>Inadäquate Reduktion</h2>
<p>Das zweite Problem, das meines Wissens nur sehr selten thematisiert wird, betrifft die Schnittstelle zwischen Empirie und Theorie, ist also nicht nur für statistische Fakten relevant. Angenommen, es werden zwei Variablen (z. B. <span class="math">\(K\)</span>: bei der Person wurde ein Kaiserschnitt durchgeführt und <span class="math">\(G\)</span>: die Größe der Person) erfasst und die Verteilung dieser Variablen wird (nach gewissen normativen Kriterien) sorgfältig genug erhoben um zum statistischen Faktum zu werden. Ein solches Faktum kann sein, dass bei kleinen Personen signifikant öfter ein Kaiserschnitt durchgeführt wurde als bei großen, d.h.</p>
<div class="math">$$P(K|G<170~\text{cm}) \gg P(K|G>170~\text{cm}).$$</div>
<p>Dieses Faktum scheint die Hypothese zu verifizieren, dass eine Korrelation zwischen der Größe von Frauen und der Wahrscheinlichkeit, dass sie ein Kind mit Kaiserschnitt zur Welt zu bringen, besteht. </p>
<p>Doch betrachten wir nun zusätzlich eine <em>dritte</em> Variable <span class="math">\(S\)</span> – das Geschlecht der Person. Nun stellt sich heraus, dass <em>gegeben das Geschlecht</em>, die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kaiserschnitt durchgeführt wurde überhaupt nicht mit der Größe der Frauen korreliert, also</p>
<div class="math">$$P(K|S, G) = P(K|S).$$</div>
<p>Es ist ein komplett unterschiedliches – auf den ersten Blick widersprüchlich scheinendes – statistisches Faktum! Es ist nur eines von vielen Beispielen dafür, dass sich die Korrelation zwischen zwei Variablen, gegeben eine dritte, komplett ändern kann.<sup id="fnref:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup> Man könnte man das Spiel weiterspielen und eine vierte, fünfte, Variable einführen, welche die Korrelationen zwischen <span class="math">\(K\)</span> und <span class="math">\(G\)</span> wieder komplett verändern könnte.</p>
<p>Die Paradoxie beruht auf einer <em>inadäquaten Reduktion</em>: Werden nicht genügend Variablen zur Datenanalyse herangezogen, um die <em>relevanten Korrelationen</em> adäquat einfangen zu können, sind die Korrelationen nicht aussagekräftig. Deshalb müssen schon bei der Konstruktion eines empirischen Faktums (und insbesondere eines statistischen Faktums) Hilfshypothesen bezüglich der <em>kausalen Struktur</em> der Variablen herangezogen werden.<sup id="fnref:5"><a class="footnote-ref" href="#fn:5">5</a></sup></p>
<blockquote>
<p><em>Statistische Fakten</em> hängen auch von denjenigen Variablen ab, die nicht erfasst wurden. Um sinnvolle Korrelationen einzufangen, muss schon ein adäquates kausales Modell vorliegen. Es ist ein Spezialfall der „Theoriegeladenheit“ von empirischen Daten.</p>
</blockquote>
<p>Der <a href="http://www.rechnungshof.gv.at/berichte/ansicht/detail/einkommensbericht-20141.html">Einkommensbericht 2014</a> des Rechnungshofs ist ein politisch relevantes Beispiel für die Schaffung statistischer Fakten, die meines Erachtens auf einer inadäquaten Reduktion beruhen. Er wird Gegenstand eines eigenen Artikels sein. </p>
<div class="footnote">
<hr>
<ol>
<li id="fn:1">
<p>Siehe z. B. den inbesondere von Australien ausgehenden Trend zu <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Evidence-based_policy"><em>evidence-based policy</em></a>. <a class="footnote-backref" href="#fnref:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:2">
<p>Diese Annahmen können in vielen Bereichen der Sozialwissenschaften unzulässig sein, vgl. Brian (2014): Ökonomen, eure Wahrscheinlichkeiten sind dem Ende nahe. In: Macho, Thomas (Hg.): Bonds. Schuld, Schulden und andere Verbindlichkeiten. München: Wilhelm Fink. <a class="footnote-backref" href="#fnref:2" title="Jump back to footnote 2 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:3">
<p>Siehe z. B. verschiedene Einschätzungen der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Statistische_Signifikanz">statistischen Signifikanz</a> in der klinischen Forschung. <a class="footnote-backref" href="#fnref:3" title="Jump back to footnote 3 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:4">
<p>Viele derartige Beispiele sind als <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Simpson-Paradoxon">Simpson-Paradoxon</a> bekannt. <a class="footnote-backref" href="#fnref:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:5">
<p>Vgl. Pearl (2000): Causality: Models, Reasoning and Inference. Cambridge University Press, Cambridge. <a class="footnote-backref" href="#fnref:5" title="Jump back to footnote 5 in the text">↩</a></p>
</li>
</ol>
</div>
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</script>Begriffsbildung und der instrumentelle Wert der Kunst2014-05-30T00:00:00+02:002014-05-30T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2014-05-30:/posts/2014/05/30/begriffsbildung-und-der-instrumentelle-wert-der-kunst/<p>Um Schönes herzustellen und das Publikum künstlerisch zu erziehen bedient sich die Kunst notwendigerweise der <em>Begriffsbildung</em>. Unabhängig vom ästhetischen Wert dieser Begriffe können diesen auch in anderen Bereichen (wie etwa der Philosophie) aufgegriffen werden. Dadurch bedingt sich ein <em>instrumenteller Wert</em> von Kunst, der auch misslungenen Werken zugesprochen werden kann.</p><p>Ich möchte in diesem Artikel auf einen Aspekt der Kunst eingehen, dessen Signifikanz mir erst vor Kurzem gewahr geworden ist: Kunst <em>bildet</em> – wie auch Philosophie oder Wissenschaft – <em>Begriffe</em>. Ich möchte argumentieren, dass die künstlerische Form der Begriffsbildung kein kontingentes Nebenprodukt der Kunst ist, sondern eines ihrer definitorischen Merkmale ist, das auch über der Kunst hinaus einen instrumentellen Wert besitzt.</p>
<h2>Begriffe</h2>
<p>Der Terminus „Begriff“ ist in diesem Kontext in einem weiten und unscharfen Sinn zu verstehen und wird synonym mit <em>sprachlichem Muster</em> verwendet werden. Muster der Normalsprache sind Worte, Redewendungen, Sätze, usw.; in der Bildersprache können es gewisse graphische Muster sein; in der mathematischen Sprache zum Beispiel Mengen von Funktionen, Vektorräumen, oder <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Ma%C3%9Ftheorie">Maßen</a>. Für jede Sprache können Begriffe höherer Ordnung – als Muster von Mustern der Sprache – gesetzt werden, die selbst Begriffe einer <em>Metasprache</em> sind. Durch Rekursion dieser Prozedur entstehen Begriffe beliebig hoher Ordnung.</p>
<p>Am Beispiel der Mathematik lässt sich der Prozess der Begriffsbildung und -abänderung vielleicht am einfachsten verdeutlichen. Mathematische Beweise verbinden bestehende Begriffe in einem neuen Muster und schaffen damit neue oder modifizieren bestehende Begriffe (ähnlich verhält es sich mit mathematischen Vermutungen). Der Beweis des Satzes von Pythagoras ändert den Begriff „rechtwinkliges Dreieck“ – in ihm ist jetzt das Verhältnis seiner Seiten enthalten, und damit gibt es auch eine alternative Methode (als die der Winkelmessung) zu überprüfen, ob ein Dreieck rechtwinklig ist oder nicht.</p>
<h2>Begriffsbildung in der Kunst</h2>
<p>Die Konstruktion und Modifikation von Begriffen ist offensichtlich ein wesentlicher Bestandteil der philosophischen und wissenschaftlichen Praxis – der Erfolg letzterer wird daran gemessen ob eine fruchtbare<sup id="fnref:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup> Modifikation der begrifflichen Struktur einer Sprache erreicht wurde. In der Mathematik geht es darum neue Vermutungen, Theoreme etc. hervorzubringen, in der Physik durch Theorie oder Experiment die Bedeutung von Begriffen aufzuklären (Masse, Wahrscheinlichkeit, usw.) oder neu zu erfinden (Entropie, Verschränkung, usw.), die sich für empirische Vorhersagen als nützlich erweisen können.</p>
<p>Meines Erachtens ist die Arbeit an Begriffen auch ein essentieller künstlerischer Tätigkeit. Die doppelte Funktion der Kunst – Hervorbringen und Lehren des Schönen – habe ich in einem früheren Artikel dargestellt. <em>Wie</em> diese beiden Ziele verwirklicht werden, wurde dabei offen gelassen, weil die künstlerische Tätigkeit sich durch eine prinzipiell unendliche methodische Vielfalt auszeichnet. Doch eine Invariante besteht sowohl für das kreative als auch für das kritische Moment der Kunst (ganz gleich ob es sich um Literatur, bildende Kunst, Musik oder Skulptur handelt): die Methode der Muster- und Begriffsbildung.</p>
<p>Das kreative Element der Kunst ist unmittelbar an der Bildung ästhetischer Begriffe beteiligt: Die Vorstellungen von Proportion, Melodie, Harmonie, usw. werden durch die Kunstwerke ständig erodiert und neu gebildet.<sup id="fnref:3"><a class="footnote-ref" href="#fn:3">3</a></sup> Die Musik des 20. Jahrhunderts ist ein gutes Beispiel für tiefgreifende und oftmals gelungene Änderungen dieser Art, die zum Großteil vom Jazz und der damit einhergehenden Reform des Rhythmusbegriffs, ausgegangen sind. Auch der kritische Aspekt der Kunst kann dann sein Ziel erreichen, wenn – hier sind es metaesthetische Begriffe – schafft und schärft. Nur dadurch wird den Addressaten eine neue Sicht auf das Schöne im Allgemeinen und das Kunstwerk im Besonderen ermöglicht. </p>
<blockquote>
<p>Beide Ziele der Kunst werden durch das Instrument der Begriffsbildung verwirklicht. </p>
</blockquote>
<h2>Ein instrumenteller Wert</h2>
<p>Kunst schafft also Muster – Begriffe, denen einen <em>intrinsischer</em>, <em>ästhetischer</em> Wert innewohnt. Die von der Kunst geschaffenen Begriffe können darüber hinaus auch außerhalb der Ästhetik nütztlich sein, wenn sie zweckentfremdet und in andere Bereiche übertragen, gewissermaßen <em>übersetzt</em> werden. Dieser Aspekt sollte anhand zweier Beispiele verständlich werden.</p>
<p>Die europäische Kultur beruht, zu einem nicht unwesentlichen Anteil, auf antiken und mittelalterlichen Mythen, deren Bedeutung weit über den künstlerischen Rahmen (also Bezüge, die in der Malerei, Musik, Skulptur, Theater, usw. hergestellt werden) hinausgeht. Ein gutes Beispiel dafür ist der Mythos des Sisyphos,<sup id="fnref:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup> der (unter anderem) einen begrifflichen Anhaltspunkt für Camus’ Philosophie des Absurden dargestellt hat.<sup id="fnref:5"><a class="footnote-ref" href="#fn:5">5</a></sup> Die begriffliche Vorarbeit des Mythos erlaubte es Camus, mit schon recht genau ausdifferenzierten und seiner Leserschaft verständlichen Begriffen zu operieren, die nur mehr wenig nachgeschärft werden mussten. Der Einfluss geht womöglich über diese <em>Vereinfachung der Vermittlung</em> hinaus: Es ist gut möglich, dass der Mythos einen direkten Einfluss auf den <em>Inhalt</em> von Camus’ Philosophie ausgeübt und somit weit über die ästhetische Sphäre bis in die Moderne nachgewirkt hat.</p>
<p>Ein anderes Beispiel für den instrumentellen Wert künstlerischer Begriffsbildung ist Fritz Langs Film <em>Metropolis</em>.<sup id="fnref:6"><a class="footnote-ref" href="#fn:6">6</a></sup> Der Einfluss geht auch hier weit über die Kunst<sup id="fnref:7"><a class="footnote-ref" href="#fn:7">7</a></sup> hinaus: <em>Metropolis</em> hat die Vorstellung der Maschine (und im weiteren Sinne der Stadt selbst) als Moloch<sup id="fnref:8"><a class="footnote-ref" href="#fn:8">8</a></sup>, dem Arbeiter geopfert werden, so stark geprägt, dass im deutschen Sprachraum „Moloch“ fast ausschließlich auf unmenschliche Megalopolen verweist.<sup id="fnref:9"><a class="footnote-ref" href="#fn:9">9</a></sup> Wer behaupten möchte, eine Stadt sei zu groß, zu dreckig, zu gefährlich, kann diesen Terminus verwenden, ohne selbst die begriffliche Verbindung zwischen diesen verschiedenen Aspekten herstellen und argumentieren zu müssen. Daran wird auch der klar, wie die Begriffsbildung einen <em>rein instrumentellen</em> Wert der Kunst darstellen kann, der vom ästhetische Aspekt unabhängig ist – dass der Begriff von unter anderem <em>Metropolis</em> geprägt wurde, ist nicht notwendig auf den eigentlichen, künstlerischen Wert des Films zurückzuführen.</p>
<blockquote>
<p>Die von der Kunst bearbeiteten Begriffe können auch außerhalb der Kunst aufgegriffen werden. Aus diesem Prozess ergibt sich ein instrumenteller Wert für ein Kunstwerk, der im Allgemeinen unabhängig vom künstlerischen Wert ist. Auch schlechte oder misslungene Kunst (also eine <em>ästhetisch</em> fehlgeschlagene Begriffsbildung) kann sich in diesem Sinn als wertvoll erweisen. </p>
</blockquote>
<div class="footnote">
<hr>
<ol>
<li id="fn:1">
<p>Was unter „fruchtbar“ in Philosophie und Wissenschaft genau verstanden werden soll, ist natürlich eine äußerst komplizierte, aber in diesem Kontext nicht relevante Frage. <a class="footnote-backref" href="#fnref:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:2">
<p>Auch dieser Artikel kann als Beitrag zur Klärung des Begriffs „Kunst“ verstanden werden, der die Verbindung zwischen Kunst und Begriffsbildung aufzeigen soll. <a class="footnote-backref" href="#fnref:2" title="Jump back to footnote 2 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:3">
<p>Genauer: jedes Kunstwerk ist ein neuer Begriff in der Sprache der jeweiligen Kunstform, der sich über allgemeinere ästhetische Begriffe auf andere Kunstwerke bezieht. <a class="footnote-backref" href="#fnref:3" title="Jump back to footnote 3 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:4">
<p>Für eine Auseinandersetzung mit diesem Mythos, vergleiche einen <a href="http://lpql.net/posts/2014/02/07/wolf-of-wall-street-absurditaet-hoffnung/">früheren Artikel</a> und auch Wikipedia: <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Sisyphos">„Sisyphos“</a>. <a class="footnote-backref" href="#fnref:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:5">
<p>Albert Camus: <em>Le mythe de Sisyphe</em>, Paris: Gallimard (1942) <a class="footnote-backref" href="#fnref:5" title="Jump back to footnote 5 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:6">
