Die unausweichliche Aristokratie in der Demokratie

Aristoteles’ politische Philosophie ist schwer auf moderne, liberale Demokratien umzulegen, die auf maximale politische Inklusion statt Einschränkung der politischen Rechte auf eine Minderheit setzen. Ich möchte dennoch zeigen, dass die aristotelische Regel, nach der jede signifikante politische Beteiligung der Muße oder Abwesenheit von Lohnarbeit bedarf, noch immer Bestand hat. Substanzielle politische Mitwirkung kann nur Mitgliedern einer kleinen Gruppe gewährt werden, einer „Aristokratie in der Demokratie“, die von anderen, rein ökonomischen Tätigkeiten befreit ist. Der untragbare Mythos der modernen Demokratie, nach dem politische Macht sich im Wahlrecht vollständig erschöpft, muss revidiert werden.

  28. August 2016    5' Lesezeit

Aristoteles: Muße als Voraussetzung und Zweck für den Staat

In der aristotelischen praktisch-politischen Philosophie1 wird das Gegensatzpaar „Muße“ (schole) – „Arbeit“ (ascholia) häufig verwendet. Ich möchte zunächst diese beiden Begriffe etwas genauer fassen, um Missverständnissen vorzubeugen.

Für Aristoteles ist Arbeit ein bloßes Mittel zur Muße – genauso wie Krieg ein Mittel zum Frieden ist und allgemeiner das Notwendige ein Mittel für das Gute. Muße in diesem Sinn ist keine Untätigkeit, sondern eine nicht durch Notwendigkeit bedingte Tätigkeit, als Teil der Glückseligkeit (eudaimonia) ein Selbstzweck. Sie bedarf der aktiven Ausübung der „ethischen Tugenden“ wie der Enthaltsamkeit oder Gerechtigkeit. Das Ziel des Staates ist die Ermöglichung der Glückseligkeit seiner Bürger, unter anderem über die Erziehung zur Muße.

Die Muße der Bürger2 ist zugleich auch eine Bedingung für einen guten Staat. Lohnarbeit ist eine Form von Fremdbestimmung und deshalb nicht mit Muße zu vereinbaren:

„Jede Art von Lohnarbeit [beraubt] das Denken der Muße und [gibt] ihm eine niedrige Richtung.“ (Politik VIII, 1337b10)

Deshalb müssen alle Bürger im idealen Staat (für Aristoteles eine Aristokratie) frei von Lohnarbeit sein.

Zusammenfassend ist der Begriff der Muße bei Aristoteles in politischer Hinsicht zweifach relevant:

  1. Muße (als Abwesenheit von Lohnarbeit) als notwendige Bedingung für den idealen Staat („negative Muße“);
  2. Muße (als Teil der Glückseligkeit) als Selbstzweck für den idealen Staat („positive Muße“).

Muße in modernen Demokratien: ein Anachronismus?

Der wohl wichtigste Unterschied zwischen Aristoteles’ idealem Staat und modernen liberalen Demokratien ist, dass letztere die größtmögliche politische Gleichberechtigung aller Bewohner anstreben. Ein Bewohner, der kein Bürger ist, wird zur Ausnahme.3 Damit ist die überwiegende Mehrheit der Bürger für ihre Existenz von Lohnarbeit abhängig.4

In zeitgenössischen politischen Grundsatzdebatten geht es in diesem Kontext nicht um Muße als Bedingung für Politik oder als Selbstzweck, sondern um Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit. Von verschiedenen Seiten des politischen Spektrums werden unterschiedliche Kriterien herangezogen, um zu bewerten, welche Gruppen für die Allgemeinheit nützlich genug sind. Von rechter Seite heißt es: „Man sollte Leistungsträger ordentlich behandeln“, von linker Seite wird bemängelt: „Erben für sozialen Aufstieg in Österreich besonders wichtig“.

