Für Wittgenstein gibt es Sätze, deren Infragestellung prinzipiell sinnlos ist, weil sie das Fundament unseres Weltbilds ausmachen. Für gläubige Menschen bilden Glaubenssätze wie „Es wird ein Jüngstes Gericht geben“ einen Teil dieses Fundaments, das die religiöse Lebensweise rational rechtfertigt. Zugleich wird ist die religiöse Lebensweise selbst auch grundlegend, weil sie eigentlich arational – aus Leidenschaft – ergriffen wird und ihre Rationalisierung sekundär ist. Dieser Ansatz erlaubt es zu präzisieren, inwiefern sich Weltbilder von Gläubigen und Nichtgläubigen unterscheiden, was meines Erachtens den ersten Schritt zu einer fruchtbaren Religionskritik darstellt.
11. April 2014
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Über Gewissheit
Wittgensteins letztes „Werk”, zwischen 1949 und seinem Tod 1951 verfasst, erst 1969 von G. H. von Wright und G. E. M. Anscombe publiziert, Über Gewissheit, befasst sich mit dem Verhältnis von Gewissheit und Skeptizismus: Inwiefern sind Teile unseres Wissens gewiss, wie weit geht die Legitimität des Zweifels?
Der Wahrheit des Satzes „Ich habe zwei Hände“ bin ich mir gewiss. Das heißt, dass ich üblicherweise jemanden, der diese Wahrheit bezweifelt („Warum bist du dir da so sicher?“) nicht ernst nehmen würde, den Einwand eher als Scherz auffassen würde. Ein radikaler, vor nichts (auch nicht vor solchen Sätzen) halt machender Skeptizismus, ist für Wittgenstein zwar nicht logisch inkonsistent (und damit auch nicht „widerlegbar“) aber fehlgeleitet, weil er das Konzept des Zweifels missversteht. Etwas zu bezweifeln heißt, nach einer Begründung dafür zu fragen, doch auch der Zweifel bedarf einer Begründung – grundlos zu zweifeln heißt, sich nicht an die Regeln des (Sprach)spiels des Zweifels zu halten.
Die Sätze, derer wir uns gewiss sind, bilden eine Art Fundament für jedes andere Wissen und sind bestimmen ein „Weltbild“, das Wittgenstein folgendermaßen beschreibt:
„[mein Weltbild] ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.“
An solchen fundamentalen Sätzen zu rütteln kann innerhalb des dadurch begründeten Weltbilds nicht geschehen:
„unsre Zweifel beruhen darauf, daß gewisse Sätze vom Zweifel ausgenommen sind, gleichsam den Angeln, in welchen jene sich bewegen.“
Der radikale Zweifel, der sich auch gegen solche „Angelsätze“ richtet, kann innerhalb des Weltbilds nicht begründet werden und ist deshalb gehaltlos. Die Gewissheit, die wir manchen Sätzen zusprechen hängt mit ihrer fundierenden epistemologischen Rolle zusammen – aus diesem Grund bedürfen sie keiner zusätzlichen Rechtfertigung.
Religion
Wie lässt sich das Konzept der Gewissheit in die Religionsphilosophie übertragen? Wittgenstein selbst liefert einige Anhaltspunkte dafür: Das Fundament des religiösen Teils des Weltbilds sind Glaubenssätze, wie etwa „Es wird ein Jüngstes Gericht geben“ – diese rechtfertigen sowohl praktisch-ethische („Moralität wird von Gott bestimmt“) als auch theoretisch-dogmatische Sätze (z. B. „Das Fegefeuer reinigt von leichten Sünden“). Diese wiederum stellen die rationale Basis für das Leben religiöser Menschen dar.
Bei der religiösen Gewissheit kommt aber (im Gegensatz zur oben beschriebenen, „alltäglichen“ Gewissheit) noch eine umgekehrte Rechtfertigungsrichtung ins Spiel – die religiöse Lebensweise, zum Beispiel der regelmäßige Kirchgang oder die Ausrichtung des eigenen Lebens nach theologischen Dogmen, stellt eine Art leidenschaftliche Rechtfertigung für die Glaubenssätze dar: Die Glaubenssätze werden nicht rational (wie philosophische Lebensweisheiten) ausgewählt sondern man ist ihnen hilflos ausgeliefert (zum Beispiel durch eine „tiefe Not“):
„Eine gute Lehre nämlich muss einen nicht ergreifen; man kann ihr folgen, wie einer Vorschrift des Arzts. – Aber [im Christentum] muß man von etwas ergriffen & umgedreht werden.
Die Gewissheit im religiösen Glauben beruht also auf zwei sich gegenseitig stützenden Fundamenten: Einerseits gibt es Glaubenssätze, welche ein rationales Fundament für die religiöse Lebensweise ist und andererseits die Lebensweise selbst, die ein leidenschaftliches Fundament für die Glaubenssätze darstellt. Diese beiden Säulen bilden, wenn man so will, einen „religiösen Teil“ des Weltbilds.
In Analogie zu den im vorigen Abschnitt dargestellten epistemologischen „Angelsätzen“ können die Glaubenssätze im religiösen Weltbild nicht sinnvoll bezweifelt werden. Die rationale Rechtfertigung der religiösen Lebensweise kann sehr wohl innerhalb des Weltbilds bezweifelt und eventuell abgeändert werden (zum Beispiel durch eine Neuinterpretation von Glaubenssätzen und Dogmen), nicht aber die Lebensweise selbst, weil sie eigentlich arational zustande kommt und die rationale Begründung erst später dazukommt.
Konstruktive Religionskritik
Der Wittgenstein’sche Ansatz scheint mir aus zweierlei Gründen als Ausgangspunkt für einen religionskritischen Diskurs geeignet. Zum einen setzt er sich mit dem religiösen Glauben überhaupt (also nicht mit einer spezifischen Religion, auch wenn seine Beispiele dem Christentum entnommen sind) auseinander, also mit einem sehr allgemeinen und deshalb philosophisch interessantem Untersuchungsobjekt. Diese Herangehensweise erlaubt es, die Frage zu klären, wo genau der Unterschied im Weltbild eines Gläubigen und eines Atheisten liegt und auch ob nicht in atheistischen Weltbildern eine ähnliche zweifache (rationale und leidenschaftliche) Grundlegung vorliegen könnte.
Zum anderen geht Wittgenstein deskriptiv vor und vermeidet es, Weltbilder zu werten. Eine solche Wertung ist zwar nicht grundsätzlich unmöglich oder sinnlos, aber bevor ein Weltbild beurteilt wird, muss es (insbesondere mit den Unterschieden zum eigenen Weltbild) erfasst werden. Erst wenn die Möglichkeit und der Rahmen einer rationalen Auseinandersetzung (und der die eventuellen Inkommensurabilität) zwischen diesen beiden Weltbildern geklärt wurde, kann eine solche stattfinden.
Der Weg zu einer konstruktiven kritischen Auseinandersetzung sollte in etwa folgender sein:
- Ausarbeitung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen religiösen und areligiösen Weltbildern.
- Bestimmung des Rahmens der vergleichbaren Elemente beider Weltbilder.
- Kritische Beleuchtung der vergleichbaren Elemente beider Weltbilder.