<p>Vgl. Wikipedia: <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Metropolis_%28Film%29">„Metropolis (Film)“</a> <a class="footnote-backref" href="#fnref:6" title="Jump back to footnote 6 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:7">
<p>Der von Rotwang geschaffene „Maschinenmensch“ ist zum Beispiel titelgebend für Kraftwerks Album „Mensch-Maschine“, das auch einen Titel mit dem Namen „Metropolis“ enthält. <a class="footnote-backref" href="#fnref:7" title="Jump back to footnote 7 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:8">
<p>Vgl. Wikipedia: <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Moloch_%28Religion%29">„Moloch“</a> <a class="footnote-backref" href="#fnref:8" title="Jump back to footnote 8 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:9">
<p>Vgl. z. B. das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache: <a href="http://www.dwds.de/?view=1&qu=moloch">„Moloch“</a> <a class="footnote-backref" href="#fnref:9" title="Jump back to footnote 9 in the text">↩</a></p>
</li>
</ol>
</div>Gewissheit und Religion – Religionskritik nach Wittgenstein2014-04-11T00:00:00+02:002014-04-11T00:00:00+02:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2014-04-11:/posts/2014/04/11/wittgenstein-gewissheit-religion/<p>Für Wittgenstein gibt es Sätze, deren Infragestellung prinzipiell sinnlos ist, weil sie das Fundament unseres Weltbilds ausmachen. Für gläubige Menschen bilden Glaubenssätze wie „Es wird ein Jüngstes Gericht geben“ einen Teil dieses Fundaments, das die religiöse Lebensweise rational rechtfertigt. Zugleich wird ist die religiöse Lebensweise selbst auch grundlegend, weil sie eigentlich arational – <em>aus Leidenschaft</em> – ergriffen wird und ihre Rationalisierung sekundär ist. Dieser Ansatz erlaubt es zu präzisieren, inwiefern sich Weltbilder von Gläubigen und Nichtgläubigen unterscheiden, was meines Erachtens den ersten Schritt zu einer fruchtbaren Religionskritik darstellt.</p><h2>Über Gewissheit</h2>
<p>Wittgensteins letztes „Werk”,<sup id="fnref:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup> zwischen 1949 und seinem Tod 1951 verfasst, erst 1969 von <span class="caps">G. H.</span> von Wright und <span class="caps">G. E. M.</span> Anscombe publiziert, <em>Über Gewissheit</em>,<sup id="fnref:2"><a class="footnote-ref" href="#fn:2">2</a></sup> befasst sich mit dem Verhältnis von Gewissheit und Skeptizismus: Inwiefern sind Teile unseres Wissens gewiss, wie weit geht die Legitimität des Zweifels?</p>
<p>Der Wahrheit des Satzes „Ich habe zwei Hände“<sup id="fnref:3"><a class="footnote-ref" href="#fn:3">3</a></sup> bin ich mir gewiss. Das heißt, dass ich üblicherweise jemanden, der diese Wahrheit bezweifelt („Warum bist du dir da so sicher?“) nicht ernst nehmen würde, den Einwand eher als Scherz auffassen würde. Ein radikaler, vor nichts (auch nicht vor solchen Sätzen) halt machender Skeptizismus,<sup id="fnref:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup> ist für Wittgenstein zwar nicht logisch inkonsistent (und damit auch nicht „widerlegbar“) aber fehlgeleitet, weil er das Konzept des Zweifels missversteht. Etwas zu bezweifeln heißt, nach einer Begründung dafür zu fragen, doch auch der Zweifel bedarf einer Begründung – grundlos zu zweifeln heißt, sich nicht an die Regeln des (Sprach)spiels des Zweifels zu halten.</p>
<p>Die Sätze, derer wir uns gewiss sind, bilden eine Art <em>Fundament</em> für jedes andere Wissen<sup id="fnref:5"><a class="footnote-ref" href="#fn:5">5</a></sup> und sind bestimmen ein „Weltbild“, das Wittgenstein folgendermaßen beschreibt:</p>
<blockquote>
<p>„[mein Weltbild] ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.“<sup id="fnref:6"><a class="footnote-ref" href="#fn:6">6</a></sup></p>
</blockquote>
<p>An solchen fundamentalen Sätzen zu rütteln kann innerhalb des dadurch begründeten Weltbilds nicht geschehen:<sup id="fnref:7"><a class="footnote-ref" href="#fn:7">7</a></sup></p>
<blockquote>
<p>„unsre Zweifel beruhen darauf, daß gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam den Angeln, in welchen jene sich bewegen.“<sup id="fnref:8"><a class="footnote-ref" href="#fn:8">8</a></sup></p>
</blockquote>
<p>Der radikale Zweifel, der sich auch gegen solche „Angelsätze“ richtet, kann innerhalb des Weltbilds nicht begründet werden und ist deshalb gehaltlos. Die Gewissheit, die wir manchen Sätzen zusprechen hängt mit ihrer fundierenden epistemologischen Rolle zusammen – aus diesem Grund bedürfen sie keiner zusätzlichen Rechtfertigung.<sup id="fnref:9"><a class="footnote-ref" href="#fn:9">9</a></sup></p>
<h2>Religion</h2>
<p>Wie lässt sich das Konzept der Gewissheit in die Religionsphilosophie übertragen? Wittgenstein selbst liefert einige Anhaltspunkte dafür:<sup id="fnref:10"><a class="footnote-ref" href="#fn:10">10</a></sup> Das Fundament des religiösen Teils des Weltbilds sind Glaubenssätze, wie etwa „Es wird ein Jüngstes Gericht geben“ – diese rechtfertigen sowohl praktisch-ethische („Moralität wird von Gott bestimmt“) als auch theoretisch-dogmatische Sätze (z. B. „Das Fegefeuer reinigt von leichten Sünden“). Diese wiederum stellen die rationale Basis für das Leben religiöser Menschen dar.</p>
<p>Bei der religiösen Gewissheit kommt aber (im Gegensatz zur oben beschriebenen, „alltäglichen“ Gewissheit) noch eine <em>umgekehrte</em> Rechtfertigungsrichtung ins Spiel – die religiöse Lebensweise, zum Beispiel der regelmäßige Kirchgang oder die Ausrichtung des eigenen Lebens nach theologischen Dogmen, stellt eine Art <em>leidenschaftliche Rechtfertigung</em> für die Glaubenssätze dar: Die Glaubenssätze werden nicht rational (wie philosophische Lebensweisheiten) <em>ausgewählt</em> sondern man ist ihnen <em>hilflos ausgeliefert</em> (zum Beispiel durch eine „tiefe Not“<sup id="fnref:11"><a class="footnote-ref" href="#fn:11">11</a></sup>):</p>
<blockquote>
<p>„Eine gute Lehre nämlich muss einen nicht ergreifen; man kann ihr folgen, wie einer Vorschrift des Arzts. – Aber [im Christentum] muß man von etwas ergriffen <span class="amp">&</span> umgedreht werden.<sup id="fnref2:11"><a class="footnote-ref" href="#fn:11">11</a></sup></p>
</blockquote>
<p>Die Gewissheit im religiösen Glauben beruht also auf zwei sich gegenseitig stützenden Fundamenten: Einerseits gibt es Glaubenssätze, welche ein <em>rationales Fundament</em> für die religiöse Lebensweise ist und andererseits die Lebensweise selbst, die ein <em>leidenschaftliches Fundament</em> für die Glaubenssätze darstellt. Diese beiden Säulen bilden, wenn man so will, einen „religiösen Teil“ des Weltbilds.</p>
<p>In Analogie zu den im vorigen Abschnitt dargestellten epistemologischen „Angelsätzen“ können die Glaubenssätze im religiösen Weltbild nicht sinnvoll bezweifelt werden. Die rationale Rechtfertigung der religiösen Lebensweise kann sehr wohl innerhalb des Weltbilds bezweifelt und eventuell abgeändert werden (zum Beispiel durch eine Neuinterpretation von Glaubenssätzen und Dogmen), nicht aber die Lebensweise selbst, weil sie eigentlich arational zustande kommt und die rationale Begründung erst später dazukommt.</p>
<h2>Konstruktive Religionskritik</h2>
<p>Der Wittgenstein’sche Ansatz scheint mir aus zweierlei Gründen als Ausgangspunkt für einen religionskritischen Diskurs geeignet. Zum einen setzt er sich mit dem religiösen Glauben <em>überhaupt</em> (also nicht mit einer spezifischen Religion, auch wenn seine Beispiele dem Christentum entnommen sind) auseinander, also mit einem sehr allgemeinen und deshalb philosophisch interessantem Untersuchungsobjekt. Diese Herangehensweise erlaubt es, die Frage zu klären, <em>wo genau der Unterschied im Weltbild eines Gläubigen und eines Atheisten liegt</em> und auch ob nicht in atheistischen Weltbildern eine ähnliche zweifache (rationale und leidenschaftliche) Grundlegung vorliegen könnte. </p>
<p>Zum anderen geht Wittgenstein deskriptiv vor und vermeidet es, Weltbilder zu werten. Eine solche Wertung ist zwar nicht grundsätzlich unmöglich oder sinnlos, aber <em>bevor</em> ein Weltbild beurteilt wird, muss es (insbesondere mit den Unterschieden zum eigenen Weltbild) erfasst werden. Erst wenn die Möglichkeit und der Rahmen einer rationalen Auseinandersetzung (und der die eventuellen Inkommensurabilität) zwischen diesen beiden Weltbildern geklärt wurde, kann eine solche stattfinden.</p>
<p>Der Weg zu einer konstruktiven kritischen Auseinandersetzung<sup id="fnref:13"><a class="footnote-ref" href="#fn:13">13</a></sup> sollte in etwa folgender sein:</p>
<ol>
<li>Ausarbeitung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen religiösen und areligiösen Weltbildern.</li>
<li>Bestimmung des Rahmens der vergleichbaren Elemente beider Weltbilder.</li>
<li>Kritische Beleuchtung der vergleichbaren Elemente beider Weltbilder.</li>
</ol>
<div class="footnote">
<hr>
<ol>
<li id="fn:1">
<p>Wie alle späteren Veröffentlichungen handelt es sich auch hier um eine posthume Zusammenstellung aus Wittgensteins Nachlass. <a class="footnote-backref" href="#fnref:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:2">
<p>„Über Gewißheit“ (ÜG). In: Werkausgabe in 8 Bänden. Hrsg. von Wright, <span class="caps">G. H.</span> v. und Anscombe, <span class="caps">G. E. M.</span> Bd. 8. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 115–257. <a class="footnote-backref" href="#fnref:2" title="Jump back to footnote 2 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:3">
<p>Der Ursprung dieses Beispiels und auch Wittgensteins Auseinandersetzung mit der Frage ist ein Aufsatz von <span class="caps">G. E.</span> Moore, der den Skeptizismus zu widerlegen trachtet. <a class="footnote-backref" href="#fnref:3" title="Jump back to footnote 3 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:4">
<p>Zum philosophischen Skeptizismus, siehe z. B. <a href="http://plato.stanford.edu/entries/skepticism/">den Eintrag in der Stanford Encyclopedia of Philosophy</a>. <a class="footnote-backref" href="#fnref:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:5">
<p>In gewisser Hinsicht ist der späte Wittgenstein deshalb ein erkenntnistheoretischer „Fundamentalist“ (es gibt ein sicheres Fundament für Wissen), auch wenn viele „kohärentistische“ Elemente (dieses Fundament ist auch durch eine interne und externe Kohärenz charakterisiert, vgl. ÜG 142-144) mitspielen. <a class="footnote-backref" href="#fnref:5" title="Jump back to footnote 5 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:6">
<p>ÜG § 94. <a class="footnote-backref" href="#fnref:6" title="Jump back to footnote 6 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:7">
<p>Ich verzichte hier auf einige Subtilitäten der Wittgenstein’schen Philosophie, wie dem unscharfen Übergang zwischen Fundament und Fundiertem (vgl. ÜG 99), oder der Möglichkeit einer zeitlichen Variation des Fundaments (vgl. ÜG 96). <a class="footnote-backref" href="#fnref:7" title="Jump back to footnote 7 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:8">
<p>ÜG § 341. <a class="footnote-backref" href="#fnref:8" title="Jump back to footnote 8 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:9">
<p>Ein ähnlicher Fundamentalismus kann in Wittgensteins Philosophie der Mathematik gefunden werden – die bewiesenen mathematischen Sätze und mathematische „Handlungen“ (z. B. eine physikalische Berechnung) bilden das begriffliche und praktische Fundament für ungelöste mathematische Probleme. Zum Beispiel kann dadurch bestimmt werden, ob eine mathematische Vermutung (begrifflich) überhaupt sinnvoll ist. <a class="footnote-backref" href="#fnref:9" title="Jump back to footnote 9 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:10">
<p>Vgl. „Vermischte Bemerkungen. Culture and Value.“ Hrsg. von Wright, <span class="caps">G. H.</span> v. et. al. 2. Aufl. Oxford: Blackwell; „Vorlesungen über den religiösen Glauben“. In: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychanalyse und religiösen Glauben. Düsseldorf: Parerga, S. 77–101; „Bemerkungen über Frazers The Golden Bough“. In: Synthese 17.1, S. 233–253. <a class="footnote-backref" href="#fnref:10" title="Jump back to footnote 10 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:11">
<p>Vermischte Bemerkungen ca. 1944, S. 52. <a class="footnote-backref" href="#fnref:11" title="Jump back to footnote 11 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref2:11" title="Jump back to footnote 11 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:12">
<p>Vermischte Bemerkungen 11.10.1946, S. 61. <a class="footnote-backref" href="#fnref:12" title="Jump back to footnote 12 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:13">
<p>Im Gegensatz zu einer primitiven Form der Religionskritik, die ich in einem <a href="http://lpql.net/posts/2014/01/09/ueber-religion-streiten-ja-aber-anders/">früheren Artikel</a> kritisiert habe. <a class="footnote-backref" href="#fnref:13" title="Jump back to footnote 13 in the text">↩</a></p>
</li>
</ol>
</div>Wirtschaftsliberalismus und Schuldenbremse – ein Paradoxon2014-02-10T00:00:00+01:002014-02-10T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2014-02-10:/posts/2014/02/10/wirtschaftsliberalismus-und-schuldenbremse/<p>Der Wirtschaftsliberalismus will die Rolle des Staats einschränken, weil ein möglichst freier Markt für ihn die beste Art darstellt, Wohlstand zu erzeugen – wenn der Staat agieren soll, dann möglichst wie ein Unternehmen. Deshalb unterstützt er auch der Wettbewerb zwischen Staaten. Die Forderung nach einer „Schuldenbremse“, die eine drastischen Einschränkung der unternehmerischen Freiheit des Staats in einem solchen „Markt der Staaten“ darstellt, steht dazu im Widerspruch.</p><h2>Die Grundprinzipien des Wirtschaftsliberalismus</h2>
<p>Alle gegenwärtigen Formen des Wirtschaftsliberalismus<sup id="fnref:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup> beruhen auf folgenden vier Annahmen:</p>