Keine relevante Partei, keine Zeitung, auch keine Gewerkschaft vertritt die Position, dass Muße eine Voraussetzung für politische Beteiligung sei, dass Lohnarbeit und Teilnahme am politischen Leben sich ausschließen würden. An dessen Stelle ist vielfach das Ideal der erfüllenden Arbeit getreten, die notwendig und sinngebend zugleich sein kann5 und mit dem aktiven politischen Leben nicht in Konflikt steht.6

Die aristotelische Konzeption von Lohnarbeit als Ausschlusskriterium für politische Beiteiligung wird also, ebenso wie die Förderung der Muße durch den Staat, mittlerweile als überholt angesehen. Im folgenden Abschnitt will ich mit Max Weber aufzeigen, dass sie noch zutrifft, wenn man über das bloße Wahlrechts hinausgeht und die gesamte politische Machstruktur untersucht.

Politische Macht abseits des Wahlrechts

Was ist ein „Bürger“, eine „Bürgerin“? Die Frage scheint naiv zu sein: Es sind ganz einfach diejenigen, die sämtliche politischen Rechte in Anspruch nehmen können! Also in Österreich Staatsbürger die ihr 18. Lebensjahr erreicht haben, und damit das aktive und passive Wahlrecht7 erreicht haben.

Weil Österreich (wie fast alle modernen Demokratien) eine repräsentative Demokratie ist, die auf einem komplexen System politischer Parteien, Interessensvertretungen und einem Berufsbeamtentum aufbaut, gibt es natürlich bestimmte Gruppen, denen real wesentlich mehr Möglichkeiten der politischen Gestaltung zukommen als einem durschnittlichen Bürger.8 Eine unvollständige Auflistung politischer und parapolitischer Ämter:

  1. Volksvertreter und Minister (Mitglieder des Nationalrats, des Bundesrats, der Landtage);
  2. Mitarbeiter der Volksvertreter und Minister;
  3. Mitglieder und Mitarbeiter von politischen Parteien;
  4. Mitglieder und Mitarbeiter von Interessensvertretungen (Arbeiterkammer, Gewerkschaften, Wirtschaftskammer, Industriellenvereinigung);
  5. Hohe (Fach)Beamte;
  6. Richter und Staatsanwälte;
  7. Journalisten.

Schon 1919 hat Max Weber in seinem Vortrag Politik als Beruf eine noch wesentlich detailliertere Ausdifferenzierung von spezifischen politisch mächtigeren Gruppen beschrieben. Politik wird von verschiedenen Varianten von Nebenwerwerbspolitikern und Berufspolitikern geprägt, die von der Notwendigkeit für Lohnarbeit außerhalb der Politik mehr oder weniger effektiv befreit werden. Der gewöhnliche Bürger ist hingegen ein bloßer Gelegenheitspolitiker, der sich nur bei Wahlen politisch betätigt.

In Aristoteles’ idealer Aristokratie ist die Kategorie der Bürger eingeschränkt genug, dass fast alle ihre Mitglieder auch signifikante politische Macht ausüben. In modernen Demokratien mit möglichst breiter Wählerbasis ist hingegen die Einführung der neuen Kategorie der Bürger als Gelegenheitspolitiker unausweichlich.

Das Recht und die politische Macht gehen zwar „vom Volk aus“, werden aber nicht durch das Volk ausgeübt.

Mit der Aristokratie in der Demokratie umgehen

Die überwältigende Mehrheit der Bürger setzt sich mit Politik kaum auseinander und besitzt – außerhalb der punktuellen Mitbestimmung eines Teils der Berufspolitiker – keine politische Macht. Es ist durchaus richtig, dass die negative Muße (die Unabhängigkeit von Lohnarbeit) für diese Form der politischen Beteiligung nicht notwendig ist, aber eben nur weil die es sich um die denkbar schwächste Art der politischen Teilnahme handelt, die mit der aristotelischen Konzeption des Bürgertums kaum etwas gemein hat.