<ol>
<li>Märkte allozieren Ressourcen <em>am effizientesten</em>.</li>
<li>Effiziente Ressourcenallokation ist die Grundlage für Wohlstand.</li>
<li>Dabei eventuell entstehende Ungleichheiten sind, im Vergleich zum allgemein Wohlstand, marginal.</li>
<li>Der Staat kann danach trachten, Ungleichheiten auszugleichen.</li>
</ol>
<p>Mit dem vierten Punkt wird zwar die Legitimität staatlicher Intervention in den Markt anerkannt, doch durch die dritte Annahme wird ihr <em>Spielraum</em> beschränkt. Insbesondere dürfen Interventionen immer nur <em>eine Ausnahme</em> bleiben, weil sonst Ressourcen nicht mehr effizient verteilt würden, was dem Wohlstand abträglich wäre. Weil Ungleichheiten, die durch den freien Markt entstehen, gering sind, sind auch staatliche Eingriffe nur unter starken Einschränkungen zu genehmigen.<sup id="fnref:2"><a class="footnote-ref" href="#fn:2">2</a></sup></p>
<p>Aus dieser Argumentation ergibt sich das Motto „Weniger Staat, mehr Privat!“, zumindest solange die Einflussnahme des Staates als überproportioniert empfunden wird. Konkrete politische Maßnahmen, die sich aus diesem Prinzip ableiten lassen, sind unter anderem Privatisierungen oder der Abbau von Steuern und Regulierungen. Proponenten des Wirtschaftsliberalismus erwarten sich durch die größere Freiheit des Marktes verbesserte Wohlstandserzeugung, weil auf die Bedürfnisse der Marktteilnehmer schneller und präziser antworten kann. </p>
<h2>Der Staat als Unternehmen</h2>
<p>An diesem Punkt ist es wichtig, eine begriffliche Grenze zu ziehen. Was nämlich ist überhaupt der „Staat“, der sich möglichst aus allen Belangen heraushalten soll? Wenn er sich streng darauf beschränkt, Anteile an marktwirtschaftlich geführten Unternehmen zu halten,<sup id="fnref:3"><a class="footnote-ref" href="#fn:3">3</a></sup> ist die Intervention dieser Unternehmen aus Sicht des Wirtschaftsliberalismus nicht einzuschränken, weil er dann ganz einfach ein Teil der effizientesten Ressourcenallokation ist. Es gilt also, dass nur derjenige staatliche Anteil, <em>der sich nicht marktwirtschaftlichen Prinzipien unterwirft</em>, in seinen Interventionen am Markt einzuschränken ist. Das Ideal des Staates im Wirtschaftsliberalismus ist aber eben, dass der Staat sich (so weit wie möglich) als Unternehmen versteht und marktwirtschaftlich geführt wird.</p>
<p>Vor einigen Tagen ist in Österreich diesbezüglich eine interessante Debatte aufgekommen: Sollen die Bundesländer eigene Steuern eintreiben können?<sup id="fnref:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup> Dahinter steckt die Frage nach dem Wettbewerb <em>zwischen</em> Bundesländern, der von den Wirtschaftsliberalen als äußerst positiv (unter anderem mit Blick auf die Schweiz) dargestellt wird.<sup id="fnref:5"><a class="footnote-ref" href="#fn:5">5</a></sup> </p>
<p>Das Gemeinwesen soll wie ein Unternehmen geführt werden, um Steuereinkommen mit innovativen Mitteln kämpfen – <em>das beste Modell wird sich in diesem Wettbewerb bewähren</em>. Diese Ansicht ist durchaus problematisch,<sup id="fnref:6"><a class="footnote-ref" href="#fn:6">6</a></sup> aber zumindest konsistent. Ressourcen werden am besten durch den freien Markt zugeteilt, deshalb soll auch der Staat als Marktteilnehmer agieren.</p>
<h2>Staatsdefizit als rotes Tuch</h2>
<p>Ein anderes wichtiges Element des wirtschaftsliberalen Diskurses betrifft das Ungleichgewicht zwischen Staatsausgaben und -einnahmen, also das <em>Budgetdefizit</em>. Für Proponenten des Liberalismus soll ein solches möglichst verhindert werden, wenn nötig mit drastischen rechtlichen Mitteln, wie der Verankerung einer „Schuldenbremse“ im Verfassungsrang.</p>
<p>Ich möchte betonen, dass diese Einstellung von den anderen Prinzipien des Wirtschaftsliberalismus <em>logisch unabhängig</em> ist. Es ist durchaus möglich, dass ein „schlanker“, unternehmerisch geführter Staat – der sich nur in Ausnahmefällen von marktwirtschaftlichen Prinzipien entfernt, wenig Steuern einnimmt, wenig ausgibt und wenig reguliert – dennoch hohe Schulden macht. Die Forderung nach einem ausgeglichenen Staatshaushalt ist <em>ad-hoc</em>, sie lässt nicht auf den Kern des Wirtschaftsliberalismus (also der Überzeugung, dass der Markt die optimale Ressourcenallokation erlaubt) zurückführen. </p>
<h2>Ein Paradoxon</h2>
<p>Ich möchte nun zeigen, dass der Ruf nach einer „Schuldenbremse“ nicht nur von den Grundprinzipien des Wirtschaftsliberalismus <em>unabhängig</em> ist, sondern ihnen in gewisser Hinsicht sogar <em>widerspricht</em>. Für den Markt, in den der Staat „von außen“ eingreift, mag es oft so sein, dass ein hohes Budgetdefizit mit hohen Ausgaben einhergeht und mit höheren Steuern geschlossen zu werden trachtet. Dadurch wird der Eingriff in den Markt verstärkt, was aus Sicht des Wirtschaftsliberalismus nicht wünschenswert ist.</p>
<p>Wird aber der Markt betrachtet, in dem der Staat <em>als Teilnehmer</em> (also „von innen“) agiert, muss sich die Beurteilung radikal ändern. Unternehmen verfolgen oft expansive Strategien, die nur durch substanzielle Verschuldung ermöglicht werden.<sup id="fnref:7"><a class="footnote-ref" href="#fn:7">7</a></sup> Warum sollte der <em>Markt der Staaten</em> auf konservative Strategien eingeschränkt werden und (unter Umständen höchst innovative) schuldenbasierte Ansätze unterbinden? Diese Art von Einschränkung der Marktfreiheit steht demnach in fundamentalem Widerspruch zu den Prinzipien des Wirtschaftsliberalismus, wenn sie auf den Markt der Staaten angewandt werden.<sup id="fnref:8"><a class="footnote-ref" href="#fn:8">8</a></sup></p>
<h2>Fazit</h2>
<p><em>Laissez-faire</em> ist ein zweischneidiges Prinzip. Einerseits soll der Staat den von ihm verwalteten Markt frei von Steuern und Regulierungen halten; zugleich soll er selbst dann auch frei von Einschränkungen auf seinem Markt gehalten werden. Alles andere widerspräche der Überlegenheit des Marktes zur optimalen Verteilung von Ressourcen:</p>
<blockquote>
<p>Die „Schuldenbremse“ ist ein Beispiel wirtschaftlichen Konservatismus’, nicht Liberalismus’.</p>
</blockquote>
<div class="footnote">
<hr>
<ol>
<li id="fn:1">
<p>Anlass für diesen Artikel war die Auseinandersetzung mit den Positionen der <a href="http://www.dieweissewirtschaft.at/positionen.php">Die Weis[s]e Wirtschaft</a>, die meines Erachtens den modernen österreichischen Wirtschaftsliberalismus recht gut verkörpern. <a class="footnote-backref" href="#fnref:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:2">
<p>Natürlich ist die genaue Grenzziehung nicht für alle wirtschaftsliberale Strömungen dieselbe, die argumentative Struktur jedoch schon. <a class="footnote-backref" href="#fnref:2" title="Jump back to footnote 2 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:3">
<p>In vielen rohstoffreichen Ländern ist das der Fall. Ein erfolgreiches Beispiel ist Norwegen, dessen riesige staatliche <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/The_Government_Pension_Fund_of_Norway">Pensionsfonds</a> weltweit Anteile an Unternehmen hält. <a class="footnote-backref" href="#fnref:3" title="Jump back to footnote 3 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:4">
<p><a href="http://diepresse.com/home/politik/innenpolitik/1559610/OVPLandeshauptleute-wollen-eigene-Steuern?from=suche.intern.portal">ÖVP-Landeshauptleute wollen eigene Steuern (Die Presse)</a>; <a href="http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/606605_Verlaenderung-der-Steuer-statt-der-Lehrer.html">Verländerung der Steuer statt der Lehrer? (Wiener Zeitung)</a> <a class="footnote-backref" href="#fnref:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:5">
<p>Siehe zum Beispiel <a href="http://derstandard.at/1389859706478/Pro-Laendersteuern-Reflexartiger-Shitstorm">Pro Ländersteuern: Reflexartiger Shitstorm (Der Standard)</a>, oder auch <a href="http://diepresse.com/home/meinung/kommentare/1559933/Vor-Wettbewerb-muss-man-sich-nicht-furchten?from=suche.intern.portal">Vor Wettbewerb muss man sich nicht fürchten (Die Presse)</a>. <a class="footnote-backref" href="#fnref:5" title="Jump back to footnote 5 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:6">
<p>Es stellt sich zum Beispiel die Frage, wieviel Kapital akkumuliert werden muss, um sich sinnvoll am „Markt der Staaten“ beweisen zu können. Da gewisse Eintrittshürden bestehen, kann argumentiert werden, dass kleine staatliche Gebilde (wie Bundesländer oder kleine Länder) eher im Nachteil sind, wenn sie untereinander konkurrieren, weil sie nicht genug Kapital für den Wettbewerb mit großen Staaten besitzen. <a class="footnote-backref" href="#fnref:6" title="Jump back to footnote 6 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:7">
<p>Fast alle Startups folgen zunächst diesem Schema. Twitter war zum Beispiel noch <em>nie</em> profitabel: <a href="http://www.theguardian.com/technology/2014/feb/06/twitter-share-price-slowing-growth">Twitter share price tumbles further after news of slowing growth (The Guardian)</a>. <a class="footnote-backref" href="#fnref:7" title="Jump back to footnote 7 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:8">
<p>Man könnte das Argument durchaus weiter führen – wenn es einen Markt der Staaten gibt, dann muss dieser Markt sich auf die gesamte wirtschaftspolitische Ebene durchdringen. Wenn man die Freiheit dieses Markts ernst nimmt, ist <em>jede</em> Art der Einschränkung von Wirtschafts- und Steuerpolitik aus Sicht des Wirtschaftsliberalismus abzulehnen. Auch (z.B.) Kommunismus sollte demnach ein Teilnehmer am „freien“ Markt der Staaten sein dürfen. Um den Kommunismus auszuschließen, bedürfte es zusätzlicher politisch-philosophischer Prinzipien (wie der Setzung des Eigentumsrechts als Grundrecht) – ironischerweise beschränken solcherart Prinzipien immer zugleich die Freiheit des Markts. Ein <em>allumfassender, freier Markt</em> ist (selbst als Idealtypus) ein komplett bedeutungsloses Konzept. <a class="footnote-backref" href="#fnref:8" title="Jump back to footnote 8 in the text">↩</a></p>
</li>
</ol>
</div>Der „Wolf of Wall Street“ zwischen Absurdität und Hoffnung2014-02-07T00:00:00+01:002014-02-07T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2014-02-07:/posts/2014/02/07/wolf-of-wall-street-absurditaet-hoffnung/<p>Der <em>Wolf of Wall Street</em> kann als Auseinandersetzung mit der Absurdität der Welt verstanden werden. Jordan Belfort verkörpert zunächst Camus’ Ideal des absurden Helden, weil gegen die Absurdität der Welt keine Hoffnung sucht und stattdessen gegen die Notwendigkeit der Sinnsuche aufbegehrt. Wie Sisyphos’ vom sinnlosen Kampf gegen den Berg erfüllt ist, ist Belfort vom sinnlosen Kampf für das Geld erfüllt. Doch dieses absurde Element ist bei Belfort nicht vollkommen. Seine Verbundenheit zu seiner Firma und seinen Mitarbeitern gibt ihm doch noch Hoffnung. Der einzige Wert, den er anerkennt ist die Aufopferung die <em>richtige Art</em> von Arbeit; dadurch versucht er, doch noch Sinn in die Welt zu bringen. Das Publikum verachtet Belfort letztlich nicht wegen seiner egoistischen Exzesse, sondern aufgrund des Widerspruchs zwischen scheinbar absurdem Handeln und eigentlichem biederem Arbeitsethos.</p><p>Ich möchte einige der philosophischen Fragen, die im <em>Wolf of Wall Street</em> – glücklicherweise recht unaufdringlich – aufgeworfen werden, behandeln und mich dabei an Camus’ <em>Mythos des Sisyphos</em><sup id="fnref:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup> orientieren. Es wird also weniger der ästhetische denn der philosophische Blickwinkel angenommen werden. </p>
<h2>Camus, der Wolf und das Absurde</h2>
<p>Die absurde Geldgier der Hauptcharaktere des <em>Wolf of Wall Street</em>, insbesondere jene Jordan Belforts, scheint auf den ersten Blick das Hauptthema des Films zu sein. Das pathologisch-lächerliche an Belforts Verhalten wird auch äußerst gelungen von Martin Scorcese und Leonardo DiCaprio vermittelt – die dafür eingesetzte Verbindung von Realismus, Satire und gekonntem Slapstick ist meines Erachtens ein Musterbeispiel für gelungene populäre Komödie. Doch es bleibt nicht bei der erheiternden Verhöhnung des drogensüchtigen, intellektuell und emotional verwahrlosten Milieus der Aktienhändler.</p>
<p>Das <em>Absurde</em> ist, glaube ich, eine essentielle Kategorie, um den <em>Wolf of Wall Street</em> zu begreifen. Für Camus, der den Begriff stark geprägt hat, stellt die Auseinandersetzung mit dem Absurden das einzig relevante philosophische Problem dar: Wie kann der Mensch mit einer ihm fremden, ungreifbaren Welt, mit der Sinnlosigkeit des Lebens umgehen? Genauer: Wie kann er sich der zunächst aufdrängenden Lösung – dem Suizid – entziehen?</p>
<p>Camus antwortet auf die Frage folgendermaßen. Statt des Versuchs, sich <em>gegen</em> das Absurde zu wehren, statt der Suche nach Hoffnung und Sinn, welche letztlich das Absurde nur <em>ignoriert</em>, ist der einzige Ausweg desjenigen, der das Absurde ernstnimmt, der <em>Aufstand</em>, die <em>Revolte</em> gegen die Notwendigkeit eines Sinns überhaupt. Für Camus ist neben Don Juan (auch hier wäre eine Parallele zu Belfort angebracht) insbesondere Sisyphos, der verdammt ist,<sup id="fnref:2"><a class="footnote-ref" href="#fn:2">2</a></sup> einen Stein fortwährend auf einen Berg hinaufzurollen, paradigmatisch für dieses trotzige, lebensbejahende Aufbegehren, das sich gegen den Suizid als einzigen Ausweg verwehrt. Letztendlich kann selbst das Glück nur aus einem solch sinnlosen Kampf entspringen:</p>
<blockquote>
<p>„Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“<sup id="fnref3:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup></p>
</blockquote>
<p>Ein solcher Sisyphos scheint auch Belfort zu sein. Er sucht keine Hoffnung, keinen Sinn im Leben. Seine einzige Aufgabe ist es, zu kämpfen, zu leben – auch wenn er sich dabei selbst gewissermaßen zerfrisst. Das ist das zutiefst Menschliche, das Sympathische an Belfort, das von DiCaprio unterschwellig vermittelt wird. <em>Wir verstehen Jordan Belfort</em>, wir verstehen ihn, wenn er die Grenzen, die ihm durch die Welt auferlegt wurden, ja sogar die ethischen und „dianoetischen Tugenden“ (wie Vernunft, Weisheit)<sup id="fnref:3"><a class="footnote-ref" href="#fn:3">3</a></sup> <em>negiert</em>, denn dadurch bejaht er auch das Leben. Jordan Belfort würde sich niemals umbringen, er weiß sich aber zum Tode verurteilt – auch hier ist ein Zitat Camus’ treffend:</p>
<blockquote>
<p>„Das Gegenteil des Selbstmörders ist der zum Tode verurteilte.“<sup id="fnref2:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup></p>
</blockquote>
<p>Diese Interpretation erklärt nicht nur die relativ starke Identifikation des Publikums mit dem – eigentlich abstoßenden – Hauptcharakter, sondern löst auch das scheinbare Paradoxon zwischen Hedonismus und Geldgier auf. Warum sollte Belfort nach immer mehr Geld streben, gefährliche, zuweilen auch lächerliche Methoden wählen (die ihm schließlich zum Verhängnis werden), um für ihn eigentlich unnötige Gewinne zu erzielen, wo er sich doch als hedonistischen Egoisten darstellt? Die Antwort ist <em>nicht</em>, dass Belfort <em>zunächst</em> ein Genießer gewesen sei, welcher der Geldgier, der Drogen- und Sexsucht „erlegen“ sei. Er war eigentlich <em>nie</em> an seinem eigenen physischen und psychischen Wohlergehen interessiert, sondern immer nur an der Grenzüberschreitung, und wird womöglich (wie Camus’ Sisyphos) dabei trotzdem in gewisser Weise <em>glücklich</em>.</p>
<h2>Des Wolfs letzter Wert: Arbeit</h2>
<p>Im Verlauf des Films tritt allerdings noch ein anderer Aspekt auf, der im Kontext des Absurden betrachtet werden muss und der schlussendlich Jordan Belfort (wie auch seine Kumpanen) deutlich vom Camus’schen Ideal des absurden Helden entfernt. In der meiner Meinung prägnantesten Szene des Films stellt sich Belfort seinen Mitarbeitern, erklärt ihnen seinen Rücktritt, entscheidet sich aber letztlich doch (jeder Rationalität zum Trotz) dazu, sein Unternehmen weiterzuführen. Soweit ist die Handlung auch durchaus noch als irrationale <em>Revolte</em> im Sinn Camus’ zu verstehen. </p>
<p>Belforts eigentliche Triebfeder ist aber eigentlich eine andere. Seine Loyalität gilt nur seiner Arbeit und seinen Mitarbeitern. Die brillant-lächerlichen Reden, die er hält, um diese zu motivieren (zum Beispiel vor dem Börsengang von Steve Madden) sind <em>ehrlich</em>. Er glaubt daran, einer auserwählten Gruppe anzugehören, die sich durch außerordentliche Fähigkeiten, aber auch durch eine spezifische Form der <em>Arbeitsmoral</em> auszeichnet. Die Mitarbeiter lieben ihn und er liebt sie –<sup id="fnref:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup> nicht weil sie zusammen Exzesse feiern, sondern weil sie <em>gemeinsam arbeiten</em>. </p>
<p>Es scheint zunächst so, als sei Arbeit im gezeigten Milieu der Investmentbroker nur <em>Mittel zum Zweck</em> (für Macht, Luxus, sexuelle Befriedigung, etc.), doch der Schein trügt. Die Szene, in der ein Mitarbeiter sein Fischglas reinigt, ist dafür beispielhaft. Es stellt sich heraus, dass die Produktivität komplett gleichgültig ist. Schon die bloße Intention, sich der Arbeit nicht komplett hinzugeben, ist eine <em>Sünde</em>, die einen schamvollen Ausschluss aus dem Kreis der Erhabenen zur Folge hat.</p>
<p>Belfort hegt also noch Hoffnung in eine verquere, wenn man so will, „aristokratische“ Arbeitsmoral. Er vermag diese Hoffnung auch anderen zu vermitteln. In den letzten Sekunden des Films wird gezeigt, wie Belfort einen ganzen Saal in einem Motivationsseminar fesselt. Es wird dadurch deutlich, dass das Absurde, das Aufbegehrende nur sekundär Belforts Handeln bestimmen; im Grunde charakterisiert ihn vielmehr ein messianisches Element, mit dem er sich selbst und seinen Anhängern Hoffnung gibt – die Hoffnung, durch eine gewisse Form der Arbeit die Erlösung aus der Absurdität zu finden. <em>Arbeit als einziger Ausweg</em>, als letzte Möglichkeit, das Absurde zu verdrängen und zu Würde zu gelangen, das ist die eigentliche Botschaft des Jordan Belfort:</p>
<blockquote>
<p>Belfort ist ein Lamm, das sich als Wolf ausgibt.</p>
</blockquote>
<p>Kurioserweise ist es auch diese Verehrung des Arbeitsideals, die den Zusehern als <em>eigentlich</em> geschmacklos erscheint und an der ihr Mitgefühl für Belfort letztlich zugrunde geht. Nicht wegen seiner Geldgier, nicht wegen seiner Drogensucht, nicht wegen seines Egoismus, nicht einmal wegen seiner intellektuellen Beschränktheit verachten wir ihn, sondern aufgrund des Widerspruchs zwischen dem <em>Schein des absurden Helden</em>, den sich Belfort geben will und seinem <em>ordinären, lächerlich aufrichtigen Arbeitseifer</em>:</p>
<div class="footnote">
<hr>
<ol>
<li id="fn:1">
<p>Albert Camus: <em>Le mythe de Sisyphe</em>, Paris: Gallimard (1942) <a class="footnote-backref" href="#fnref:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref2:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref3:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:2">
<p>Es gibt verschiedene <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Sisyphus">Varianten</a> zur Vorgeschichte dieser Bestrafung durch die Götter. <a class="footnote-backref" href="#fnref:2" title="Jump back to footnote 2 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:3">
<p>Siehe Aristoteles’ <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Nikomachische_Ethik">Nikomachische Ethik</a>. <a class="footnote-backref" href="#fnref:3" title="Jump back to footnote 3 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:4">
<p>In der vielleicht gelungensten Szene bekundet Belfort seinen Mitarbeiten seine Liebe: „I fuckin’ love you too. And I love all of you!“. Das Abstoßende daran ist nicht, dass die Liebesbekundung unaufrichtig wäre, sondern dass sie nur auf einer fast religiösen Überhöhung des Werts der Arbeit beruht. Für die „Wölfe“ ist die menschliche Würde kein absoluter, intrinsischer Wert, sondern nur durch Arbeit konstituiert. <a class="footnote-backref" href="#fnref:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a></p>
</li>
</ol>
</div>Kunst, Regeln und Handwerk2014-01-30T00:00:00+01:002014-01-30T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2014-01-30:/posts/2014/01/30/kunst-regeln-handwerk/<p>Kunst <em>gehorcht</em> zwar keinen Regeln, muss aber dennoch Regeln <em>kennen</em> und <em>befolgen können</em>. In dieser Hinsicht lässt sich eine Parallele zum Handwerk ziehen: Obwohl die Zielsetzungen von Handwerk und Kunst (als Idealtypen) unterschiedlich sind, greifen beide auf allgemeine und darüber hinausgehende individuelle Kunstfertigkeit zurück. Das Verhältnis von Handwerk und Kunst geht weiter – jede reale (nichtidealisierte) künstlerische Tätigkeit ist eine Mischung aus beiden Idealtypen.</p><h2>Regeln</h2>
<p>Welcher Mittel kann und soll sich die Kunst bedienen, um ihre Ziele – Kunst zu lehren und Kunst zu schaffen – zu verwirklichen? Zunächst scheint es so, als würde jedwede Einschränkung der künstlerischen Freiheit auch den Raum der ästhetischen Möglichkeiten einengen, und dass sie aus diesem Grund abgelehnt werden müsse.</p>
<p>Doch gerade darin, dass das Wesen der Kunst (in gewisser Weise der Wissenschaft ähnelnd) Lehre und „Forschung“ vereint, versteckt sich bereits eine gewichtige Einschränkung des absoluten künstlerischen Freiheitsideals. Diese manifestiert sich dadurch, dass das Schaffende, das Revolutionäre in der Kunst sich nur auf ein vorhandenes Gerüst stützten kann. Damit es etwas <em>Neues</em> gibt, muss es sich auf ein etabliertes <em>Altes</em> beziehen und davon abgrenzen.<sup id="fnref:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup> Es ist kein Zufall, dass es verschiedene Kunstgattungen, -strömungen, -schulen etc. gibt; vielmehr ist es konstitutives Element der Kunst.</p>
<p>Diese triviale Erkenntnis hat die Konsequenz, dass die Mittel, derer sich die Kunst bedienen kann, immer durch <em>Regeln</em> eingeschränkt werden. Diese Regeln sind nicht <em>absolut</em> (wie sie es zum Beispiel im wissenschaftlichen Bereich wären), weil sie prinzipiell alle übertreten und gewandelt werden können. Jedoch folgt ein solcher Regelbruch selbst Regeln <em>zweiter Ordnung</em>: Er muss bewusst geschehen, setzt also zumindest die <em>Kenntnis</em> der Regeln (erster Ordnung) voraus. Darüber hinaus muss ihm eine künstlerisch-ästhetische Intention zugrunde liegen, was dazu führt, dass Regelverletzungen die <em>Ausnahme</em> bleiben. Willkür oder Ungeschicklichkeit sind keine künstlerischen Tugenden.</p>
<h2>Kunstfertigkeit und Handwerk</h2>
<p>Regeln zu <em>kennen</em> und auch befolgen <em>zu können</em> sind demnach Voraussetzungen, um Kunst zu schaffen. Es gibt also so etwas wie <em>Kunstfertigkeit</em>. Dieser Begriff legt es nahe, das Verhältnis von Kunst und Handwerk etwas genauer zu beleuchten.</p>
<p>Als „Handwerk“ möchte ich die Tätigkeit bezeichnen, die individuell hergestellte Waren und Dienstleistungen hervorbringt. Damit gehen <em>Spezialwissen</em> und <em>-fertigkeiten</em> einher, sowohl solche die für das gesamte Handwerk konstitutiv sind als auch jene, die darüber hinaus gehen und nur einem einzelnen Handwerker zuzuordnen sind.<sup id="fnref:2"><a class="footnote-ref" href="#fn:2">2</a></sup> </p>
<p>Im Unterschied zur Kunst zielt Handwerk <em>primär</em> darauf ab, von außen vorgegebene Ziele zu verwirklichen, der selbstbestimmte ästhetische Aspekt kann sich dabei durchaus entfalten, aber nur sekundär, im Rahmen der jeweiligen Vorgabe.</p>
<p>Wiewohl ihre Ziele unterschiedlich sind, so sehr ähneln sich doch das künstlerische und das handwerkliche <em>Handeln</em> – beide sind verwandte Formen des <em>Regel(nicht)folgens</em>: In beiden Fällen gibt es Regeln, deren Kenntnis und potentielle Befolgung die einen <em>Grundstock</em> an Kunstfertigkeit erfordert, zugleich aber auch die Möglichkeit, darüber hinaus individuelle Kunstfertigkeit einzubringen und die Kunst oder das Handwerk weiterzuentwickeln.</p>
<p>Man könnte also zusammenfassen:</p>
<blockquote>
<p>„Handwerk wird dann zur Kunst, wenn es sich selbst ästhetische Zwecke setzt.“</p>
</blockquote>
<p>Natürlich sind „Kunst“ und „Handwerk“ wie ich versucht habe, sie begrifflich zu fassen, lediglich <em>Idealtypen</em><sup id="fnref:3"><a class="footnote-ref" href="#fn:3">3</a></sup> – keiner der beiden „existiert“ in Reinform. Jede künstlerische Tätigkeit ist einzigartig und mehr oder weniger externen, nicht-ästhetischen Zwecken geleitet. Dennoch kann eine grobe Klassifizierung versucht werden: Schauspiel oder Architektur sind zum Beispiel <em>als Kunstgattung</em> näher am Handwerk als Malerei und Schriftstellerei,<sup id="fnref:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup> was nicht bedeutet, dass ein <em>bestimmter</em> Schriftsteller nicht handwerklicher als eine <em>bestimmte</em> Schauspielerin arbeiten kann. </p>
<p>Künstlerische Tätigkeiten sind also in zweifacher Weise handwerklich – einerseits weil der Idealtypus der Kunst mit dem Idealtypus des Handwerks die Kunstfertigkeit als Grundlage teilt, andererseits weil es in Realität nur Hybride zwischen diesen beiden Realtypen gibt. Kunst geht in graduell in Kunsthandwerk (also Handwerk mit künstlerischem Anspruch) über.</p>
<div class="footnote">
<hr>
<ol>
<li id="fn:1">
<p>In der Hegel’schen dialektischen Terminologie wird das Bestehende im und vom Neuen <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Aufheben">„aufgehoben“</a>. <a class="footnote-backref" href="#fnref:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:2">
<p>Diese beiden Stufen finden sich auch in der Handwerkerausbildung – <em>Gesellen</em> erwerben das gemeinsame Fundament, <em>Meister</em> individuelle, darüber hinausgehende Zusatzfertigkeiten. <a class="footnote-backref" href="#fnref:2" title="Jump back to footnote 2 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:3">
<p>Für <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Heinrich_Rickert_%28Philosoph%29">Heinrich Rickert</a> und <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Weber">Max Weber</a> ist ein <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Idealtypus">Idealtypus</a> ein vereinfachtes Konzept, dass in der Realität nicht exakt realisiert ist, aber die signifikanten Grenzen zur empirischen Beschreibung aufzuzeigen erlaubt. <a class="footnote-backref" href="#fnref:3" title="Jump back to footnote 3 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:4">
<p>Diese sehr krude Einteilung impliziert kein Werturteil – „reinere“ Kunst ist nicht gleichbedeutend mit „besserer“ Kunst. <a class="footnote-backref" href="#fnref:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a></p>
</li>
</ol>
</div>Geschlechtsneutrale Sprache: Ambition und Grenzen2014-01-28T00:00:00+01:002014-01-28T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2014-01-28:/posts/2014/01/28/gender-sprache-ambition-und-grenzen/<p>Der Versuch, Sprache „geschlechtsneutral“ zu formulieren gründet in den Annahmen, dass Sprache ein wesentlicher Vektor für Geschlechterungerechtigkeiten ist, und dass dieser Effekt durch eine aktive Sprachreform reduziert werden kann. „Sichtbarmachen“ von Frauen und „Unsichtbarmachen“ von Geschlecht in der Sprache werden von öffentlicher Seite als Umsetzung der Sprachreform propagiert – zwischen beiden Prinzipien besteht jedoch eine starke Spannung. Zudem ist die Tragweite von aktiver Sprachreform, die von einer Minderheit ausgeht, stark eingeschränkt. Sie kann nur durch (natürlich demokratisch schwer legitimierbare) sprachexterne Machtausübung funktionieren.</p><h2>Ambition</h2>