Man würde also gut daran tun, Aristoteles’ Argument für Muße im politischen Betrieb nicht als bereits falsifizierten Anachronismus abzutun. Auch scheinbar inklusive Demokratien räumen den effektiv politisch Tätigen durch finanzielle Abgeltung eine Form von negativer Muße ein, die der Allgemeinheit nicht zuteil wird – sie schaffen kontrollierte Aristokratien9 in der Demokratie.

Im Glauben, das allgemeine Wahlrecht führe zu einer umfassenden politischen Beteiligung der Bevölkerung, liegt der mitunter gefährliche Mythos der westlichen Demokratie. Die gegenwärtigen Aufstände gegen die „Parteienwirtschaft“, die „Elite“, die „abgehobenen Politiker“ oder die „Lügenpresse“ wird unter anderem von der offensichtlichen Diskrepanz zwischen diesem Mythos und der Realität getragen. Der erste Schritt, um diesem Missmut zu begegnen, ist ein ehrlich Eingeständnis:

Der breiten, mußelosen Masse kann nur sehr beschränkte politische Mitwirkung (das Wahlrecht) zugestanden werden, mit dem nur nur ein Bruchteil der politischen Macht zusammenhängt. Diese wird hauptsächlich von Berufs- und Nebenerwerbspolitikern ausgeübt.

Dass eine Aristokratie innerhalb der Demokratie besteht, ja gewissermaßen bestehen muss, sagt noch nichts über ihre konkrete Zusammensetzung aus. Man könnte durchaus eine stärkere Kopplung an den Rest der Bevölkerung wünschen, und zum Beispiel durch vermehrte Besetzung politischer Ämter durch Losziehung, wie sie bereits für Schöffen und Geschworene existiert, erreichen.

Nachtrag (7. April 2017): In einem Beitrag auf Englisch gehe ich auf die Beschränkung der Macht der demokratischen Aristokratie durch Losziehung genauer ein.

  1. Ich beziehe mich im Folgenden sowohl auf die Politik als auch auf die Nikomachische Ethik.
  2. Für Aristoteles stellen Bürger nur einen kleinen Teil der Bewohner eines Staates dar. Handwerker, Sklaven und Frauen gehören jedenfalls nicht dazu.
  3. Nichtbürger sind nunmehr Minderjährige und Ausländer, die üblicherweise deutlich in der Minderheit sind.
  4. Dazu zähle ich Arbeiter im engen Sinn genauso wie Angestellte oder Selbstständige.
  5. Ein (unrepräsentative) Gegenüberstellung der Häufigkeit von „fulfilling work“ und „work reduction“ im Korpus von Google Books im Laufe der letzten Jahrzehnte zeigt, dass „fulfilling work“ ab den 1980ern deutlich die Überhand gewinnt und mittlerweile fast 10 Mal häufiger anzutreffen ist.
  6. Gerade die Sozialdemokratie hat viel zur Festigung dieser These beigetragen: Der stolze Arbeiter, der zwar nicht übermäßig, aber doch viel arbeitet (und von seiner Arbeit vollkommen abhängt) kann sich politisch organisieren! Das ist nicht falsch, jedoch wird dabei übersehen, dass fast alle Organisatoren und Parteiführer einer solchen „Arbeiter“bewegung im aristotelischen Sinne müßig waren. Auch die Sozialdemokratie hat immer schon eine Aristokratie in sich getragen.
  7. Eine (wenig relevante) Ausnahme stellt die Bundespräsidenschaftswahl dar, für die das passive Wahlrecht erst nach dem 35. Lebensjahr erreicht wird.
  8. Ein wesentliches Merkmal moderner Demokratien ist natürlich, dass diese Positionen potentiell jedem Bürger offenstehen (wenn auch oftmals mit bestimmten Anforderungen verknüpft), was aber natürlich nicht heißt, dass alle Bürger eine solche ausüben können.
  9. Vielleicht gar Oligarchie oder Plutokratie, wenn die Beurteilung weniger wohlwollend ausfällt.