<p>Die feministische Sprachanalyse und -kritik geht im deutschen Sprachraum auf die späten 1970er Jahre zurück.<sup id="fnref:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup> Ein essentieller Teil davon betrifft das Verhältnis zwischen (grammatikalischem) Genus und (biologischem) Geschlecht. Eine der Annahmen ist, dass eine Bezeichnung im Maskulinum die Vorstellung einer männlichen Person auslöse; besonders thematisiert wird in diesem Kontext das <em>generische Maskulinum</em>, also die Verwendung des Maskulinums für Gruppen gemischten Geschlechts.<sup id="fnref:2"><a class="footnote-ref" href="#fn:2">2</a></sup></p>
<p>Neben dieser <em>deskriptiven</em> Hypothese besteht auch ein <em>normativer</em> Aspekt: Sprache muss <em>verändert</em> werden, um eine effektive Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern herzustellen. Dieser Anspruch wurde seit den 1990er Jahren in Österreich, Deutschland und der Schweiz vonseiten der Politik aufgegriffen und hat sich im politischen Bereich mittlerweile etabliert.<sup id="fnref:3"><a class="footnote-ref" href="#fn:3">3</a></sup></p>
<p>Die Grundannahmen, um die Verwendung einer „geschlechtergerechten“ Sprache einzufordern sind folgende:</p>
<ol>
<li>Die „Standardsprache“ (insbesondere das generische Maskulinum) <em>ist</em> nicht geschlechterneutral (deskriptiv).</li>
<li>Sprache <em>soll</em> geschlechtsneutral sein, weil sich dadurch bestehende Geschlechterungleichheiten signifikant reduzieren lassen (normativ).</li>
<li>Sprache kann <em>aktiv</em> reformiert und dabei geschlechtsneutral gestaltet werden (deskriptiv).</li>
</ol>
<p>Die dritte Annahme ist meines Erachtens die wichtigste und wird dementsprechend auch in öffentlichen Leitfäden immer wieder betont:</p>
<blockquote>
<p>„Was heute noch ‘komisch’ klingt, kann morgen schon die Norm sein. Was zur Norm wird, bestimmen die Mitglieder der Sprachgemeinschaft durch ihr Verhalten entscheidend mit.“ (Braun 2001)<sup id="fnref4:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup></p>
<p>„Sprache befindet sich in einem ständigen Veränderungsprozess und ist deshalb immer gestaltbar.“ (Cochlar 2011)<sup id="fnref4:5"><a class="footnote-ref" href="#fn:5">5</a></sup></p>
</blockquote>
<p>Die zwei Maximen, die zu einer geschlechtsneutralen Sprache führen sollen, sind <em>Sichtbarmachung der Frauen</em> (zum Beispiel durch spezifische Berufsbezeichnungen) und <em>Symmetrisierung des Geschlechts</em> (durch neutrale Formulierung wie dem in Österreich geläufigen <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Binnen-I">„Binnen-I“</a> oder der expliziten Nennung beider Geschlechter).<sup id="fnref:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup><sup id="fnref:5"><a class="footnote-ref" href="#fn:5">5</a></sup><sup id="fnref:6"><a class="footnote-ref" href="#fn:6">6</a></sup></p>
<p>Zusammenfassend ist der Anspruch der Proponenten von „geschlechtsneutraler“ Sprache also jener: „Sprache kann und muss aktiv geändert werden, weil dadurch gesellschaftliche Ungleichheiten verringert werden können“. Ich möchte im Folgenden nur auf die Umsetzung und Umsetz<em>barkeit</em> dieses Anspruchs eingehen und nicht näher auf die empirische und normative Begründung (also die ersten beiden Annahmen). Das bedeutet nicht, dass beide letzteren Punkte unproblematisch wären.</p>
<h2>Sprechakttheorie</h2>
<p>Die <em>Sprechakttheorie</em> geht von der Feststellung aus, dass Sprache nicht nur in <em>Äußerungen</em> (von bedeutungsvollen Propositionen) sondern immer auch in <em>Handlungen</em> besteht. Neben Lauten, Wörtern und damit assoziierten Bedeutungen gibt es <em>immer</em> noch eine andere Ebene – durch Sprache wird etwas <em>gemacht</em>, etwas in der Welt verändert.<sup id="fnref:7"><a class="footnote-ref" href="#fn:7">7</a></sup> Wenn eine Frage gestellt, ein Wunsch geäußert wird, auf eine Frage keine Antwort gegeben wird – immer grenzt sich die Sprechhandlung von Alternativen ab und wird so wirksam. <em>Es gibt keine wechselwirkungsfreie Sprache</em>.</p>
<p>Die Annahmen 1-3, die zur Begründung einer „geschlechtergerechten“ Sprache herangezogen werden, beruhen im Wesentlichen auf dieser sprechakttheoretischen Feststellung, dass Sprache immer auch Handeln ist (wie genau die Theorie ausformuliert wird, ist hier nicht relevant) und ich werde im Folgenden auf diesem Modell aufbauen.</p>
<h2>„Sichtbarmachen“ durch „Unsichtbarmachen“?</h2>
<p>Welche <em>Akte</em> soll also die reformierte Sprache unterdrücken und welchen befördern? Die Unsichtbarmachung der Frauen soll durch eine Sichtbarmachung ersetzt werden und die asymmetrische Behandlung der Geschlechter soll durch eine symmetrische Behandlung ersetzt werden. </p>
<p>Unter „Sichtbarmachung von Frauen“ wird unter anderem die Verwendung von geschlechter<em>spezifischen</em> Titeln und akademischer Grade gefordert:</p>
<blockquote>
<p>„Die korrekte Schreibweise ist die, die Frauen und Männer sichtbar macht. Das heißt, auch bei Abkürzungen sind die weiblichen Endungen zu verwenden.“ (Cochlar 2011)<sup id="fnref3:5"><a class="footnote-ref" href="#fn:5">5</a></sup></p>
</blockquote>
<p>Unter Symmetrisierung wird die Verwendung geschlechter<em>symmetrischer</em> Formulierungen, wie der Paarform, dem „Binnen-I“ oder geschlechtsneutraler Formulierungen gefordert. Damit soll die rein männliche Assoziation des generischen Plurals durch eine beide Geschlechter einbeziehende Vorstellung ersetzt werden.<sup id="fnref2:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup><sup id="fnref2:5"><a class="footnote-ref" href="#fn:5">5</a></sup><sup id="fnref2:6"><a class="footnote-ref" href="#fn:6">6</a></sup> Ziel ist insbesondere:</p>
<blockquote>
<p>„Dabei wird Leserinnen die Möglichkeit gegeben, sich mit verschiedenen Rollen zu identifizieren, auch mit solchen, in denen noch wenige Frauen zu finden sind.“ (Braun 2001)<sup id="fnref3:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup></p>
</blockquote>
<p>Diese Zielsetzung ist jedoch mit der Sichtbarmachung einzelner Frauen inkompatible, weil diese zwangsläufig einen Aufschluss auf eine <em>allgemein</em> bestehende Rollenverteilung gibt. Wenn in einem Bereich nur „Mag.“ und keine „Mag.a” auftauchen, wird er eindeutig als männlich identifiziert.</p>
<p>Es besteht also eine Spannung zwischen dem Versuch, einen Sachverhalt (dass es in gewissen Berufen Frauen gibt) sichtbar werden zu lassen und dem entgegengesetzten Versuch, einen anderen Sachverhalt (dass es in ebendiesen Berufen oftmals nur <em>sehr wenig</em> Frauen gibt) unsichtbar zu machen. </p>
<p>Ich glaube, dass die sprachliche „Sichtbarmachung“ von Frauen prinzipiell wesentlich problematischer ist als die „Unsichtbarmachung“ der Männer – dass zusätzliche sprachliche Geschlechterdifferenzen <em>eigentlich</em> im Sinne der Geschlechtsneutralität seien, ist schwer zu argumentieren. Deshalb lässt sich die Spannung am einfachsten dadurch lösen, dass die spezifische „Sichtbarmachung von Frauen“ als praktische Umsetzung des sprachlichen Reformprogramms aufgegeben wird. Hier stößt die feministische Sprachreform also <em>noch nicht</em> an ihre Grenzen. </p>
<h2>Die Grenzen der „aktiven Sprachgestaltung“</h2>
<p>Es bleibt noch die Frage zu klären, in welchem Rahmen sich die „aktive Gestaltung“ der Sprache bewegen kann. Ich möchte zwei Grenzen aufzeigen, welche das Potential dieser Art bewusster Eingriffe in die Sprache stark einschränken. Beide haben ihren Ursprung in der <em>Kontextualität</em> der Sprache.</p>
<p>Der <em>Kontext</em> eines Sprechaktes beinhalte alle Umstände, auf die sich der Sprechakt stützen kann, ohne sie sprachlich explizieren zu müssen.<sup id="fnref:8"><a class="footnote-ref" href="#fn:8">8</a></sup> So ist natürlich die Bedeutung von „hier“, „jetzt“ und „ich“ nur innerhalb eines Kontextes festgelegt, aber auch komplexere Sprachfunktionen, wie Beschimpfung und Witz bedürfen immer eines (von einer mehr oder weniger breiten Allgemeinheit) geteilten gemeinsamen Kontextes. Umso umfangreicher der gemeinsame Kontext, desto reduzierter ist die rein sprachliche Kommunikation und desto spezifischer unterscheidet sich auch die verwendete Sprache von der (vom Kontext weniger abhängigen) „Standardsprache“.</p>
<p>Eine Ebene, auf der eine solche Sprachvariation aufgrund der gemeinsamen nichtsprachlichen Basis ausgemacht werden kann, ist der <em>Soziolekt</em>.<sup id="fnref:9"><a class="footnote-ref" href="#fn:9">9</a></sup> Darunter verstehe ich eine Sprachvariation, die soziale aber auch geographische und temporelle Komponenten beinhaltet und sich von der Standardsprache signifikant unterscheidet. </p>
<p>Die Bestrebung, Sprache aktiv zu verändern, kann als <em>definitorisches Merkmal</em> eines gewissen Soziolekts angesehen werden. Wer eine geschlechtsneutrale Sprache verwendet, grenzt sich dadurch von jenen ab, die es nicht tun – und setzt diese sprachliche Abgrenzung bewusst. Es ist essentiell, dass die Gruppe, welche sich dieses Soziolekts bedient (zumindest anfangs), nur kleine <em>Minderheit</em> innerhalb der gesamten Gruppe der Sprecher darstellt und sich auch als solche begreift. Aktive Sprachreform ist immer <em>linguistische Pionierarbeit</em>.</p>
<p>Die erste Grenze der aktiven Sprachgestaltung ergibt sich aus ebendieser Minderheitenstellung. Die sprachkonservativere Mehrheit ist sich der Abgrenzung ebenso bewusst wie die Minderheit – ersterer ist der geschlechtsneutrale Soziolekt <em>fremd</em> und die versuchte Einflussnahme ist für sie vollkommen durchsichtig.<sup id="fnref:10"><a class="footnote-ref" href="#fn:10">10</a></sup> Es braucht deshalb immer auch <em>zusätzlichen, sprachexternen</em> Grund, um den Soziolekt der „Sprachreformer“ zu übernehmen. Die linguistische Trägheit, die für große Gruppen besonders ausgeprägt ist, muss durch <em>Kräfte außerhalb der Sprache</em> überwunden werden – eine rein sprachliche Beeinflussung scheitert zunächst an der Durchsichtigkeit der zwischen Soziolekten abgesteckten Grenzen und an schwachen Ausgangsposition der „Reformer“.</p>
<p>Die zweite Grenze ergibt sich für die Sprecher des geschlechtsneutralen Soziolekts selbst. Letztere wählen, wie schon erwähnt, ihre Sprachvariante ganz bewusst, weil sie die Argumentation, die ich im ersten Abschnitt des Artikels dargestellt habe, für gültig befinden. Doch dadurch widerlegen sie zugleich die Annahme, dass Sprache <em>durch sich selbst</em> Denkmuster schaffen kann. Bei den Proponenten der geschlechtsneutralen Sprache zeigt sich gerade, dass normativ begründete Sprachmodifikationen sich nicht unbewusst etablieren, sondern immer bewusst hergestellt und begründet werden müssen (zumindest insofern sie nicht in der Standardsprache Einzug gefunden haben). Das Programm der feministischen Linguistik geht von der Wirkmächtigkeit von Sprache aus, zeigt aber durch seine Existenz und Anwendung dass diese Hypothese nur eingeschränkt anwendbar ist.</p>
<p>Kurz zusammengefasst: Die aktive Beeinflussung einer Sprache nach normativen Kriterien bedarf einer ständigen äußeren Disziplinierung – sowohl für die Proponenten der Sprachreform selbst als auch um die Mehrheit davon zu überzeugen. Diese Notwendigkeit schränkt die Wirkung des Reformprogramms „geschlechtsneutrale Sprache“ stark ein. Es ist eben nicht so, dass eine Sprachreform ohne äußere Zwänge (die selbst in irgend einer Weise politisch legitimiert werden müssen) durchgesetzt werden kann. Dieselbe Grenzziehung lässt sich im Wesentlichen auf <em>jeden</em> Versuch aktiver Sprachgestaltung – also „politisch korrekter“ Sprache – ummünzen. In erster Näherung gilt: Je größer der versuchte Eingriff in die Sprache (je deutlicher die Trennung zwischen dem sich dadurch konstituierenden Soziolekt und der Standardsprache) und damit auch die notwendige Disziplinierung, desto eingeschränkter ist der Effekt der Sprachreform durch eine Minderheit.</p>
<div class="footnote">
<hr>
<ol>
<li id="fn:1">
<p>Trömel-Plötz und Pusch von der Universität Konstanz waren die Vorreiterinnen der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Feministische_Linguistik">feministischen Linguistik</a>. <a class="footnote-backref" href="#fnref:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:2">
<p>Braun, Friederike <em>et al.</em> (1998): Können Geophysiker Frauen sein? Generische Personenbezeichnungen im Deutschen. In <em>Zeitschrift für Germanistische Linguistik</em> 26:3, S. 265-283. <span class="caps">DOI</span>: <a href="http://dx.doi.org/10.1515/zfgl.1998.26.3.265">10.1515/zfgl.1998.26.3.265</a> <a class="footnote-backref" href="#fnref:2" title="Jump back to footnote 2 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:3">
<p>Eine <a href="http://www.vielefacetten.at/technik-ingenieurwissenschaften/themenfelder/geschlechtergerecht-formulieren/sprach-leitfaeden/">Auswahl</a> an Leitfäden für geschlechtergerechte Sprache. <a class="footnote-backref" href="#fnref:3" title="Jump back to footnote 3 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:4">
<p>Braun, Friederike; Ministerium für Justiz, Frauen, Jugend und Familie des Landes Schleswig-Holstein (Hg.) (2000): <a href="http://www.vielefacetten.at/fileadmin/vielefacetten.at/uploads/docs/Braun_MfJFJF_Schleswig-Holstein_2000_Mehr_Frauen_in_die_Sprache.pdf">Mehr Frauen in die Sprache. Leitfaden zur geschlechtergerechten Formulierung</a>. Kiel <a class="footnote-backref" href="#fnref:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref2:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref3:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref4:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:5">
<p>Cochlar <em>et al.</em>; Stadt Wien (2011): <a href="http://www.vielefacetten.at/fileadmin/vielefacetten.at/uploads/docs/Stadt_Wien_2011_Leitfaden_geschlechtergerechtes_Formulieren_diskriminierungsfreie_Bildsprache.pdf">Leitfaden für geschlechtergerechtes Formulieren und eine diskriminierungsfreie Bildsprache</a>. Wien <a class="footnote-backref" href="#fnref:5" title="Jump back to footnote 5 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref2:5" title="Jump back to footnote 5 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref3:5" title="Jump back to footnote 5 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref4:5" title="Jump back to footnote 5 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:6">
<p>Wetschanow, Karin; Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur (Hg.) (2012): <a href="http://www.vielefacetten.at/fileadmin/vielefacetten.at/uploads/docs/Wetschanow_BMUKK_2012_Geschlechtergerechtes_Formulieren.pdf">Geschlechtergerechtes Formulieren</a>. 3. Auflage, Wien <a class="footnote-backref" href="#fnref:6" title="Jump back to footnote 6 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref2:6" title="Jump back to footnote 6 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:7">
<p>Austin, ein Begründer der <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Sprechakttheorie">Sprechakttheorie</a>, bezeichnet die erste Ebene als „lokutionär“, die zweite als „illokutionär“. Zusätzlich dazu kann bei bestimmten Sprechakten noch eine dritte („perlokutionäre“) Ebene hinzukommen, bei der die Intention besteht, über die konventionelle illokutionäre Ebene hinauszugehen. Vgl. Wunderlich (1981): Grundlagen der Linguistik. 2. Auflage, Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 321ff. <a class="footnote-backref" href="#fnref:7" title="Jump back to footnote 7 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:8">
<p>Vgl. Wunderlich 1981, S. 24 <a class="footnote-backref" href="#fnref:8" title="Jump back to footnote 8 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:9">
<p>Wunderlich stellt eine Hierarchie der sprachlichen Homogenität auf, auf jener der Soziolekt als homogenes Sprachsystem einer Gruppe auf der zweiten Stufe (nach dem individuellen Sprachsystem stehen) steht. Auf den höheren Stufen (mit reduziertem gemeinsamen Kontext) steht eine Familie von Soziolekten, eine Einzelsprache zu einer gegebenen Zeit, Einzelsprache in allen Stadien, eine Sprachfamilie, etc. (vgl. Wunderlich 1981, S. 138f.) <a class="footnote-backref" href="#fnref:9" title="Jump back to footnote 9 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:10">
<p>Ein Bereich, in dem die sprachliche Einflussnahme für die betroffene Gruppe <em>weniger durchsichtig</em> ist, ist sicherlich die Schule. Es kann daran gezweifelt werden, wie eine solche Einflussnahme demokratisch zu rechtfertigen wäre. <a class="footnote-backref" href="#fnref:10" title="Jump back to footnote 10 in the text">↩</a></p>
</li>
</ol>
</div>Über Religion streiten? Ja, aber anders!2014-01-09T00:00:00+01:002014-01-09T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2014-01-09:/posts/2014/01/09/ueber-religion-streiten-ja-aber-anders/<p>Der religionsphilosophische Diskurs wird maßgeblich von zwei Phänomenen beeinflusst. Auf einer Seite stellt ein selbstbewusster radikaler Atheismus Religion als primitiven Irrtum dar, auf der anderen verteidigen sich Gläubige mit dem Verweis auf positive <em>soziale Konsequenzen</em>, die durch religiöse Strukturen vorgebracht werden. Die tiefergehende Frage nach der philosophischen Grundlegung religiöser Inhalte wird nicht behandelt, obwohl sie für das Verhältnis von Staat und Religion wesentlich sind.</p><p>Der gegenwärtige religionsphilosophische Diskurs ist durch zwei problematische Phänomene geprägt:</p>
<ol>
<li>Das selbstbewusste und medienwirksame Auftreten einer Gruppe von Atheisten, die Religion – in welcher Form auch immer – verachtet und eliminieren will.</li>
<li>Der Rückzug der Gläubigen (eventuell als Reaktion auf diese Angriffe) aus der philosophischen Begründung religiöser Inhalte hin zur utilitaristischen Begründung religiöser Gesellschaftsstrukturen. </li>
</ol>
<h2>Atheismus – radikale Verständnislosigkeit für das Religiöse</h2>
<p>Der gegenwärtige radikale Atheismus unterscheidet sich dadurch von früheren atheistischen Strömungen, dass er sich – aufgrund des zunehmenden Schwundes des Religiösen in der Gesellschaft – seines Sieges eigentlich schon sicher sind. Von seiner Seite kommt daher keine ernsthafte Auseinandersetzung mit Religion oder Kirche, sondern die <em>Belehrung</em> oder <em>Parodierung</em> einer als rückständig und gänzlich irrational karikierten Minderheit religiöser Menschen.</p>
<p>Ein paradigmatisches Beispiel dieser Form von Atheismus ist der britische Biologe Richard Dawkins. Für ihn ist Religion ganz einfach eine offensichtlich falsche <em>empirische Erklärung</em> und nichts darüber hinaus:</p>
<blockquote>
<p>„Perhaps there are some genuinely profound and meaningful questions that are forever beyond the reach of science. Maybe quantum theory is already knocking on the door of the unfathomable. But if science cannot answer some ultimate question, what makes anybody think that religion can?“ (Richard Dawkins: <em>The God Delusion</em>, S. 56)<sup id="fnref3:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup></p>
</blockquote>
<p>Weil er Wissenschaft und Religion nicht als getrennte Kategorien anerkennt, kann Dawkins’ Auseinandersetzung mit Religion auch nicht viel weiter gehen – Religion ist nichts weiter als Aberglaube, noch dazu in einer höchst schädlichen Form. Seine bekannte Streitschrift<sup id="fnref:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup> ist deshalb auch nur am Rande eine philosophische Kritik monotheistischer Religionen. Vielmehr beschreibt sie die negativen Seiten religiöser Praxis und liefert eine Anleitung, um sie zu bekämpfen.<sup id="fnref:2"><a class="footnote-ref" href="#fn:2">2</a></sup> Man verspürt in diesem Kampf aber auch eine Ratlosigkeit – <em>warum</em> sind so viele Menschen gläubig?</p>
<blockquote>
<p>„When one person suffers from a delusion, it is called insanity. When many people suffer from a delusion it is called Religion.“ (Richard Dawkins: <em>The God Delusion</em>, S. 5)<sup id="fnref2:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup></p>
</blockquote>
<p><em>Wahnsinn</em> kann man nur belächeln, verachten, eliminieren wollen – nicht aber <em>verstehen</em>.</p>
<p>Genau darin liegt der zentrale Unterschied zur Tradition philosophischer Religionskritik. Im deutschsprachigen Raum sind diesbezüglich Feuerbach und Marx zu nennen, die beide die Religion als etwas Wesentliches im menschlichen Leben vehement angreifen, aber zugleich verstehen und <em>gewissermaßen auch achten</em>. Feuerbach gab vor, selbst christliche Religion (aber gegen die Theologie) zu betreiben:</p>
<blockquote>
<p>„Ich habe nur das Geheimnis der christlichen Religion verraten, nur entrissen dem widerspruchvollen Lug- und Truggewebe der Theologie – dadurch aber freilich ein wahres Sakrilegium begangen.“ (Ludwig Feuerbach: <em>Das Wesen des Christentums</em>, S. 17)<sup id="fnref:3"><a class="footnote-ref" href="#fn:3">3</a></sup></p>
</blockquote>
<p>Marx beschrieb die Tiefe des Leidens, auf welches das Volk die Religion als Antwort geschaffen hat, mit eindrucksvollem Pathos:</p>
<blockquote>
<p>„Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“ (Karl Marx: <em>Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie</em>, S. 71f)<sup id="fnref:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup></p>
</blockquote>
<p>Im Gegensatz zu Dawkins unterschätzten Feuerbach und Marx Religionen und den Ursprung des religiösen Gefühls nicht. Meines Erachtens vermochten sie gerade deshalb gehaltvolle philosophische Kritik daran auszuüben.</p>
<h2>Religionen – Rückzug zum gesellschaftlichen <em>Nutzen</em></h2>
<p>Von religiöser Seite wird auch nicht versucht, die öffentliche Debatte auf eine grundlegende philosophische Ebene zu bringen, sondern oftmals nur der <em>praktische Nutzen</em> religiöser Organisation für die Gesellschaft hervorgehoben. Dabei wird einerseits auf die Arbeit kirchlicher karitativer Organisationen<sup id="fnref:5"><a class="footnote-ref" href="#fn:5">5</a></sup> und andererseits auf die Notwendigkeit eines <em>interreligiösen Dialogs</em><sup id="fnref:6"><a class="footnote-ref" href="#fn:6">6</a></sup> als einendes Element einer zerfallenden Gesellschaft verwiesen.</p>
<p>Während die soziale Rolle der Religionen verstärkt medial aufgegriffen wird, geraten Dogmen und Praxen der unterschiedlichen Religionen in der Debatte zusehends in den Hintergrund (als mehr oder weniger unangreifbare „Privatsache“); fast nie werden sie inhaltlich gegenüber Nichtgläubigen verteidigt. Das <em>Wesen</em> der Religion wird in diesem Prozess <em>relativiert</em> und zugleich gegen jegliche Kritik <em>immunisiert</em>.</p>
<p>Wenn man dieser Argumentation folgt, sollen religiöse Leistungen auf gesellschaftlicher Ebene gewürdigt und (unter anderem finanziell) gefördert werden, religiöse Überzeugungen Einzelner toleriert und respektiert werden, ohne dabei zu hinterfragen <em>was</em> eigentlich <em>warum</em> toleriert und respektiert werden soll. Der verwendete Religonsbegriff ist also leer – mit genau derselben argumentativen Struktur könnte die Existenz von Parteien, Sportvereinen oder beliebiger Fangruppen verteidigt werden. </p>
<h2>Fazit und Ausblick</h2>
<p>Der gegenwärtige Zustand ist dieser: Öffentlichkeitswirksame Atheisten stellen alles Religiöse als blanken Unsinn dar; Gläubige verteidigen sich nicht direkt, sondern verweisen auf den gesellschaftlichen Nutzen der Religion und ein Toleranzgebot gegenüber Religiösem (wobei letzteres völlig unbestimmt bleibt). Die philosophischen Grundlagen der Religion, die Rolle, welche religiöse <em>Inhalte</em> – Dogmen, Riten und Moral – spielen, werden unzureichend thematisiert. Dabei sind genau diese Punkte essentiell um ein Abgrenzungsmerkmal der Religion herauszuarbeiten und damit auch das Verhältnis von Staat und Religion zu klären.<sup id="fnref:7"><a class="footnote-ref" href="#fn:7">7</a></sup></p>
<p>Eine mögliche Grundlage für eine fruchtbare gegenwartsrelevante Debatte über Religion bietet Wittgensteins Religionsphilosophie und ihr Verhältnis zur Philosophie der Mathematik und Epistemologie. Ich möchte auf in einem anderen Artikel spezifisch darauf eingehen. </p>
<div class="footnote">
<hr>
<ol>
<li id="fn:1">
<p>Richard Dawkins (2006): The God Delusion. London: Bantam Press. Eine treffende Rezension ist in der <em><a href="http://www.sueddeutsche.de/wissen/religion-und-wissenschaft-der-liebe-gott-als-blutruenstiges-ungeheuer-1.879879">Süddeutschen Zeitung</a></em> erschienen <a class="footnote-backref" href="#fnref:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref2:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref3:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:2">
<p>Ein äußerst skurriler Teil dieser Strategie war die <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Atheist_Bus_Campaign">„There’s probably no God. Now stop worrying and enjoy your life“ Kampagne</a> von 2009. Der fehlende Einblick in das Selbstverständnis religiöser Menschen zeigt sich in diesem Slogan besonders deutlich. <a class="footnote-backref" href="#fnref:2" title="Jump back to footnote 2 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:3">
<p>Ludwig Feuerbach (1956): <a href="http://www.zeno.org/Philosophie/M/Feuerbach,+Ludwig/Das+Wesen+des+Christentums">Das Wesen des Christentums</a>. Werner Schuffenhauer (Hg.), Berlin: Akademie-Verlag. <a class="footnote-backref" href="#fnref:3" title="Jump back to footnote 3 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:4">
<p>Karl Marx (1844): <a href="http://de.wikisource.org/wiki/Zur_Kritik_der_Hegel%E2%80%99schen_Rechtsphilosophie">Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie</a>. In Deutsch-Französische Jahrbücher, S. 71-85, Paris: Bureau der Jahrbücher. <a class="footnote-backref" href="#fnref:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:5">
<p>Vgl. zum Beispiel einen <a href="http://www.zeit.de/2013/48/christliche-kirchen-nothelfer-katastrophenhilfe-philippinen">Artikel</a>, der sich lobend zur „Professionalität“ kirchlicher Hilfsorganisationen äußert. <a class="footnote-backref" href="#fnref:5" title="Jump back to footnote 5 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:6">
<p>Ein Beispiel ist das <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%B6nig-Abdullah-Zentrum_f%C3%BCr_interreligi%C3%B6sen_und_interkulturellen_Dialog">„König-Abdullah-Zentrum für Interreligiösen Dialog“</a>, das 2012 in Wien <a href="http://derstandard.at/1353207415473/Abdullah-Zentrum-fuer-Interreligioesen-Dialog-eroeffnet">eröffnet</a> wurde. <a class="footnote-backref" href="#fnref:6" title="Jump back to footnote 6 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:7">
<p>Diese Klärung ist für Österreich nicht nur wegen des <a href="http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009196">Konkordats</a> und <a href="http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000006">StGG</a> Artikel 15 („Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft hat das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, […]“), in dem <em>anerkannte</em> Religionen ausgezeichnet werden, relevant. Auch die aus Deutschland kommende <a href="http://www.zeit.de/politik/deutschland/2012-12/beschneidung-urteil-bundestag">„Beschneidungsdebatte“</a> zeigt deutlich, dass die Frage nach der Begründung einer religionsspezifischen Form der Freiheit keinesfalls geklärt ist. <a class="footnote-backref" href="#fnref:7" title="Jump back to footnote 7 in the text">↩</a></p>
</li>
</ol>
</div>Gleichberechtigung, Essentialisierung, Statistik2014-01-06T00:00:00+01:002014-01-06T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2014-01-06:/posts/2014/01/06/gleichberechtigung-essentialisierung-verfassung/<p>Der Gleichheitsgrundsatz ist nur Festlegung auf die Allgemeingültigkeit der Gesetze. Diskriminierungsverbote gehen darüber hinaus und sind antiessentialistisch ausgelegt. „Positive Diskriminierung“ von Frauen beruht hingegen auf der Verabsolutierung des Geschlechts. Eine nicht-essentialistische Grundlegung „positiver Diskriminierung“ scheitert an der Willkür der verwendeten statistischen Kategorien.</p><h2>Gleichheitsgrundsatz</h2>
<p>Unter dem Schlagwort „Gleichheitsgrundsatz“ wird üblicherweise die <em>Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz</em> verstanden. Seine Ursprünge können (zumindest) bis in das späte 18. Jahrhundert zurückverfolgt werden,<sup id="fnref:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup> er hat aber – seinem Namen zum Trotz – eigentlich weniger mit der <em>Gleichheit der Bürger</em> als mit der <em>Universalität der öffentlichen Gesetze</em> zu tun.</p>
<p>Im österreichischen Verfassungsrecht ist dieses grundlegende rechtsstaatliche Prinzip sich im § 2 des Staatsgrundgesetzes (1876)<sup id="fnref:2"><a class="footnote-ref" href="#fn:2">2</a></sup> verankert:</p>
<blockquote>
<p>„Vor dem Gesetze sind alle Staatsbürger gleich.“ <em>(StGG § 2)</em></p>
</blockquote>
<p>Die Tragweite dieser Formulierung des Gleichheitssatzes darf nicht überschätzt werden. Sie stellt nur fest, dass Gesetze <em>prinzipiell</em> für alle Bürger gleichermaßen gelten, nicht jedoch, dass <em>in den Gesetzestexten</em> alle Bürger gleich behandelt werden müssen. Privilegien und Diskriminerungen <em>außerhalb des Gesetzes</em> sind verboten, Privilegien und Diskriminierungen <em>im Rahmen des Gesetzes</em> jedoch nicht. Man könnte auch schlicht – und ganz ohne Gleichheitssemantik – sagen: „Die einzige Rechtsgrundlage ist das Gesetz“.</p>
<h2>Diskriminierungsverbot</h2>
<p>Es ist also eine mit dem Gleichheitsgrundsatz verwandte, aber grundlegend davon zu unterscheidende Frage, <em>welche Ungleichbehandlungen im Gesetz zu tolerieren</em> und welche (wenn überhaupt) verboten sein sollen.</p>
<p>§ 7 Absatz 1 (1930)<sup id="fnref:3"><a class="footnote-ref" href="#fn:3">3</a></sup> der österreichischen Bundesverfassung bestimmt vier Merkmale, die nicht für eine Ungleichbehandlung im Gesetz herangezogen werden dürfen:</p>
<blockquote>
<p>„Alle Staatsbürger sind vor dem Gesetz gleich. Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen.“ <em>(B-<span class="caps">VG</span> § 7 Abs. 1)</em></p>
</blockquote>
<p>Die philosophische Grundlage für ein solches Diskriminierungsverbot beruht auf der Einschätzung, dass die angeführten Merkmale:</p>
<ol>
<li>Nicht essentiell sind, also so etwas wie aristotelische <em>Akzidenzien</em> sind. Das ist ein ontologisches (metaphysisches) Prinzip: Es gibt keinen Unterschied in der Substanz eines Mannes und einer Frau.</li>
<li>Zugleich nicht vom Subjekt beeinflusst werden können.<sup id="fnref:4"><a class="footnote-ref" href="#fn:4">4</a></sup></li>
</ol>
<p>Mit dem 1975 der Verfassung hinzugefügten § 9a<sup id="fnref:5"><a class="footnote-ref" href="#fn:5">5</a></sup> wurde die Wehrpflicht von diesem Prinzip explizit ausgenommen. Eine solche Einschränkung ist selbstverständlich nur im Verfassungsrang möglich:</p>
<blockquote>
<p>„Jeder männliche Staatsbürger ist wehrpflichtig. Staatsbürgerinnen können freiwillig Dienst im Bundesheer als Soldatinnen leisten und haben das Recht, diesen Dienst zu beenden.“ <em>(B-<span class="caps">VG</span> §9a Abs. 3)</em></p>
</blockquote>
<p>Als Reaktion auf das „Frauenvolksbegehren“ von 1997<sup id="fnref:6"><a class="footnote-ref" href="#fn:6">6</a></sup> wurde 1998<sup id="fnref:7"><a class="footnote-ref" href="#fn:7">7</a></sup> B-<span class="caps">VG</span> § 7 um eine weitere Ausnahme erweitert:</p>
<blockquote>
<p>„Bund, Länder und Gemeinden bekennen sich zur tatsächlichen Gleichstellung von Mann und Frau. Maßnahmen zur Förderung der faktischen Gleichstellung von Frauen und Männern insbesondere durch Beseitigung tatsächlich bestehender Ungleichheiten sind zulässig.“ <em>(B-<span class="caps">VG</span> § 7 Abs. 2)</em></p>
</blockquote>
<p>Die Aufnahme dieses Absatzes ist wesentlich folgenschwerer als jene von § 9a. Zunächst ersetzt sie die philosophische, <em>a priori gültige</em> Rechtfertigung für die Gleichbehandlung von Mann und Frau durch eine <em>empirische</em> Begründung – die Auslegung der Verfassung hängt seither an einem empirischen Sachverhalt, dessen Erhebung völlig offen gelassen wird. Darüber hinaus wird die Differenz zwischen Geschlechtern als einzige ausgezeichnet, deren faktische Behebung notwendig ist. Es findet also eine Auszeichnung des Geschlechts statt, welche in einem Spannungsverhältnis zur ursprünglichen philosophischen Rechtfertigung der Gleichberechtigung steht.</p>
<p>In diesem Kontext sei noch die Europäische Menschenrechtskonvention (<span class="caps">EMRK</span>) erwähnt, welche in Österreich (im Gegensatz zu Deutschland) mit Verfassungsrang ausgestattet ist,<sup id="fnref:8"><a class="footnote-ref" href="#fn:8">8</a></sup> und deren § 14 ein wesentlich breiteres (und darüber hinaus explizit nicht erschöpfendes) Spektrum an Merkmalen anführt, nach denen nicht diskriminiert werden soll. Doch nach der gängigen Rechtsprechung gilt das nur, wenn es keine „sachlichen Gründe“ für eine Diskriminierung vorliegen.<sup id="fnref:9"><a class="footnote-ref" href="#fn:9">9</a></sup> Es handelt sich also eher um eine <em>Einschränkung</em> denn um ein <em>Verbot</em> von Diskriminierung nach den angeführten Merkmalen.<sup id="fnref:10"><a class="footnote-ref" href="#fn:10">10</a></sup> </p>
<h2>Gefahr und Widerspruch der Essentialisierung</h2>
<p>Es gibt eine Vielfalt an Problemen, die sich aus der durch B-<span class="caps">VG</span> § 7 Absatz 2 begründeten „positiven Diskriminierung“ (zum Beispiel was Pensionsantrittsalter, Wehrpflicht, Postenbesetzung im öffentlichen Dienst betrifft) von Frauen ergeben. Einerseits besteht wie schon angedeutet die Frage, wie „faktische“ Ungleichheiten erhoben und ausgewertet werden. Offenbar wird im gegenwärtigen Diskurs nur das mittlere Einkommen als Gradmesser für Ungleichheit angesehen, die durchschnittliche Lebenserwartung zum Beispiel aber nicht. Die scheinbare Objektivität des Begriffs „Ungleichheit” täuscht über die notwendigerweise damit einhergehenden Wertungen hinweg. Andererseits ist es fraglich, ob überhaupt faktische Gleichheit durch rechtliche Ungleichheit hergestellt werden <em>kann</em> und <em>soll</em> – wie weit darf sich der Staat in das Privatleben der Bürger einmischen? Oder auch: Betrifft die Ungleichbehandlung tatsächlich von Frauen oder doch viel mehr Kinderbetreuende und von Arbeitgebern als potentiellen Kinderbetreuern angesehenen Menschen?</p>
<p>Diese Art von Kritik an der Idee der „positiven Diskriminierung“ ist größtenteils angebracht, verfehlt aber meines Erachtens das zentrale Problem – die Essentialisierung des Geschlechts. Um die Ungleichheiten der Geschlechter zu messen und zu beheben muss zunächst das Geschlecht „objektiv“ festgestellt werden können – der Staat muss es ständig erheben und notfalls auch (genetisch, anatomisch, oder wie auch immer) <em>überprüfen</em> können. Vereinfacht gesagt: Um der Wehrpflicht zu entgehen, wird es nicht ausreichen, zu <em>sagen</em>, man sei (oder fühle sich als) Frau, sondern es wird von Experten (Medizinern, Psychologen, etc.) festzustellen sein, ob dem „wirklich“ so sei.</p>
<p>Damit werden interessanterweise sowohl Transsexualität als auch soziale Komponenten des Geschlechts („Gender“) im Wesentlichen negiert.<sup id="fnref:11"><a class="footnote-ref" href="#fn:11">11</a></sup> Um die strikte Einteilung in Mann und Frau, die gesetzlich vorgegeben ist, zu rechtfertigen, muss dann nicht nur angenommen werden, dass das Geschlecht objektiv festgestellt werden kann, sondern dass es, im Gegensatz zu allen anderen mehr oder weniger objektivierbaren Kriterien (Körpergröße, Hautfarbe, Religion, etc.), auch das Individuum wesentlich charakterisiert – also Teil der Substanz des Individuums ist. Um die ontologische Konsequenz etwas zu überspitzen:</p>
<blockquote>
<p>Es gibt nicht <em>die</em> Substanz Mensch sondern zwei Substanzen: Mann und Frau.</p>
</blockquote>
<p>Die Überwindung dieser Annahme im frühen 20. Jahrhundert durch B-<span class="caps">VG</span> § 7 Abs. 1 wird – zurecht – als Errungenschaft auf dem Weg zu einer gerechteren Gesellschaft gefeiert. Diese Errungenschaft wurde durch die 1998 in guter Intention eingefügte Ausnahme in § 2 nicht gestärkt, sondern weitgehend zunichte gemacht. Die Überwindung der Ontologie des Geschlechts scheint leider nur ein kurzes Kapitel der Geschichte gewesen zu sein.</p>
<p>Ein erster Einwand gegen meinen Standpunkt könnte sein, dass Geschlechtsunterschiede sehr wohl essentiell seien. Wer diesen Punkt gelten lassen will, steht aber vor der Frage, weshalb die essentielle Differenz sich nicht auch in gesellschaftlichen Ungleichheiten äußern sollte. Wenn es einen so dramatischen Unterschied darstellt Mann zu sein, dass er rechtfertigt, zur Landesverteidigung einberufen werden zu müssen, warum sollte dieser Unterschied sich dann nicht auch in der Gesellschaft (insbesondere im Einkommen) wiederspiegeln? Warum sollte man sich bei solch gravierenden Unterschieden Gleichheit erwarten, und nicht einen bloßen (bestenfalls ausgewogenen) Kampf der Geschlechter, in dem Gerechtigkeit und Gleichheit von keiner Seite erwünscht wird?</p>
<h2>Bloße Statistik: Ein Ausweg?</h2>
<p>Ein anderer, wesentlich interessanterer Einwand ist, dass die „positive Diskriminierung“ <em>theoretisch</em> zwar unstimmig, aber angesichts der massiven Ungleichstellung einer Hälfte der Bevölkerung dennoch <em>praktisch</em> nützlich sei. Wenn der <em>allgemeine Nutzen</em> (eventuell auch für die unmittelbar Benachteiligten) durch eine ungerechte Maßnahme überwiegt, dann sollte sie auch durchgeführt werden, so das Argument. Verfechter der „positiven Diskriminierung“ betonen, dass die Maßnahme gerechtfertigt sei, weil die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen derart dramatisch seien und darüber hinaus eine derart große Gruppe beträfen – sie also gegenüber anderen Ungleichheiten sich in ihrer <em>statistischen Signifikanz auszeichnen</em>. Die besonderer Berücksichtigung der Geschlechterunterschiede beruht in dieser Argumentation also (zumindest versuchsweise) nicht auf einer ontologischen Kategorisierung, sondern auf einer empirisch-statistischen Regularität;<sup id="fnref:12"><a class="footnote-ref" href="#fn:12">12</a></sup> die Essentialisierung im Gesetztestext wird dabei nicht vorausgesetzt, sondern als <em>notwendiges Übel</em> in Kauf genommen. Ich sympathisiere mit dieser Einstellung, glaube aber letztendlich nicht, dass sie haltbar ist.</p>
<p>Damit das nicht-essentialistische Argument tragfähig ist, <em>ohne selbst wieder auf eine Essentialisierung des Geschlechts zurückzugreifen</em>, müssen die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen die Ungleichheiten aller beliebigen anderen willkürlichen Partitionierungen der Gesellschaft überwiegen. Wenn sich herausstellt, dass eine andere Partitionierung – z. B. nach Größe, Haarfarbe oder dergleichen – ein größeres statistisches Ungleichgewicht, z. B. beim Einkommen, aufweist, dann wäre es natürlich dringlicher, bezüglich letzterer Unterteilung faktische Gerechtigkeit zu schaffen als bezüglich der Partitionierung nach Geschlecht. Es lassen sich aber unendlich viele solche statistische Unterteilungen machen und auch beliebig ausgeprägte statistische Ungleichheiten erzeugen. Ohne ontologische Basis, also ohne Essentialisierung, lässt sich aus einer statistischen Korrelation deshalb keine normative Vorgabe, wie sie für „positive Diskriminierung“ notwendig ist, ableiten.</p>
<p>Dass Frauen – im Gegensatz zu anderen Gruppen – mehr als die Hälfte der Bevölkerung stellen, bedeutet von sich aus natürlich nicht, dass ihre Ungleichstellung relevanter wäre als jene, die sich aus anderen Aufteilungen ergeben. Selbst wenn dem so wäre, ließen sich auch bei einer Beschränkung auf in zwei etwa gleich große Gruppen immer noch beliebig viele andere Partitionierungen mit ausgeprägterer statistischer Ungleichheit konstruieren – man füge einfach zum Kriterium des Geschlechts noch ein anderes kontinuierliches Kriterium hinzu, nach dem eine statistische Ungleichheit besteht, wie z. B. das Einkommen der Eltern. </p>
<h2>Fazit</h2>
<p>Rein aus statistischen Daten, die im Prinzip willkürliche Kategorien bemühen, lässt sich keine Rechtfertigung zur („positiven“ oder „negativen“) Diskriminierung finden. Dafür müssten zwangsweise <em>essentielle</em> Kategorien eingeführt, zugleich aber auch das Gleichberechtigungsideal fallen gelassenwerden. Ich habe versucht, die philosophischen Schwächen dieser Option herauszuarbeiten.</p>
<p><strong>Nachtrag (7. Jänner 2014)</strong>: Ein weiterer Einwand, mit dem ich konfrontiert wurde, ist folgender: Frauen wurden über Jahrzehnte faktisch <em>diskriminiert</em>, wogegen jetzt gegengesteuert werden muss. Ich habe in diesem Kontext den Begriff der Diskriminierung vermieden, weil er implizit wertet und ohne Rechtfertigung statistische Un<em>gleichheit</em> als gesamtgesellschaftliche Un<em>gerechtigkeit</em> darstellt. Inhaltlich fügt er auch nichts zur bloßen gesellschaftspolitischen Absicht, eine geschlechtsneutrale Gesellschaft zu schaffen, hinzu.</p>
<p>Der Punkt des Einwands ist ohnehin ein anderer. Er betrifft die Berücksichtigung der Vergangenheit. Ich habe schon angemerkt,<sup id="fnref2:12"><a class="footnote-ref" href="#fn:12">12</a></sup> dass eine vergangen <em>rechtliche</em> Ungleichbehandlung eventuell eine legitime Begründung für „positive Diskriminierung“ darstellen kann. Hier geht es aber nicht darum, sondern immer noch um <em>faktische</em> Ungleichheit. Das Problem des Übergangs von statistischer Regularität zu normativen Konsequenzen trifft aber vergangene Ungleichheiten auf genau dieselbe Art wie gegenwärtige (wozu die schlechtere Sachlage erschwerend hinzukommt). Auch hier kann eine beliebige andere Partitionierung gewählt werden, welche signifikantere Differenzen aufweist – auch hier kann man dem Problem nur mit einer Ontologisierung begegnen. </p>
<div class="footnote">
<hr>
<ol>
<li id="fn:1">
<p>Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776) und die französische Erklärung der Menschen und Bürgerrechte (1789) beinhalten eine solche Bestimmung. Kant greift die Forderung im ersten Artikel des zweiten Abschnitts seiner Schrift zum ewigen Frieden (1795) auf. <a class="footnote-backref" href="#fnref:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:2">
<p><a href="http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10000006">Staatsgrundgesetz vom 21. December 1867</a> <a class="footnote-backref" href="#fnref:2" title="Jump back to footnote 2 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:3">
<p><a href="http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=bgb&datum=1930&size=45&page=36">BGBl. Nr. 1/1930</a> <a class="footnote-backref" href="#fnref:3" title="Jump back to footnote 3 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:4">
<p>Deshalb ist die Einbeziehung der <em>Klasse</em> in diesem Kontext zwar im historischen Kontext der ersten Republik verständlich, aber philosophisch deutlich problematischer als Stand, Geschlecht und Geburt. <a class="footnote-backref" href="#fnref:4" title="Jump back to footnote 4 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:5">
<p><a href="http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1975_368_0/1975_368_0.pdf">BGBl. Nr. 368/1975</a> <a class="footnote-backref" href="#fnref:5" title="Jump back to footnote 5 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:6">
<p><a href="http://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XX/I/I_00716/">Parlament: Frauenvolksbegehren</a> <a class="footnote-backref" href="#fnref:6" title="Jump back to footnote 6 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:7">
<p><a href="http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1998_68_1/1998_68_1.pdf">BGBl. I Nr. 68/1998</a> <a class="footnote-backref" href="#fnref:7" title="Jump back to footnote 7 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:8">
<p><a href="http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1964_59_0/1964_59_0.pdf">BGBl. Nr. 59/1964</a> <a class="footnote-backref" href="#fnref:8" title="Jump back to footnote 8 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:9">
<p><a href="http://www.bverwg.de/entscheidungen/entscheidung.php?ent=260606B6B9.06.0">BVerwG 6 B 9.06</a> <a class="footnote-backref" href="#fnref:9" title="Jump back to footnote 9 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:10">
<p>Für diese schwache Lesart von § 14 der <span class="caps">EMRK</span> spricht natürlich auch, dass die Aufzählung nicht abschließend ist. <a class="footnote-backref" href="#fnref:10" title="Jump back to footnote 10 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:11">
<p>Es ist ironisch, dass von derselben Sektion des Bundeskanzleramtes („<a href="http://www.frauen.bka.gv.at/">Frauenangelegenheiten und Gleichstellung</a>”) sowohl Essentialisierung des Geschlechts – allein der Sektionsname impliziert, dass Frauen einer objektivierbar abgrenzbare Gruppe angehören – als auch Relativierung desselben durch „Initiative Gender“ und „Gender Mainstreaming“ betreibt. Der tiefgreifende philosophische Widerspruch zwischen beiden Ansätzen ist den Verantwortlichen offensichtlich nicht bewusst. <a class="footnote-backref" href="#fnref:11" title="Jump back to footnote 11 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:12">
<p>Eine andere Art der Argumentation könnte sein, dass eine bestehende <em>rechtliche</em> Diskriminierung, die auf einer Essentialisierung gründete, danach für eine bestimmte Dauer durch eine „umgekehrte“ abgelöst werden soll – wie zum Beispiel nach dem Ende der Apartheid in Südafrika. Dieser Fall bedürfte auch wirklich einer anderen Analyse, ist jedoch auf die „westliche“ Welt im Allgemeinen und Österreich im Besonderen nicht anwendbar, da die gesetzliche Nichtdiskriminierung der Geschlechter im Wesentlichen auf B-<span class="caps">VG</span> § 7 Absatz 1 und damit auf die erste Republik zurückgeht. <a class="footnote-backref" href="#fnref:12" title="Jump back to footnote 12 in the text">↩</a><a class="footnote-backref" href="#fnref2:12" title="Jump back to footnote 12 in the text">↩</a></p>
</li>
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</div>Zwei Ziele der Kunst2013-12-30T00:00:00+01:002013-12-30T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2013-12-30:/posts/2013/12/30/zwei-ziele-kunst-pseudokunst-gute-kunst-schlechte-kunst/<p>Wie befasst sich Kunst mit dem Schönen? Sie <em>schafft</em> Schönes und zugleich <em>lehrt</em> sie, das Schöne zu betrachten; Pseudokunst verweigert sich diesem Anspruch, schlechte Kunst verfehlt ihn nur.</p><h2>Zwei Ziele der Kunst</h2>
<p>Wie „betrifft“ Kunst das Schöne? Sie hat das Ziel, Schönes zu schaffen, aber auch, es dem Publikum nahezubringen, eine <em>ästhetische Erziehung</em> zu erteilen. </p>
<p>Letzteres Element ist <em>auch</em> Teil der Kunst<em>geschichte</em>, -<em>kritik</em>, -<em>theorie</em>. Deshalb ist gute Kritik auch so nahe mit Kunst verwandt – sie bringt einem das Kunstwerk nahe und führt zur Weiterentwicklung des ästhetischen Sinnes.<sup id="fnref:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup> Das Kunstwerk soll (idealerweise) <em>als solches</em> erzieherische Funktion übernehmen – ohne zusätzlichen Kommentar.</p>
<h2>Intention und Pseudokunst</h2>
<p>Es gibt (z. B. in der Natur) Dinge, die als „zufällige Kunstwerke“ bezeichnet werden können, niemals aber „zufällige Kunst”. Die <em>Intention</em> Schönes zu schaffen und zu vermitteln ist ein notwendiger Bestandteil der Kunst.</p>
<p>Der Künstler ist verpflichtet, das Schöne und das Publikum in Kontakt miteinander zu bringen. Wenn dieses Selbstverständnis fehlt, wenn sich der Künstler diesem Anspruch verwahrt, kann ihn auch kein außerordentliches schöpferisches Talent mehr zum Künstler machen. Verachtung für das Schöne und Zynismus für die Betrachter sind das Kennzeichen von <em>Pseudokunst</em>.</p>
<p>Das <em>Vulgäre</em>, welches das Angenehme und Begehrenswerte als Schönes vorgibt, ist ein Beispiel von Pseudokunst. Es leugnet den universellen Anspruch der Schönheit und verzichtet damit bewusst darauf, das Publikum zu erziehen – vielleicht unter dem Vorwand, dass es „zu dumm” für eine solche Bildung sei.</p>
<h2>Schlechte Kunst</h2>
<p>Schlechte Kunst hingegen ist aus einer künstlerischen Absicht entsprungen, wird ihren Ansprüchen aber nicht gerecht. Neben fehlendem technischem Können oder unreifem ästhetischem Gefühl gibt es zwei Arten fehlgeschlagener Kunstwerke.</p>
<p><em>Imitate</em> (Kitsch) bilden Schönes ab, lehren aber nichts Neues, sind in der <em>bloßen</em>, fast mechanischen Reproduktion verhaftet, die das Wesentliche nicht trifft. Die Lehre und Weiterentwicklung des Schönen schlägt dabei fehl.</p>
<p><em>Kommentare</em> (Avantgarde) zielen auf Neuheit ab, fahren das Publikum an: „Schau!“ – scheitern aber an der Vermittlung dieser Neuheit durch das Kunstwerk – auf die Frage „Warum soll ich schauen?“ haben sie keine Antwort. Der ästhetische Aspekt der Kunst hinkt dem kritisch-theoretischen hinterher.</p>
<h2>Wie kann über Kunst gestritten werden?</h2>
<p>Nun bleibt zu klären, wie sich schlechte Kunst – oder gar Pseudokust – von gelungener Kunst unterscheiden ließe. Ein <em>vollständiges, abschließendes</em> Urteil darüber ist prinzipiell nicht möglich, weil Schönheit – im Gegensatz zur Wahrheit – nie vollständig und abschließend rational begriffen werden kann. Denn selbst eine vollständig ausgearbeitete Ästhetik lässt immer Interpretationsspielraum dafür offen, wie ein bestimmtes Kunstwerk in ihr Regelwerk eingeordnet werden soll. </p>
<p>Dennoch kann (und soll!), innerhalb dieser Grenzen, anhand der eben erarbeiteten Merkmale, über Kunst gestritten werden. Werden einmal die Möglichkeiten und Einschränkungen des Kunstdiskurses deutlich, kann sich eine fruchtbare Sprache der Kunstkritik entwickeln.<sup id="fnref:2"><a class="footnote-ref" href="#fn:2">2</a></sup></p>
<p>Es kann zum Beispiel <em>versucht</em> werden, jemanden davon zu überzeugen, dass eine gewisse Kunstrichtung nur das Publikum verhöhne und deshalb eigentlich keine Kunst sei; oder man kann <em>versuchen</em>, die Originalität eines Kunstwerks zu bestreiten, indem man Ähnlichkeiten mit vorhergehenden Werken aufzeigt. Eine solche Argumentation wird natürlich nicht immer zu einer Einigung führen. Es wird aber zumindest klar, <em>wo</em> sich die Interpretationen trennen, was schon an sich einen beträchtlichen Erkenntnisgewinn darstellt.</p>
<div class="footnote">
<hr>
<ol>
<li id="fn:1">
<p>Ein gelungenes Beispiel dafür sind Sartres literarische Kritiken. <a class="footnote-backref" href="#fnref:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:2">
<p>Natürlich stelle ich nicht den Anspruch, diese zu formulieren. Es geht mir um die prinzipielle Erkenntnis, dass Unvollkommenheit nicht ein Todesurteil jeder rationalen Kunstkritik ist. <a class="footnote-backref" href="#fnref:2" title="Jump back to footnote 2 in the text">↩</a></p>
</li>
</ol>
</div>Kunst, Schönheit, Objektivität2013-12-26T00:00:00+01:002013-12-26T00:00:00+01:00Maximilien Xieftag:noctulog.net,2013-12-26:/posts/2013/12/26/kunst-schoenheit-objektivitaet-aesthetik-aus-ersten-gruenden/<p>Der Versuch einer Ästhetik aus „ersten Gründen“: Das Schöne ist ein fremdes, ungreifbares und doch teilweise objektivierbares Element.</p><p>Kunst betrifft das Schöne.</p>
<p>Das ist nicht wirklich eine Definition. <em>Ich</em> möchte Kunst unter dem Aspekt der Schönheit betrachten, unter einem <em>ästhetischen</em> Gesichtspunkt. Andere – soziale, politische, ethische, etc. – Aspekte der Kunst werden dabei vernachlässigt. <em>Hier liegt schon eine Wertung vor!</em></p>
<h2>Das Gute, das Wahre, das Schöne</h2>
<p>Das Schöne lässt sich am einfachsten negativ fassen: es ist weder das moralisch Gute noch das Wahre, aber dennoch ist es ein <em>Zweck an sich</em>. </p>
<p>Im Unterschied zum moralisch Guten beruht das Schöne nicht auf einer Verallgemeinerung der eigenen menschlichen Würde.<sup id="fnref:1"><a class="footnote-ref" href="#fn:1">1</a></sup> Schönheit ist <em>immer fremd</em>, das moralisch Gute erkennen wir hingegen in und an uns selbst.</p>
<p>Die Wahrheit befasst sich auch mit externen Elementen, besitzt aber im Gegensatz zur Schönheit ein allumfassendes rationales Regulativ. Wahrheit kann <em>vollständig</em> rational begriffen, damit auch verinnerlicht und beherrscht werden, Schönheit kann nur partiell rational erfasst werden und entzieht sich damit dieser Aneignung. <em>Schönheit kann man nicht mitnehmen</em>, sie bleibt immer extern verhaftet.</p>
<p>Das ästhetische Streben ist deshalb ein <em>demütiges</em> – Schönheit soll geehrt werden. Wollte man einen <em>ästhetischen Imperativ</em> formulieren, so könnte er lauten:<sup id="fnref:2"><a class="footnote-ref" href="#fn:2">2</a></sup></p>
<blockquote>
<p>„Du sollst das Schöne suchen und hervorbringen, um es zu ehren.“</p>
</blockquote>
<p>Wenn man so will, ist Schönheit die <em>ungreifbare Schwester der Wahrheit</em>.</p>
<h2>Die Objektivität des Schönen</h2>
<p>Die Kategorie des Schönen als Grundlage für eine Ästhetik zu wählen führt zu tiefgreifenden Konsequenzen. Eine davon ergibt sich aus der eben erwähnten Nähe der Schönheit zur Wahrheit: Kunst kann, zumindest teilweise, <em>objektiv</em> beurteilt werden.</p>
<p>Den Versuch des ästhetischen Imperativs hätte ich deshalb auch nicht als „ehre was du als schön <em>empfindest</em>“ formulieren können. Wenn das subjektive ästhetische Empfinden, das sich zum Beispiel in unmittelbaren Gefallen oder Missfallen äußert, für die Ästhetik eine Rolle spielen soll, dann nur als <em>ein Weg</em> zum Schönen. Also könnte man sagen:</p>
<blockquote>
<p>„Über Geschmack lässt sich nicht streiten, über das Schöne – über Kunst – schon.“</p>
</blockquote>
<p>Diese Festlegung führt dazu, dass Schönheit, und die damit assoziierten ästhetischen Werte, nicht <em>beliebigem</em> Wandel unterworfen sein können. Sie impliziert allerdings nicht, dass Kunst sich nicht entwickeln kann oder soll. Vielmehr stellt sie Rahmenbedingungen an die Art und Weise dieser Wandlung und impliziert auch eine Art Fortschrittsgedanken, weil idealerweise der Schönheit immer näher gekommen werden soll.</p>
<h2>Platonismus?</h2>
<p>Eine essentielle Bemerkung zum Abschluss: Objektivität und Absolutheit sind keine <em>ontologischen</em> Kategorien (sie können, müssen aber nicht an ontologische Konzepte gebunden werden). Ich möchte einen möglichst theoriefreien Weg zur Ästhetik gehen und bei einem sprachphilosophischen Verständnis dieser Begriffe bleiben. Ob und wie diese Begriffe in der Welt <em>realisiert sind</em>, ist eine interessante, aber in diesem Kontext unnötige Frage. Der sich aufdrängende Vorwurf, es handle sich bei einer objektiven Deutung des Schönen um eine plumpe Form des Platonismus ist also meines Erachtens nicht angebracht.</p>
<div class="footnote">
<hr>
<ol>
<li id="fn:1">
<p>Die „Goldene Regel“, der kategorische Imperativ aber auch konsequentialistische Ethiken können als Beispiele dieses Musters verstanden werden. Von einer Tugendethik möchte ich hier absehen. <a class="footnote-backref" href="#fnref:1" title="Jump back to footnote 1 in the text">↩</a></p>
</li>
<li id="fn:2">
<p>Der religiöse Vergleich liegt nahe – <em>Religion als Ästhetik</em>? <a class="footnote-backref" href="#fnref:2" title="Jump back to footnote 2 in the text">↩</a></p>
</li>
</ol>
</div>